Das Christentum beginnt in der Fremde, in einem Stall in Bethlehem. Fern der galiläischen Heimat seiner Eltern wird ein Säugling geboren, der Sohn Gottes. Doch nicht nur das: Gleich darauf muss die Familie fliehen, ins fremde und heidnische Ägypten. Dort kann sie überleben, vermutlich in prekären Umständen; später kann sie nach Hause zurückkehren.
Gehen wir einen Schritt nach hinten: Aus seiner Herrlichkeit bricht das Göttliche in die kalte und dunkle Welt ein, der Logos Gottes wird Fleisch, in Gestalt eines Kindes. Das Licht kommt in die Finsternis, doch die Finsternis erkennt es nicht - so das Johannesevangelium.
Die erste Bewegung Gottes: Migration
Diese erste Bewegung Gottes ist nicht „Flucht“, denn man flieht aus einer miserablen in eine - das erhofft man sich - bessere Situation; sie ist Entfremdung, vielleicht Migration, Wanderung, aus einer wunderbaren in eine prekäre Welt. Zur Flucht sieht man sich gezwungen, wandern geht man freiwillig. Der Fliehende will seine Haut retten, der Wandernde will - vielleicht - anderen im Dunklen helfen. Und doch: Der auf die Erde gewanderte Gottessohn wird durch Verfolgung und Not ganz schnell auch Flüchtling.
Mit der Fremdheit des Christentums geht es bald weiter: Die ersten Christen sind fremd und verfolgt unter Juden - bald darauf werden jahrhundertelang die Juden fremd und verfolgt sein unter Christen. Sehr schnell verbreiten sich die Christen im zunächst fremden hellenistischen Kulturraum, doch ebenso schnell assimilieren sie dessen Sprache und Philosophie und drücken in dieser Kultur ihren Glauben aus.
Zugleich verbreiten sie sich im weiten Römischen Reich, jahrhundertelang fremd und verfolgt, dann jedoch die Mehrheit, deren Glaube recht überraschend zur Staatsreligion wird. Die Organisationsform und das Recht des Römischen Reiches übernehmen die Christen für ihre Gemeinschaft, und als das Reich zerfällt, überlebt dessen Ordnung mittels der römischen Kirche und als Kirche die antike Kultur und Weisheit, und sie transportiert diese Kultur durch dunkle Zeiten hindurch hin zu neuer Blüte.
Bald fallen barbarische Germanen im Süden Europas ein. Sie übernehmen politische Führung und bald auch den christlichen Glauben. Sie sind kriegerisch und schaffen eine recht eigenartige Verbindung zwischen dem pazifistischen Erbe der Christen und ihrer Kämpfernatur. Jahrhundertelang werden Christen mit Gewalt versuchen, ihre Wahrheit durchzusetzen, etwa in der Sachsenmission, bei den Kreuzzügen, in der spanischen Reconquista, auf den Scheiterhaufen der Inquisition gegenüber Abweichlern in den eigenen Reihen, in den konfessionellen Kriegen gar zwischen christlichen Völkern. Auch hier immer wieder Wanderung, Vertreibung und Flucht - erst die Aufklärung, von der Kirche lange bekämpft, bringt den Christen Dialog und Toleranz bei.
Ab dem 16. Jahrhundert dringt das Christentum, wiederum wandernd, nein erobernd, in neue Welten ein. Fremde Kulturen werden meist unterdrückt, nur manchmal werden sie - etwa in den Jesuitenmissionen Chinas oder Lateinamerikas - respektiert und entsprechend behutsam „getauft“. Aber es braucht fast immer Jahrhunderte, bis die Christen lernen, in der Weite anderer Kontinente das Fremde zu respektieren und in anderer Kultur ihren Glauben neu auszudrücken. Wer ins Fremde flieht oder wandert, empfindet dies in aller Regel zunächst als anders und kalt, als bedrohlich und angsteinflößend. Er muss es kennenlernen und Vertrauen fassen, um es zu schätzen, daraus zu lernen und daran zu wachsen. Er muss es mit viel Geduld und mit oft unsäglichen Mühen durchdringen, um sich selbst und das Andere zu wandeln und zu heiligen.
Bleiben, an einem bestimmten Ort
Neben dem Moment des Fliehens kennt das Christentum aber von Anfang an das umgekehrte Moment des Bleibens: Der Logos Gottes inkarniert sich in einem frei gewählten Zeitpunkt der Geschichte an einem ebenso frei gewählten Ort der damals bekannten Welt. An diesem Punkt will der Logos Fleisch werden, also leibhafte Konkretheit, Materie. Er muss sich einwurzeln in die Menschheit, bleiben an diesem bestimmten und so winzigen Punkt des Universums, beständig und beharrlich, ausdauernd und ohne schnelle Flucht an andere Orte.
Schwierigkeiten muss man aushalten, um sie zu meistern, in menschliche Beziehungen muss man hineinwachsen, um sie zu gestalten und darin zu reifen und zu wachsen. Wiederum ist es das Johannesevangelium, das das Bleiben zum Schlüsselwort macht: Christen sollen in der Wahrheit bleiben, sie sollen in der Liebe Christi, ja „in ihm“ bleiben. Glauben ist Beziehung und damit Beharren, Durchdringen, Durchgestalten, Wirken, eben Bleiben.
Auf ihren Fluchten und Wanderungen in der Geschichte haben Christen immer Orte gesucht, an denen sie bleiben können. Und sie haben Orte und Zeiten ausgewählt, die sie als heilig verehrten und pflegten. Einzelne heilige Orte und Zeiten heiligen den ganzen Raum und die ganze Zeit, aber die Ausgrenzung des Einzelnen, die Festlegung und das Bleiben im einzelnen Konkreten braucht es wohl, um auf das Ganze ausgreifen und es durchdringen zu können.
Als Jesus verfolgt und bedroht wurde, blieb er in der heiligen Stadt Jerusalem, bis zum grausam-bitteren Ende. Das Kreuz ist ein im Grunde widersinniger Starrsinn - eben vor der Gewalt nicht zu fliehen, sondern zu bleiben. Nur in dieser Beharrlichkeit konnte der Auftrag beendet werden. Nur diese Treue machte die Hingabe möglich. Heute stehen viele Christen in den bedrohten Regionen vor der schier unlösbaren Frage, ob sie fliehen oder bleiben sollen; wer bleibt, riskiert, ermordet zu werden, doch wer in die Fremde flieht, setzt, ähnlich riskant, sein Leben auf Spiel. Wer könnte diesen Menschen - verschiedener Religionen - das Fliehen aus ihren Ländern verübeln, und wer die Suche nach einer Bleibe bei uns?
Beweglichkeit und Mobilität
In christlicher Spiritualität gab und gibt es immer die beiden Momente: Mönche etwa bleiben am Ort, mit einem eigene Gelübde der stabilitas loci, der Beständigkeit am Ort. Das Beharren auszuhalten, fordert die Psyche, denn die Gleichförmigkeit und das Schweigen führen nach innen, ins Eigene, in helle oder in dunkle Abgründe, ins Sein und in Gott. Das Bleiben der Mönche kann zum Kreuz werden, wenn Dunkelheit die Seele überschwemmt, und es wird zum Segen, wenn Licht die Seele erleuchtet.
Hingegen wandern die Ordensleute des Mittelalters und der Neuzeit - Franziskaner, Jesuiten -, sie geloben Verfügbarkeit und lassen sich aussenden, um die Botschaft des Evangeliums in die Fremde zu tragen. Natürlich kann die Unbeständigkeit zur Flucht vor sich selbst werden, sie kann aber auch als äußere Reise zur Reise nach innen verhelfen. Beweglichkeit hält mobil und offen, das Wandern kann zum Pilgern werden, es hilft zum Reifen und öffnet die Seele zur Reise auf Gott hin. Öfters in der Geschichte wurden die Wandermönche vertrieben, aber ihre Fluchten verhalfen der Kirche zu neuen missionarischen Impulsen. Ohne Bewegung würde das Christentum erstarren und verdorren, nur in der Begegnung mit der Fremde entwickelt und verbreitet es sich.
Die Begegnung mit dem Fremden
Wir Deutsche bleiben gerne, wo wir sind. Wir genießen die Errungenschaften unserer Kultur und unseres Wohlstandes und wollen sie stolz - und manchmal ängstlich - bewahren. Zugleich wandern oder fliehen wir gerne, auf Fernreisen in fremde Länder, fasziniert von Menschen und Kulturen. Die Begegnungen mit der Fremde sollen aber gezähmt sein, eher beobachtend, aus sicherer Distanz, museal und nicht so, dass wir hinterfragt würden, sondern in der Erwartung, nach etwas Kitzel und Grusel bald wieder in die heimische Wärme und in unsere gefühlte Überlegenheit zurückzukehren.
Die Fremden, die in kaum überschaubarer Zahl zu uns kommen, fliehen aus meist unerträglicher, existenzbedrohender Situation. Sie wollen bei uns bleiben, zumindest so lange, wie in ihrer Heimat die Situation so grausam ist. Viele wollen für immer bleiben, aus purer Not und Verzweiflung. Sie suchen eine Bleibe, Heimat und Sicherheit, neues Leben.
Warum reagieren so viele Europäer abweisend, ja aggressiv - in unseren Nachbarländern oft noch mehr als bei uns? Aus Angst vor kultureller Überfremdung? Aus Angst vor Wohlstandsverlusten? Fühlt sich unser kleines narzisstisches Ich gekränkt oder bedroht, jenes Ich, das im Kern wenig Selbstbewusstsein hat, aber sich aufbläht im Stolz auf unsere kulturelle Größe und unseren materiellen Erfolg? Und nun kommen fremde Menschen ins Land, die uns nicht nur etwas wegzunehmen drohen, sondern die uns auch noch zeigen, dass man mit wenig leben kann, dass Religion sie erfüllt, dass Kinder ein Segen und eine Freude sind, dass die europäische nicht die einzige lebenswerte Kultur ist? Nicht nur sie haben von uns zu lernen, sondern wir von ihnen - vielleicht kränkt uns ja nur diese halb bewusste Einsicht, und deswegen reagieren wir instinktiv mit Abwehr?
Oder ist es ein schlechtes Gewissen wegen der Exzesse unseres Wohlstandes, halb verdrängt und kaum zugegeben? Das Drittel der Lebensmittel, das weggeworfen wird? Die SUVs, die die Städte verstopfen und die Treibhausgase vermehren? Die Flugreisen, die die Atmosphäre immer weiter aufheizen? Die Klamotten, die in Bangladesh unter grausamen Bedingungen genäht werden und bei uns zu einem großen Teil ungenutzt im Schrank hängen? Der viele leerstehende (Luxus-)wohnraum? Vielleicht ist es auch das heimliche Schuldgefühl zu wissen, dass wir an den unerträglichen Zuständen in den Heimatländern der Flüchtlinge mitschuldig sind? Im Nahen Osten durch unser politisches Versagen und durch unsere Ölgier? In Afrika durch das Erbe des Kolonialismus und durch den brutalen Kampf um jene Rohstoffe, die unseren Wohlstand ermöglichen? „Du weißt nicht, wie schwer die Last ist, die Du nicht trägst“, so ein afrikanisches Sprichwort. Wir wollen es nicht wissen, und wir wollen uns nicht ändern.
Flucht und Wanderung - Gastfreundschaft und Begegnung
Flüchtlinge kommen zu uns, weil sie bei sich Unsägliches zu leiden haben, etwa unter brutal machtorientierten Diktaturen, unter religiöser Intoleranz, unter grausamer Gewalt, unter wirtschaftlichen Abgründen. In Europa haben wir einen Lebensraum, in dem kulturelle und religiöse Vielfalt einigermaßen tolerant gelebt wird, in dem es halbwegs demokratisch und friedlich zugeht, in dem wirtschaftlich vergleichsweise paradiesische Zustände herrschen - eine Situation, die wir aus Gewohnheit genießen und schon kaum mehr zu schätzen wissen. Flüchtlinge haben ein Menschenrecht, zu fliehen und bei uns Heimat zu suchen.
Das sogenannte christliche Erbe des Abendlandes ist identisch mit dem, was wir säkular als Humanität und als Menschenrechte ansehen. Es besteht wesentlich in dem „sozialen“ Gedanken, dass Leben im Anteilgeben und Anteilnehmen, in Freiheit und Respekt besteht. Warum sind wir so ängstlich, unser Gut zu teilen? Wir sind so unendlich reich, wie es in der Geschichte der Menschheit nie auch nur vorstellbar war. Wenn wir etwas abgeben, werden wir nur vernünftiger und humaner leben. „Reich sind die Menschen, die viel geben“, so Mahatma Gandhi. Vielleicht sind wir noch zu knauserig-ärmlich, um wirklich Menschen zu sein. Zugleich haben wir von den Menschen, die zu uns kommen, unendlich viel zu empfangen: Ihre Lebensfreude und ihre Energie, ihr Lernwille und ihre Kinderliebe, ihre Jugend und ihre Bereitschaft, Widrigkeit auszuhalten, außerdem - nicht zuletzt - ihre Arbeitskraft, die wir auf lange Sicht so dringend brauchen.
Seit dem Stall von Bethlehem sind Fliehen und Bleiben die Grundmomente christlichen und humanen Lebens. Christen gingen zu Fremden, Fremde gingen zu Christen. In der kulturellen und religiösen Begegnung knirschte es oftmals, und die Christen waren weiß Gott nicht immer vorbildlich im Umgang mit Fremden. Und doch brachten Flucht und Wanderung auf lange Sicht immer einen Zugewinn, für beide Seiten. Was mit der Menschwerdung Gottes begann, setzt sich als Grunderfahrung menschlichen Lebens durch die Geschichte fort: Um Mensch zu werden, braucht es die Bewegungen von Flucht und Wanderung und von der Suche nach Bleibe und Heimat, und es braucht Gastfreundschaft und Begegnung. Sonst wird kein Friede auf Erden, keine Weihnacht.