Originalfassung: März-Ausgabe der Jesuitenzeitschrift "Études" (Paris)
Welche Bilanz ziehen Sie aus der außerordentlichen Synode über die Familie?
Ein Ergebnis ist sicher, dass man keine Bilanz ziehen kann. Denn die breite und offene Debatte, die über Ehe, Familie und Sexualmoral geführt wurde, war im Grunde erst ein Auftakt. In gewisser Weise war das Konsistorium Anfang des Jahres 2014 eine Ouvertüre dieser offenen Debatte, besonders geprägt durch das große Referat von Walter Kardinal Kasper und die anschließende durchaus kontroverse Diskussion. Vergessen wir nicht: Zum ersten Mal wurde zur Vorbereitung auf eine Synode auch eine breite Befragung des Volkes Gottes organisiert, die natürlich - durch die kurzfristige Vorbereitung und die unterschiedlichen Situationen beeinflusst -, in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich stattgefunden hat. Und es kommt hinzu, dass von vorneherein klar war, dass die Synode sich in zwei Stufen vollziehen würde und erst mit der ordentlichen Synode 2015 ein wahrscheinlich vorläufiges Ende finden wird.
Es wurden natürlich große Erwartungen geweckt und auf der anderen Seite Befürchtungen wachgerufen. All das hat sich auch während der Diskussion in der Synodenaula und in den Arbeitsgruppen gezeigt. Der Heilige Vater hat in seiner Schlussansprache noch einmal deutlich gemacht, wie sehr er auch gerade die offene Debatte geschätzt hat und wünscht. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorne. Denn besonders im Bereich von Ehe und Familie entscheiden sich die Zukunftsperspektiven der Kirche. Also: Für eine Bilanz ist es zu früh. Nach der Synode ist vor der Synode!
Die Vorgehensweise, die Freiheit des Wortes haben die Beobachter überrascht. Fördert diese Methode das Vertrauen unter den Teilnehmern?
Durch seine Anwesenheit hat der Papst "garantiert", dass wir in der Gemeinschaft der Kirche zusammenstehen, auch wenn wir unterschiedliche Positionen miteinander austauschen. Das hat er in seiner Schlussansprache unterstrichen und natürlich auch durch die Art und Weise, wie er den Petrusdienst ausübt. Es hat manche überrascht, wie sehr er auch den Primat des Nachfolgers des Heiligen Petrus herausgestellt hat, aber eben gerade um einen "geschützten Raum" für eine offene und freie Diskussion zu ermöglichen. Der Papst garantiert die Einheit mit der Tradition und die Einheit der Kirche untereinander. Aber gerade deshalb ist es notwendig, offen miteinander in geistlicher Weise zu streiten über den zukünftigen Weg der Kirche in diesen existenziellen Fragen, die ja fast alle Menschen und alle Gläubigen berühren. Es gibt dazu übrigens interessante Ausführungen des berühmten Jesuiten Michel de Certeau, der ja zu den Autoren gehört, die den Papst beeinflusst haben. In Michel de Certeaus dreiteiligem Aufsatz für "Études", "Structures sociales et autorités chrétiennes" (1969/1970), geht es um eine Autorität, die zulassen kann.
Natürlich muss man darauf achten, dass daraus kein politisch-taktischer Prozess wird. Ich weiß nicht, ob wir das immer vermieden haben. Es braucht eine grundsätzliche Offenheit und ein wirkliches Vertrauen, um einen gemeinsamen Weg zu finden. Es darf ja am Ende eines synodalen Weges keine Sieger und Besiegte geben, sondern alle müssen miteinander versuchen, auch vom Anderen her zu denken und neue gemeinsame Schritte in die Zukunft zu gehen. Ich glaube schon, dass diese Atmosphäre spürbar war, aber ich bin der Meinung: Das ist ausbaufähig, damit wir nicht, wie der Papst gelegentlich sagt, in falscher Weise "verweltlicht" werden und das Ganze als einen parlamentarischen oder politischen Prozess anlegen mit all den Taktiken und Flügelkämpfen. Das wäre verheerend für die Kirche.
Spüren Sie einen großen Gegensatz im Empfinden zwischen dem "Norden" (Europa, Nordamerika) und dem "Süden?"
Ich war eigentlich erstaunt, dass ich diesen Gegensatz so nicht erfahren habe. Natürlich gibt es Unterschiede. Aber in allen Bereichen der Welt gibt es eine Tendenz hin zu einer offenen, pluralen, freien Gesellschaft und ich darf hinzufügen: Hoffentlich! Sogenannte Säkularisierungstendenzen gibt es nicht nur in Europa oder in den Vereinigten Staaten, sondern sie gehören - und das ist vielleicht manchen erst auf der Synode klar geworden - zu den notwendigen Begleiterscheinungen einer sich modernisierenden Welt. Dabei gibt es sehr viele Ungleichzeitigkeiten und kulturelle Unterschiede. Aber diese Unterschiede betreffen nicht das Wesen des Menschen. Das christliche Menschenbild ist ein gemeinsames für die ganze Welt. Und dieses Menschenbild beinhaltet das Konzept einer verantwortlichen Freiheit, die Gottebenbildlichkeit aller Menschen, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Ehe als Beziehung von Mann und Frau, die offen ist für das Leben, die eine Menschheitsfamilie. Die Themen Ehescheidung, Zivilehe, Alleinerziehende, das Zusammenleben der jungen Menschen ohne Trauung, die Homosexualität, all das sind Themen, die weltweit - natürlich in einer unterschiedlichen Priorität - an Bedeutung gewinnen, und nicht nur vom sogenannten Westen in die Diskussion gebracht wurden.
Die Frage für alle ist eben, wie wir mit diesen Realitäten umgehen, ohne die grundsätzlichen Perspektiven des Evangeliums zu verraten, aber auch nicht dadurch, dass wir nur die Melodie der Dekadenz anstimmen und frühere Zeiten im Blick auf Ehe und Familie verklären. Dazu besteht überhaupt kein Anlass. Ob die Verhältnisse im Blick auf Ehe und Familie in anderen Kulturen oder in der Vergangenheit einfach besser waren, wage ich doch zu bezweifeln. Da gibt es wohl immer eine gemischte Bilanz. Da wäre doch eine vertiefte Analyse der heutigen Zeit und auch der positiven Elemente, die sie mit sich bringt, angemessen. Ansonsten erscheint die Kirche als eine rückwärts gewandte Institution, die die Menschen von heute nicht versteht und scheinbar ideale Vergangenheiten restaurieren will. Das hilft niemandem und entspricht nicht der Botschaft des Evangeliums.
Geht es nicht um die Verwirklichung der "Kollegialität", wie sie das Zweite Vatikanum wollte, dessen fünfzigsten Jahrestag wir feiern?
Auch auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil ging es durchaus kontrovers zu und es gab verborgene und offene Konflikte. Kollegialität ist also nicht zu verwechseln mit einer falschen Harmonisierung. Ja, in diesem Sinne war auf der Synode Kollegialität zu spüren, aber sie müsste noch weiter geistlich und theologisch entfaltet werden. Denn zu Kollegialität und Synodalität gehört wirklich der Wille, den anderen zu verstehen und seine Argumente aufzunehmen und die Bereitschaft, die eigene Position immer wieder neu zu bedenken von der gemeinsamen Grundlage des Evangeliums und der Theologie der Kirche her, und vielleicht auch von daher einen neuen Ansatz zu finden. Deshalb wird die Kollegialität tatsächlich nur gelingen, wenn es eine starke Autorität gibt, die für uns der Nachfolger des Heiligen Petrus ist. Kollegialität ohne Primat würde wohl zu einem endlosen Palaver, aber Primat ohne Kollegialität wird zur Autokratie und zum Zentralismus. Beides entspricht nicht katholischem Denken. Darauf weist Michel de Certeau zu Recht hin. Ich bin mir nicht sicher, ob wir 50 Jahre nach dem Konzil wirklich schon einen guten Weg gefunden haben, all das miteinander zu verbinden. Das gehört zu den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, ob die Kirche, die ja Sakrament der Einheit aller Menschen und der Menschen mit Gott sein will (Lumen Gentium 1), geistlich, theologisch und strukturell diese Perspektive des Konzils weiterentwickelt. Wir sind auf einem Weg, aber, um weiterzukommen braucht es noch viele Schritte. Ich glaube aber fest, dass der Papst uns dazu ermutigt.
Wie kann sich der Dialog in der Kirche fortsetzen?
Das Wort "Dialog" ist ein Schlüsselwort des Konzils gewesen und besonders auch der Antrittsenzyklika des seligen Papst Paul VI. Auch dieses Wort kann missverstanden werden als ein Gespräch, das unverbindlich und folgenlos wäre. Ein wirklich strukturierter Dialog ist notwendig für einen synodalen Prozess. Und auch das Gespräch der Kirche mit anderen ist sehr anspruchsvoll und braucht institutionelle Rahmenbedingen, damit nicht alles ins Leere läuft. Das ist durchaus mein Eindruck im Blick auf die letzten Jahrzehnte, dass viele Gespräche geführt werden, aber im Grunde Ergebnisse nicht gesichert und weiter geführt werden. Es wird viel geredet in der Kirche, aber leider oft ohne den Geist des Dialogs und ohne strukturelle Absicherung, die auch zu Ergebnissen führt. Das gilt etwa auch für die theologische Diskussion. Ich hatte den Eindruck, dass viele theologische Erkenntnisse und Debatten nicht wirklich in der Kirche rezipiert werden, dass die Theologie ein Eigenleben führt oder auch dass manche Amtsträger nicht wahrnehmen wollen, was an theologisch neuen Erkenntnissen wenigstens aufgenommen und diskutiert werden müsste. Auch in der Lehre muss sich die Kirche ja weiterentwickeln, ohne Positionen aufzugeben, aber durch die ganze Geschichte der Kirche hindurch ist das Dogma weiter entfaltet und vertieft worden. Das gilt auch im Blick auf Ehe und Familie. Es gibt also keinen Endpunkt der Suche nach der Wahrheit. Dass man dann auch Dialog und Evangelisierung unterscheiden muss, ist selbstverständlich.
Was gedenken Sie in Ihrer Diözese zu tun?
In unserer Erzdiözese und auch in ganz Deutschland ist die Debatte über Ehe und Familie ein Kernthema der letzten Jahre gewesen. Wir werden also auch die neuen Fragen, die zur ordentlichen Synode gestellt wurden, im Bistum, in den Gremien und in den Pfarreien besprechen. Außerdem wollen wir als Bischöfe in Deutschland ein eigenes Wort vorbereiten zu Ehe und Familie, aber unter Einbeziehung des Zeugnisses des Volkes Gottes. Hier im Bistum habe ich eine neue Arbeitsgruppe eingerichtet, die eine Erneuerung unserer Ehe- und Familienpastoral voranbringen soll. Es geht ja um viele Aspekte. Von der Ehevorbereitung, der Eheberatung und -begleitung bis hin zur Sorge für Menschen, deren Ehe gescheitert ist, ob sie nun geschieden und wiederverheiratet sind oder allein bleiben. Ehe und Familie sind zentrale Herausforderungen für die Pastoral der Zukunft.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft?
In Deutschland ist das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft durchaus unterschiedlich in den verschiedenen Gebieten, denn Deutschland ist sehr föderal geprägt. Hier in Bayern gibt es ein traditionell gutes Verhältnis zwischen Staat und Kirche, aber auch zwischen vielen gesellschaftlichen Gruppen und der Kirche. Natürlich erleben wir auch scharfe Kirchenkritik, Säkularisierung, Diskussionen um den Einfluss der Kirche. Aber ich empfinde das als einen Prozess, der in einer offenen, pluralen Gesellschaft, in einer Kultur der Freiheit, unumgänglich ist. Das werden wir nicht mehr verändern. Was wir tun können ist, uns in neuer Weise in diese Gesellschaft einzubringen und Zeugnis zu geben, von dem, was wir vom Evangelium her zu leben und zu sagen haben. Es muss erfahrbar werden in Wort und Tat, dass der Schritt auf Christus zu, das Christsein, ein Qualitätssprung ist und nicht ein rückwärts gewandtes Pflegen von Traditionen. Es geht nicht darum, die Komplexität der heutigen Welt zu reduzieren, sondern Menschen zu befähigen, in der Kraft und im Licht des Glaubens in dieser Komplexität und Pluralität den Durchblick zu behalten für die Wahrheit des Lebens, die Christus ist. Also: Die Gesellschaft ist, wie sie ist - unterschiedlich, plural, säkular, manchmal der Kirche enger verbunden, in anderen Teilen Deutschlands der Kirche fremd gegenüber, aber alles in allem müssen wir uns auf diese Situation einstellen und können und sollten auch nicht erwarten, dass wir wieder in kohärente, überschaubare und geschlossene Kulturen zurückfinden können und wollen. Die offene Gesellschaft ist doch auch vom Evangelium her ein Fortschritt. Die Frage ist also nicht, ob eine Mehrheit in allem unserer Meinung ist, sondern ob wir mit unserer Lebensweise und unserem Denken auch einer pluralen Gesellschaft noch etwas zu sagen haben und viele gewinnen können, dem Weg des Evangeliums zu folgen in der Gemeinschaft der sichtbaren Kirche.
Was kann die Kirche der Gesellschaft an Neuem bringen, und was kann sie im Gegenzug empfangen, was die Bereiche Kultur, Politik, Anthropologie, Kunst usw. betrifft?
Es ja nicht so, als würde nicht auch in dieser Gesellschaft, die so vielfältig und offen ist, die Suche nach Orientierung spürbar. Deshalb gibt es und wird es auch in Zukunft viele geben, die eine große Wertschätzung gegenüber der Kirche behalten, auch wenn sie selber den Glauben der Christen nicht teilen. Sie wissen: Es könnte etwas fehlen, wenn die Stimme des Evangeliums nicht mehr hörbar ist, wenn die großen Geschichten, von denen unsere Kultur und unser Zusammenleben geprägt sind, nicht mehr erzählt werden und vor allem auch gelebt werden. Sie haben Angst vor einer totalen Ökonomisierung aller Lebensbereiche und sie befürchten die Eindimensionalität und den Reduktionismus, die Banalisierung des Lebens, das an Horizont verliert, wenn der Blick auf das Geheimnis Gottes überhaupt nicht mehr zur Sprache gebracht wird. Darauf hat etwa auch ein "religiös unmusikalischer" wie Jürgen Habermas hingewiesen und er hat dafür zwei Beispiele genannt, an denen das sehr deutlich erkennbar ist. Nur in religiöser Sprache sei, so meinte er, der Unterschied von Schöpfer und Geschöpf aussagbar. Er hat das besonders im Blick auf die neuen Möglichkeiten der Biowissenschaften gesagt und der Zukunftsvision, dass Menschen Menschen produzieren nach ihrem Willen und ihren Vorstellungen. Dann wären, so Habermas, der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf aufgehoben, aber damit eben auch die Demokratie und die Gleichheit aller Menschen. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf muss gewahrt werden, um der Zukunft der Menschheit willen. Und in einem anderen Beispiel weist er hin auf die unschuldigen Opfer der Geschichte. Gibt es für sie Gerechtigkeit, Versöhnung, Heilung? Hierauf kann es nur eine religiöse Antwort geben. Allerdings, und das ist wichtig, besteht die Anforderung an die Kirche, sich so auszudrücken, dass Menschen Zugang finden zu dem, was sie ausdrücken möchten. Es geht also um eine Evangelisierung in einem tiefen und umfassenden Sinn.
Ich glaube fest, dass die Kirche vom Evangelium her in allen Bereichen des menschlichen Wirkens, Denkens und Handelns Bereicherungen einbringen kann, Weiterführungen, Fragen, Denkanstöße. Die Kulturschaffenden, die Politiker, die Philosophen und die Künstler sind offen für Gespräche und Begegnungen. Das erfahre ich immer wieder. Aber in unserem Reden, Handeln, auch in unserer Liturgie, im öffentlichen Auftreten, in der konkreten Seelsorge vor Ort muss das auch durch die Qualität unserer Arbeit sichtbar werden. Ich denke in diesem Zusammenhang oft an den Begriff der "Renaissance". Ja, ich glaube an eine Renaissance des christlichen Glaubens, aber es wird ein langer Weg der tiefen geistlichen und geistigen Erneuerung sein.
Man spricht seit einigen Jahren von einer "neuen Evangelisierung". Ist die Evangelisierung nicht immer neu? Was braucht es, damit die Botschaft des Evangeliums die Menschen erreichen kann?
Ich gebe zu, dass ich mit dem Begriff der "neuen Evangelisierung" meine Probleme habe. Er könnte verwechselt werden mit dem Modell einer geistlichen "Reconquista", als gehe es darum, verlorenes Terrain wiederzuerobern. Aber es geht nicht um Restauration oder Wiederholung von dem, was einmal war, sondern um einen neuen Aufbruch, um einen neuen Ansatz, in einer neuen Situation. Und es geht auch nicht nur einfach um ein Vermittlungsproblem. Das würde bedeuten: Wenn wir mehr Personen und mehr finanzielle Mittel hätten und mehr Medienpräsenz, könnten wir das Ziel erreichen. Ich kann den Begriff aber sehr gut akzeptieren, wenn er unterstreichen soll, dass wir, aber nicht nur in Europa, sondern insgesamt, in einer neuen Situation für den Glauben sind und wir darauf mit erneuertem Denken antworten müssen. Eigentlich ist das wirklich ein Prozess, der durch die ganze Kirchengeschichte hindurch geht. Das Evangelium ist immer wieder neu, "Ecclesia semper iuvenescens", die Kirche ist immer wieder jung, so haben es schon die Kirchenväter gesagt. Ein Satz von Kardinal Lustiger ist mir in Erinnerung: "Die Kirche in Europa steht erst am Anfang, ihre große Zeit liegt noch vor uns." Bei vielen Konzepten und Diskussionen über neue Evangelisierung habe ich den Eindruck, dass viele denken: Die große Geschichte des Christentums liegt hinter uns, und vor uns liegt eine unsichere und eher angstmachende Zukunft. So kann man jedenfalls nicht evangelisieren.
Ein wichtiger Schritt, um Menschen zu erreichen, ist der Schritt zur Selbst-Evangelisierung. Wir selber müssen als Kirche immer wieder neu das Evangelium lesen und lernen, danach zu leben. Die Revolution der ganzen biblischen Botschaft und besonders das Evangelium Jesu haben doch nichts von ihrer Faszination und Strahlkraft verloren. Wie viele sich in einer Epoche jeweils davon ansprechen lassen, liegt nicht ganz in unserer Hand, aber es ist unsere Aufgabe, in der Verkündigung, in der Liturgie, vor allen Dingen auch in der Hinwendung zu den Schwachen und Kranken, Sterbenden, dafür Zeugnis abzulegen in großer Gelassenheit und Freiheit und in großer Freude. Wir brauchen keine Religionsunternehmer, sondern Zeuginnen und Zeugen.
Vielleicht müssen wir dann erkennen, dass die Menschen in Europa, auch in Deutschland und Frankreich, wohl in der Vergangenheit mehrheitlich getauft waren, aber waren wir auch wirklich evangelisiert? Dieser Gedanke kam mir besonders im letzten Jahr, als wir an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnert haben. Was für ein Zivilisationsbruch in Europa, dem christlichsten aller Kontinente! Wir war das möglich, wie konnte es sein, dass die Bischöfe Frankreichs und Deutschlands in ihren Hirtenbriefen so stark die Melodie des Nationalen anstimmen konnten und jeweils für ihre Seite Gott in Anspruch nahmen? Ich kann das nicht als positives Zeugnis eines evangelisierten Kontinents ansehen. Der Religionsphilosoph und Priester Tomáš Halík, Templeton-Preis-Träger des letzten Jahres, hat in seiner Dankesrede etwas gesagt, was mich sehr bewegt hat: "Als Alexander Solschenizyn gefragt wurde, was nach dem Kommunismus käme, antwortete er: 'Eine sehr, sehr lange Zeit der Heilung.' Meine Antwort auf die Frage, was jener Zeit folgen wird, in der es so viele Gläubige und Nicht-Gläubige für leicht hielten, über Gott zu reden, lautet: Ich erwarte eine sehr, sehr lange Reise in die Tiefen. Und ich setze meine Hoffnungen darauf." So wird es wohl sein.
Wie kann die Kirche sich erneuern?
Die Kirche wird erneuert durch den Geist und der Geist weist uns hin auf den Weg Jesu, auf das Evangelium. Immer wieder aufs Neue, täglich, in persönlicher und gemeinschaftlicher Gewissenserforschung, so wie es in erfrischender Weise Papst Franziskus in "Evangelii Gaudium" beschreibt. Der Weg Jesu, des Evangeliums, bedeutet: Das Heil aller Menschen, besonders der Schwachen, im Blick zu haben und dafür Wege zu öffnen. Den Gott Jesu Christi ins Zentrum stellen, den Gott des Erbarmens, der Liebe, der Versöhnung. Ihn anbeten und feiern in einer geistlich tiefen Liturgie und Gemeinschaften aufbauen, die nicht verschlossen und für sich leben, sondern wirklich das Sakrament der Einheit für alle werden wollen, in einer Stadt, in einem Dorf, in einem Land. Eine Kirche, die den Narzissmus, wie es der Papst sagt, hinter sich lässt, und in Freude und Zuversicht grundsätzlich allen offen steht.
Wie sehen Sie die Situation des ökumenischen Gesprächs zwischen den christlichen Konfessionen?
Natürlich stehen alle Konfessionen, kirchlichen Gemeinschaften und Kirchen unter diesen Fragestellungen, die wir gerade miteinander diskutiert haben. Insofern ist das ökumenische Gespräch auch immer wieder geprägt von der Frage nach der Zukunft des Christentums überhaupt. Das kann den Dialog verstärken, aber auch schwächen, weil wir in der Analyse der Situation nicht so einfach zusammenkommen, sowohl innerhalb der eigenen Kirche wie auch zwischen den Konfessionen. Aber für Deutschland kann ich sagen, dass das Gespräch zwischen evangelischer und katholischer Kirche auf einem sehr freundschaftlichen, intensiven Niveau ist und dass wir hier im Blick etwa auf das Jahr 2017 den Weg des Miteinanders suchen. Der neue Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland ist ja auch Landesbischof in München, und wir leben nicht weit voneinander entfernt. Wir haben das schon die "Ökumene der kurzen Wege" genannt. Sorge macht mir eher, dass in den Kirchen die Kenntnis der anderen Konfessionen nicht zugenommen hat, dass die ökumenisch Engagierten eher zu den älteren Generationen gehören. Manche verstehen nicht die Wichtigkeit des theologischen Dialogs und meinen, es komme nur auf die gemeinsamen Aktionen an. Beides ist wichtig. Aber zur theologischen Diskussion gehört eben auch die Analyse der Welt, in der wir leben. Eine falsche Wahrnehmung der Wirklichkeit führt auch zu theologischen Irrtümern, wie es der hl. Thomas gesagt hat. Theologie betreiben heißt nicht, ein Selbstgespräch zu führen. Das ist sehr wichtig in den ökumenischen Gesprächen. Der Papst bringt durch seine Begegnungen mit den Lutheranern, den Freikirchen und vor allem bei seinem Treffen mit dem ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel neuen Schwung in die ökumenische Bewegung.
Was sind heute die Prioritäten?
Vielleicht hätte es wirklich Priorität, sich auf das Zentrum des Glaubens zu beziehen und nicht in manchmal doch für die inner- und außerkirchliche Öffentlichkeit schwer verständlichen Nebensächlichkeiten zu bleiben. Das ist ja auch ein Anliegen des Papstes in seinem Schreiben "Evangelii Gaudium": Das Kerygma ins Zentrum, die Botschaft vom Kreuz und von der Auferstehung Jesu, vom Leben in Fülle, vom Heil aller Menschen, vom Evangelium eben. Nicht das Trennende ins Zentrum stellen, sondern das, was uns verbindet und das ist doch das Evangelium.
Sie sind Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE). Wie sehen Sie die Situation Europas heute, wo es an einem Scheideweg zu stehen scheint?
Welche Werte müssten gefördert werden?
Was könnte der Beitrag der europäischen Geschichte für die heutige Welt sein?
Ich war sehr froh, dass der Papst, bevor er Länder in Europa besuchte, dem Europäischen Parlament und dem Europarat einen Besuch abgestattet hatte in Straßburg. Seine Reden machen deutlich, worum es geht: In einer Zeit der Globalisierung Europa als Kraft der wahren menschlichen Zivilisation zu verstehen, nicht nur als eine ökonomische Macht. Ich war wirklich innerlich bewegt von seinen letzten Sätzen im Europaparlament:
"Liebe Europaabgeordnete, die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte; das Europa, das mutig seine Vergangenheit umfasst und vertrauensvoll in die Zukunft blickt, um in Fülle und voll Hoffnung seine Gegenwart zu leben. Es ist der Moment gekommen, den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst verkrümmten Europas fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken und zu fördern, das ein Protagonist ist und Träger von Wissenschaft, Kunst, Musik, menschlichen Werten und auch Träger des Glaubens ist. Das Europa, das den Himmel betrachtet und Ideale verfolgt; das Europa, das auf den Menschen schaut, ihn verteidigt und schützt; das Europa, das auf sicherem, festem Boden voranschreitet, ein kostbarer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit!"
In gewisser Weise steht Europa wieder am Scheideweg. Will es sich neu aufmachen nach den schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und einen "Beitrag für eine bessere Welt" sein, wie es Jean Monnet formuliert hat? Wird Europa mithelfen, dass eine globale Weltordnung entsteht, die die Menschenrechte respektiert und allen Chancen eröffnet, besonders den Schwachen und den Armen? Wird Europa mit dazu beitragen, dass es so etwas gibt wie eine weltweite Soziale Marktwirtschaft, wie wir es als Bischöfe der COMECE in unserem Wort zur Sozialen Marktwirtschaft gesagt haben? Natürlich sehe ich all die Tendenzen der Partikularisierung, der neuen Populismen, des Nationalismus, der Eigeninteressen, der ökonomischen Reduktion des menschlichen Lebens, aber ich sehe auch die anderen Perspektiven, die Hoffnungen und die Bereitschaft vieler, sich für ein Europa einzusetzen, wie es der Papst beschrieben hat. Ich bleibe ein begeisterter Europäer.
Wie kann die Kirche helfen, ein soziales Europa aufzubauen?
Wie kann sie weiterhin "Brücken bauen" im heutigen Europa?
Vor allem muss sich die Kirche auch positiv in die europäischen Diskussionen einbringen. Das gilt bis in unsere Pfarreien hinein. Ja, wir sollten daran erinnern, dass Europa sich selber nicht verstehen kann ohne seine christlichen Wurzeln. Aber was bedeutet das? Diese christlichen Wurzeln bedeuten, immer neu das Evangelium zu entdecken als die eigentliche Sprengkraft des europäischen Geistes. Die wichtigste Aufklärung, die Europa je erlebt hat, ist ja die Verkündigung des Evangeliums. Das ist meine Überzeugung, unabhängig davon, ob die Kirche immer diese große Kraft des Evangeliums authentisch gelebt und bezeugt hat, aber sie hat den roten Faden durch die Geschichte Europas sichtbar gehalten und muss diesen roten Faden immer wieder zur Zündschnur einer neuen Explosion der Evangelisierung machen. Dazu gehört aber auch, dass die Kirche selber versteht, dass sie Teil der Freiheitsgeschichte Europas ist, dass die Entdeckung der Menschenrechte, der Demokratie, der Freiheit der Person ihr eigenes Erbe sind, auch wenn es gelegentlich gegen die Institution durchgesetzt werden musste. Und die Kirche muss auch verstehen, dass sie selber geprägt ist durch die europäische Geistesgeschichte, und sie sich selber nicht verstehen kann, wenn sie das, was sie in dieser großen Geschichte in sich aufgenommen, hat nicht positiv annimmt und verarbeitet. Eine Kirche, die nur eine klagende und der modernen europäischen Welt ablehnend gegenüberstehende Haltung annähme, könnte keinen konstruktiven Beitrag zur Gestaltung Europas leisten. Was bliebe denn von den sogenannten Werten Europas ohne die christliche Botschaft, ohne das Evangelium? Kann Europa wirklich seine geistige Kraft entfalten ohne das Christentum? Ich kann mir das nicht vorstellen. Aber erzwingen können wir es nicht. Es ist unser Auftrag, Europa, diese Seele zu geben, wie es Jacques Delors formuliert hat. Und wer sollte denn Brückenbauer in Europa sein zwischen Sprachen, Kulturen, Nationen, wenn nicht die Kirche? Wir würden unsere Berufung verraten, wenn wir auch im Blick auf Europa narzisstisch verkrümmt in unseren eigenen Ländern und Befindlichkeiten gefangen blieben. Die katholische Kirche ist und muss doch sein eines der entscheidenden Instrumente eines universalen Humanismus. Das ist auch Auftrag der Kirche in und für Europa.