Bundesumweltminister Norbert Röttgen ist in einem Recht zu geben - die Ereignisse rund um die Reaktoren im japanischen Fukushima stellen eine Zäsur dar. Dies gilt für die derzeitigen innenpolitischen Debatten samt ihren personellen Begleiterscheinungen, mehr noch aber sind die blau getönten, grobkörnigen Fernsehbilder der rauchenden Reaktoren am anderen Ende der Welt - eingebrannt für immer in das kollektive globale Gedächtnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zur Ikone des endgültigen Abschieds von unserer Vorstellung des ewigen Wachstums geworden.
Was bislang allenfalls in den überschaubaren Zirkeln der wissenschaftlichen Fach-Communities und einiger - im Vergleich zur Gesamtbevölkerung weniger - Umweltengagierter diskutiert wurde, erreicht mittels der durch Fukushima ausgelösten Debatte um die Zukunft unserer Energieversorgung als Einsicht den gesellschaftlichen und politischen Mainstream: Die fossil-atomaren Energievorräte sind finit, und unbegrenztes Wachstum in einer begrenzten Welt ist logisch unmöglich.
Energiepolitik als Katalysator für Klimapolitik
Infolge des engen Zusammenhangs zwischen der Verbrennung fossiler Energieträger und der zunehmenden globalen Erderwärmung - vulgo "Klimawandel" - rückt damit auch letzterer wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Waren bislang das große Handicap aller Klimaschutzbemühungen die bis weit in die Zukunft verzögerten Effekte unseres heutigen Handelns, die eben dessen Änderung so erschweren, so ist das Energiethema wesentlich griffiger und plastischer erfahr- und diskutierbar. Es geht nun nicht mehr "nur" um die infolge des Klimawandels massiv veränderten Lebensbedingungen von Menschen in entfernten Kontinenten bzw. unserer Enkel und Großenkel; nein - eine veränderte Energiepolitik und Energiewirtschaft wird Konsequenzen haben auch für unser Leben bereits im Hier und Jetzt.
Damit kann Energiepolitik zum Katalysator für Klimapolitik werden, aber unter umgekehrten Vorzeichen als bislang: Die vermeintliche "Brückentechnologie" Atomkraft hat sich als Sackgasse für einen zukunftsfähigen Umbau unseres Energiesystems erwiesen. Stattdessen rücken Effizienzsteigerung und der Umstieg auf die erneuerbaren Energieträger samt ihren klimaschützenden Effekten in den Blickpunkt. Voraussetzung allerdings ist, daß es gelingt, interne Zielkonflikte (z. B. bezüglich der energetischen Nutzung von Biomasse und der Klimaauswirkungen der damit einhergehenden Landnutzungsänderungen) nachhaltig, d. h. dauerhaft-zukunftsfähig aufzulösen.
Ein breiter gesellschaftlicher Diskussionsprozeß
Die Umweltbewegung und die ihr nahestehenden politischen Parteien werden sich dabei beweisen müssen: Konflikte, die bislang wohlfeil nach außen verlagert werden konnten - "die Wirtschaft" und "die Politik" boten sich alternativ als "böse Buben" ja scheinbar immer an -, werden nun ins Innere der Umweltbewegung selbst getragen werden, um von dort - so ist zu hoffen - einen breiten gesellschaftlichen Diskussionsprozeß zu befördern: Ja, wir wissen, Strom aus Kohle ist klimaschädlich, und dennoch ist es bittere Realität, daß in China ein Kohlekraftwerk pro Woche ans Netz geht - wie also halten wir es mit CCS (carbon capture and storage), also dem Versuch der Abscheidung von Kohlendioxid und dessen anschließender Verpressung im Untergrund? Ja, wir wissen, der Mobilitätssektor trägt mehr als 20 Prozent zu den globalen Treibhausgasemissionen bei, die deutschen Automobilhersteller sind aber auch einer der nationalen Garanten für Arbeitsplätze und Steuereinnahmen und damit für unser Wohlstands- inkl. Sozialstaatsniveau - wie also halten wir es mit dem nicht nur ökologisch, sondern auch sozial verträglichen Umbau unseres Wirtschaftsmodells? Ja, wir wissen, eine intakte Natur- bzw. präziser: Kulturlandschaft hat einen hohen ästhetischen und damit auch Erholungswert für den Menschen - wie also halten wir es mit der drohenden "Verspargelung" der Landschaft durch Windräder und massive Eingriffe ins Landschaftsbild durch Hochleistungstrassenbau und das Anlegen von Speicherseen?
Bereits an diesen wenigen Beispielen - die Liste ließe sich problemlos fortsetzen - wird deutlich, daß ein künftiges nationales Energiekonzept auf einem breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens beruhen muß, der vorher mühsam zu erringen sein wird. Aber nur dann wird ein solches Konzept tatsächlich in der Lage sein, Investitionssicherheiten zu geben, eine langfristige Wirkmacht zu entfalten, und beizutragen zur Lösung der genannten Zielkonflikte.
Transparenz und Partizipation
Neben einer wirklich bewußten Anstrengung, dieses Thema einmal nicht nur kurzfristigen parteipolitischen Kalkülen zu unterwerfen, scheinen Transparenz und Partizipation möglichst aller zivilgesellschaftlich relevanten Gruppen unabdingbar. Dazu gehört auch, der Bevölkerung die Wahrheit zuzumuten: Was uns bevorsteht, ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Noch vor 25 Jahren konnte die US-amerikanische Band REM singen; "It’s the end of the world as we know it. And we feel fine." Den zweiten Satz würden heute viele nicht mehr unterschreiben, aber die Tragweite des ersten wird weitgehend unterschätzt. Dennoch sind Einsicht und Akzeptanz der aus Ressourcenverknappung und Klimaschutznotwendigkeit geforderten Unausweichlichkeit des Umbaus unseres Energiesystems bei laufendem Betrieb die Basis alles weiteren. Insofern wären wir gut beraten, nicht nur von green jobs und neuen, ungeahnten Möglichkeiten für den Exportweltmeister Deutschland zu reden, sondern auch davon, daß wir uns - zumindest in manchen Bereichen - wieder an die von unseren Großeltern vererbten Weisheiten und Lebenspraxen erinnern werden müssen.
Der Frage nach dem richtigen Maß und vor allem den Antworten darauf wird eine entscheidende Rolle zukommen, noch vor allen Effizienzsteigerungsstrategien und Versuchen, die fossil-atomaren Energieträger auf die erneuerbaren umzustellen. Nur dann, wenn unsere absoluten Energieverbräuche drastisch und anhaltend sinken, wird der Umbau hin zu einem Energieversorgungssystem erreicht werden können, das auf den erneuerbaren Energieträgern basiert und das globale Klimaschutzziel von zwei Tonnen CO2/Kopf/Jahr gewährleistet. Daß dies technisch möglich ist, belegen zahllose Studien. Es verlangt aber nichts weniger als die "große Transformation", wie der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) es Mitte April in seinem neuesten Gutachten genannt hat.
Damit diese Transformation auch auf globaler Ebene gelingt, sind nationale Energie- und Klimapolitiken einzubetten in möglichst weit reichende internationale Regimes. Der im Jahr 2010 im Auftrag von Misereor und der Münchner Rück Stiftung erstellte Report "Global, aber gerecht" zeigt einerseits die Güterkonflikte zwischen Klimaschutz und dem Menschenrecht auf Entwicklung auf, er benennt anderseits aber auch mögliche Lösungsstrategien. Zu hoffen ist, daß die internationale Staatengemeinschaft endlich ihre gemeinsame Verantwortung nicht nur für ein globales Handels- und Finanzsystem erkennt, sondern sich auch tatkräftig dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zuwendet.
"Bewahrung der Schöpfung" - zur Rolle der Kirchen
Und die Rolle der Kirchen? Christinnen und Christen vertreten ein umfassendes Konzept der Deutung dieser Welt, das von einem Eigenwert alles Geschaffenen ausgeht, das bereits insofern schützenswert ist. Der Topos von der "Bewahrung der Schöpfung" ist schnell in Gefahr, zur inhaltsleeren begrifflichen black box zu verkommen und damit der leichten politischen Instrumentalisierung anheimzufallen. Darin ist aber eine Urintuition in ein Bild gebracht, die bei allem, was den heutigen Menschen von einer beinahe ausschließlich agrarisch strukturierten Gesellschaft von Ackerbauern und Viehzüchtern des Vorderen Orients vor mehreren 1000 Jahren trennt, dennoch aufs Tiefste zu berühren vermag und so handlungsleitend werden kann. Es ist des weiteren eine der Kernbotschaften des Christentums, daß gelingendes menschliches Leben eben nicht an materiellen Konsumniveaus zu messen ist.
Diese Überzeugung kann helfen, der Suffizienzfrage zu neuer Aktualität und Akzeptanz zu verhelfen. Kirche nimmt darüber hinaus für sich in Anspruch, Sachwalter besonders für die Armen und Schwachen zu sein. Insofern wird sie dafür eintreten, daß die notwendigen gesellschaftlichen Transformationsprozesse nicht zuerst zu deren Lasten gehen. Und weil nur der glaubwürdig ist, der nicht Wasser predigt, aber selbst Wein trinkt, ist nur zu hoffen, daß die eigene kirchliche Praxis (z. B. Bau und Liegenschaftsverwaltung, Beschaffung, Mobilitätsgestaltung und Vermögensverwaltung) schnell und überzeugend eine nachhaltige Grundausrichtung bekommt. Nur dann nämlich kann es gelingen, schöpfungsrelevante Positionen in ernsthafter Weise nicht nur als Thema der Pastoral und der Verkündigung zu setzen, sondern diese auch überzeugend in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.
Gelänge dies alles, dann wäre Fukushima nicht nur eine Zäsur, die einmal mehr menschliche Hybris ausgewiesen hätte, sondern eine echte Wende zum Besseren. Noch aber glühen die Brennstäbe in den sechs japanischen Reaktoren, und noch ist nicht entschieden, ob es bei der Zäsur bleibt, oder zur tatsächlichen Wende kommt. Erste Absatzbewegungen in der politischen Diskussion werden offenbar, und die Erfahrungen aus der Finanzkrise lehren, daß Zeitfenster für wirkliche Reformen erschreckend schnell wieder geschlossen sind. Es könnte eine Aufgabe auch für die Kirchen sein, mit dazu beizutragen, daß sich eine ähnliche Entwicklung nicht wiederholt.