Eine „Provokation“ nannte neulich ein sichtlich bewegter Horst Köhler Papst Franziskus. Anlass war die Verleihung des Medienpreises „Bambi“ in Berlin am 17. November 20161. Aber der Bundespräsident a. D. meinte das anders als diejenigen, die sich von dem Argentinier mit bürgerlichem Namen Jorge Mario Bergoglio genervt fühlen, immer mehr und immer häufiger - weil er ständig mit neuen Ideen daherkommt, den Apparat - die Römische Kurie - ausbremst oder provoziert, weil er die römisch-katholische Kirche wieder auf den Kurs des Evangeliums bringt, ständig von den Armen spricht und sich eine „arme Kirche für die Armen“ wünscht.
„Er hält uns den Spiegel vor“
Das Pikante an Köhlers Rede: Der Mann hätte, als protestantischer Christ, keinen Grund, einem Papst Rosen zu streuen: „Ich bin weder Katholik noch großer Fan von Veranstaltungen mit roten Teppichen.“ Köhler meint es einfach ehrlich - und das ist eine Beobachtung vieler, die genau hinschauen: Auch außerhalb der römisch-katholischen Kirche stößt dieser Papst auf Achtung, er erhält Respekt, er erfährt Bewunderung - vielleicht mehr als aus den eigenen Reihen.
Übernommen hatte der Protestant Horst Köhler die Laudatio, weil „mich dieser Papst von Anfang an tief berührt hat: mit seinem schlichten ,buona sera‘, mit seiner sichtbaren Ablehnung von Protz und Gehabe, mit der Reise auf die Insel Lampedusa gleich nach seiner Wahl, lange noch bevor das Flüchtlingsthema die Schlagzeilen dominierte.“
All das sind noch persönliche Impressionen. Jenseits von Beobachtungen und Einschätzungen bringt es Köhler dann auf den Punkt: „Papst Franziskus hält uns den Spiegel vor, was Christsein bedeuten kann. […] Er […] zeigt uns seine Menschenliebe mit einer solchen Leichtigkeit und Fröhlichkeit und so völlig ohne Angst, dass es fast schon eine Provokation ist.“ Und weiter: „Papst Franziskus stellt der schleichenden Verrohung der politischen Kultur die Verletzlichkeit eines offenen Herzens entgegen. Er kontert das Verächtlichmachen des Guten mit der schamlosen Sehnsucht nach einer menschenwürdigen Welt. Aber der Papst ist nicht naiv. Zornig legt er den Finger in die Wunde globaler Ungerechtigkeit.“2
Papst Franziskus spricht des Öfteren von „Salonchristen“ oder „Lehnstuhlchristen“: Alles wird kommentiert, aber selber rührt man keinen Finger. Dass dann die Aufforderung „Macht Krach!“ erschreckt, vor allem, wenn klar wird, dass er das nicht nur Jugendlichen in Rio de Janeiro (August 2013) zuruft, ist klar. „Weckt die Welt auf, seid Zeugen eines anderen Handelns“ - auch dieser Wunsch (November 2013) an die Adresse von Ordensoberen lässt sich wohl als allgemeine Aufforderung an die Seinen verstehen, sich für eine Alternativ- oder Kontrastkultur einzusetzen, sich nicht mit Fakten zufriedenzugeben, einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ zu widerstehen.
Gibt es ein „System Bergoglio“? Vielleicht ist er nur er selber (geblieben), auch nach seiner Wahl zum Papst. Der deutsche Jesuit Bernd Hagenkord SJ, Redaktionsleiter der deutschsprachigen Sektion von Radio Vatikan, meint: „Er will Unruhe stiften, innere wie äußere. Er will, dass sich etwas bewegt, innerlich und geistlich, aber auch mit Blick etwa auf Flüchtlinge oder Krieg. Und Papst Franziskus nutzt seine Sprache und sein Sprechen, solche Unruhe auszulösen. Das ist nicht immer leicht zu verstehen“3.
Barmherzigkeit als Tragebalken für das Leben der Kirche
Am 17. Dezember 2016 vollendet Papst Franziskus sein 80. Lebensjahr. Als Erzbischof von Buenos Aires ist er ins Konklave gegangen, im 77. Lebensjahr. Am 13. März 2013 hat er das Konklave als erster Papst aus Lateinamerika und als erster Jesuit auf dem Stuhl Petri verlassen, noch dazu, auch das eine Premiere, mit dem Namen Franziskus.
Viele empfinden ihn als Segen für die Kirche - und darüber hinaus. „Evangelii gaudium“, das Schreiben vom Christkönigsonntag 2013, gilt vielen als prophetisches Dokument, auch wenn der Satz „Diese Wirtschaft tötet“ (EG 53) irritierte und - teils heftigen - Widerspruch auslöste. Bayerns Finanzminister Markus Söder sagte unlängst in einem Interview: „Die Kirche ist für Barmherzigkeit zuständig, der Staat für Gerechtigkeit“4. So leicht macht es sich Papst Franziskus nicht. Einmischung erwünscht!
Auch mit der Öko-Enzyklika „Laudato si’“ (2015) hat Papst Franziskus deutlich gemacht, dass er Christen nicht im Abseits sehen will. Sakristeichristentum taugt ebenso wenig für den Alltag und die raue Welt der Realpolitik wie Folklorechristentum die Mitte des Glaubens verpassen kann. Barmherziger will Papst Franziskus die Welt sehen - und die Kirche machen. Das Außerordentliche Heilige Jahr, das am 8. Dezember 2015 begann - dem 50. Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils - und am 20. November 2016 zu Ende ging, rückte dieses Anliegen in den Mittelpunkt.
Zu Ende gegangen ist barmherziger Umgang mit dem Christkönigsonntag 2016 nicht. Schon in seiner Verkündigungsbulle „Misericordiae vultus“ (April 2015) hatte der Papst betont: „Der Tragebalken, der das Leben der Kirche stützt, ist die Barmherzigkeit. Ihr gesamtes pastorales Handeln sollte umgeben sein von der Zärtlichkeit, mit der sie sich an die Gläubigen wendet; ihre Verkündigung und ihr Zeugnis gegenüber der Welt können nicht ohne Barmherzigkeit geschehen. Die Glaubwürdigkeit der Kirche führt über den Weg der barmherzigen und mitleidenden Liebe.“ (MV 10)
Er verknüpft dieses Anliegen mit einem Glaubwürdigkeitsfaktor für die Kirche. Und in seinem Apostolischen Schreiben „Misericordia et misera“ vom 20. November 2016 macht er unmissverständlich klar: „Jetzt, da dieses Jubiläum abgeschlossen ist, wird es Zeit, nach vorne zu schauen und zu begreifen, wie auch weiterhin in Treue, Freude und Begeisterung der Reichtum der göttlichen Barmherzigkeit zu erfahren ist. Unsere Gemeinschaften werden im Werk der Neuevangelisierung in dem Maß lebendig und dynamisch bleiben können, wie die ,pastorale Umkehr‘, die zu leben wir aufgerufen sind, täglich von der erneuernden Kraft der Barmherzigkeit geprägt sein wird.“ (Nr. 5)5
Dass er die Erlaubnis, dass künftig alle Priester und nicht nur ganz bestimmte von der Abtreibung lossprechen können und dass dies auch Priester der Bruderschaft Pius X. gültig tun dürfen (vgl. Nr. 10), hat da und dort Kritik hervorgerufen.
Genauso wie sein nachsynodales Schreiben „Amoris laetitia“ (2016), das auf die beiden Familiensynoden von 2014 und 2015 reagiert6, bis heute auf Widerstand und Polemik stößt, besonders Kapitel 8. Nicht nur, dass vier Kardinäle7, nachdem Papst Franziskus auf ihren Brief nicht reagiert hat, diesen öffentlich machten („aus einer tiefen pastoralen Sorge heraus“)8. Da wirft ein deutscher Journalist dem Papst vor, jeglichen Anspruch verbindlichen Redens und Lehrens aufgegeben zu haben: „Man kann das natürlich wollen: in einer Leitkultur von Inklusion und Vielfalt auch die religiösen Systeme ihres universalen Lehranspruchs entkleiden.“9 Und ein Dogmatiker aus Freiburg bezweifelt die Korrektheit der Inanspruchnahme der Lehre des Thomas von Aquin für die Entfaltung einer Tugendethik - und meint damit den Papst, Kardinal Walter Kasper und Kardinal Christoph Schönborn OP, den Wiener Erzbischof, der im Auftrag des Papstes am 8. April das Schreiben vorgestellt hatte10.
Papst Franziskus nimmt Kommentare, Sticheleien und Angriffe zur Kenntnis. In einem Interview mit der Zeitung „Avvenire“ hat er auf Vorwürfe, er verunsichere oder spalte die Kirche, darauf hingewiesen, es müsse „im Fluss des Lebens unterschieden“ werden, sein Schreiben werde nach wie vor nicht verstanden, es gebe keine weiteren Interpretationen, man könne nicht nur nach dem Schema „schwarz und weiß“ denken und handeln11. Er sieht darin auch die Unfähigkeit, das Zweite Vatikanische Konzil wirklich und wirksam zu rezipieren.
Die Grundgeste seines Pontifikats ist das Dienen, das Sich-Herabbeugen, wie er es bei der Fußwaschung am Gründonnerstag des Jahres 2013, wenige Tage nach seiner Wahl, an zwölf jugendlichen Strafgefangenen in einem Gefängnis in Rom vollzogen hat - das Foto hat Symbolcharakter.
Happy birthday!
Den einen regiert Papst Franziskus zu wenig. Den anderen lehrt er zu wenig. Anderen redet er zu viel. Und er lächelt … - und geht seinen Weg weiter. Wer ihn als „Pfarrer für die Welt“ oder als netten Seelsorger apostrophiert, denunziert ihn als „Seelsorger“ und sagt damit indirekt: Er ist ein theologisches Leichtgewicht. Mitnichten!
Antonio Spadaro SJ, Direttore der italienischen Jesuitenzeitschrift „La Civiltà Cattolica“ meint im März aus Anlass der Präsentation der italienischen Ausgabe des in vierzehn Sprachen übersetzten Buches „Lieber Papst Franziskus … Der Papst antwortet auf Briefe von Kindern aus aller Welt“: „E sappiamo che quando il Papa parla agli adulti, i bambini non ascolatano, ma quando parla ai bambini, ascoltanto anche gli adulti.“12 (Wir wissen, wenn der Papst zu Erwachsenen spricht, hören die Kinder nicht zu; aber wenn er zu Kindern spricht, hören die Kinder nicht zu; aber wenn er zu Kindern spricht, hören Erwachsene zu.)
Vielleicht lässt sich, auch in der Kirche, von Kindern lernen? Papa Francisco: ¡Feliz cumpleaños!