Bekanntlich hat der emeritierte Papst Benedikt XVI. bei der Aufnahme eines Aufsatzes "Zur Frage der Unauflöslichkeit der Ehe" aus dem Jahr 1972 in den Band 4 der "Gesammelten Schriften" (2014) den Abschnitt IV. "Schlussfolgerungen" geändert. Diskutiert wird nun, ob es wissenschaftlichem Ethos entspricht, einen früheren Text ohne ausführliche Begründung zu ändern. Und wollte nicht der emeritierte Papst in Zukunft schweigen? Sucht er jetzt nicht doch gegen sein ursprüngliches Vorhaben Einfluss zu nehmen auf die aktuellen Diskussionen im Synodenprozess zu Ehe und Familie? Vor allem aber: Rückt er nicht von früheren Überlegungen, die eine Öffnung in der Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion zu versprechen schienen, ab?
Leider wird bei diesen Erörterungen der wohl wichtigste Abschnitt seines neuen Textes übersehen. Joseph Ratzinger war stets auch ein scharfsinniger Zeitanalytiker. Diesem Anspruch wird er in folgenden Aussagen voll gerecht:
"Immer mehr gibt es heute getaufte Heiden, das heißt Menschen, die durch die Taufe zwar Christen geworden sind, aber nicht glauben und nie den Glauben kennengelernt haben. Dies ist eine paradoxe Situation. Die Taufe macht zwar den Menschen zum Christen, aber ohne Glaube bleibt er eben ein getaufter Heide. Can 1055 § 2 sagt, dass es 'zwischen Getauften keinen gültigen Ehevertrag geben (kann), ohne dass es zugleich Sakrament ist'. Aber wie ist das, wenn ein ungläubiger Getaufter das Sakrament überhaupt nicht kennt? Er kann vielleicht den Willen zur Unauflöslichkeit haben, aber das Neue des christlichen Glaubens sieht er nicht. Das Drama dieser Situation wird vor allem sichtbar, wenn heidnische Getaufte sich zum Glauben bekehren und ein ganz neues Leben beginnen. Hier stellen sich Fragen, auf die wir noch keine Antworten besitzen. Umso dringlicher ist es, ihnen nachzugehen." (620)
Anstatt sich über den Vorgang der Textänderung zu ereifern, wäre es angebracht, in der Zeit zwischen den Synoden die hier angeschnittenen Fragen aufzugreifen und zu erörtern. Denn sie bedeutet ja nichts Geringeres, als dass sich hinsichtlich einer Vielzahl von kirchlich eingegangenen Ehen die Frage stellt, ob sie aufgrund der nicht vorhandenen Grundkenntnisse im christlichen Glauben überhaupt gültig zustande gekommen sind bzw. zustande kommen. Dies aber ist eine Frage, die der Zulassung zum Kommunionempfang unter bestimmten Bedingungen vorausliegt.
Tatsache ist, dass das abnehmende Glaubenswissen bei vielen nachwachsenden Getauften hier an eine sehr praktische Grenze stößt. Denn das mangelnde Wissen um das, was ein Sakrament ist, betrifft ja den Gesamtbereich christlicher Existenz. Menschen, die als unmündige Kinder getauft sind, müssen erst später lernen, was die Taufe an ihnen bewirkt hat. Wieweit das in der Vorbereitung auf die Erstkommunion und später die Firmung wirklich gelingt, wird von vielen, die in der Praxis der Vorbereitung tätig sind, längst in hohem Maße in Frage gestellt. Dies ist folglich auch keine Rückfrage an die wissenschaftliche Theologie, sondern an die praktische Umsetzung und Einweisung in das konkrete Christsein vor Ort. Was aber bei den Grundsakramenten nicht wirklich vermittelt wird, kann kaum in den kurzen Ehevorbereitungen, in denen es oft um andere praktische Lebensfragen geht, nachgeholt werden. Wie aber kommt ein Ehesakrament zustande bei Menschen, die - wie Joseph Ratzinger mit Recht feststellt - "nie den Glauben kennengelernt haben"?
Kirchliche Gerichte können folglich in vielen Fällen heute feststellen, dass eine Ehe im katholischen Verständnis gar nicht vorhanden ist. Sie mag - mit Martin Luther gesagt - ein "weltlich Ding" sein und auch dann des Schutzes und des Respekts bedürfen, mit dem die Pastoral der Kirche auf entsprechende Weise umzugehen hat. Aber gerade im rechtlichen Bereich steht die katholische Kirche vor dem Dilemma, dass sie die von Joseph Ratzinger beschriebene konkrete Situation des "getauften Heiden" in ihren prinzipiellen Regulierungen bislang praktisch nicht berücksichtigt hat.
Papst Franziskus betont gegenüber allen gesetzlichen Regulierungen immer wieder, dass die Pastoral angesichts der Vielfalt menschlicher Verletzungen das Menschsein des Menschen nicht übersehen darf und Gott auch des letzten Menschen Heil will. Hinsichtlich des Eheverständnisses bedeutet das, dass das von Gott gewollte Grundverhältnis von Ehe zwischen einem Mann und einer Frau unauflöslich ist. Wie aber gehen die Seelsorger der Kirche dann mit denen um, die im heutigen von Vielfalt geprägten Milieu aufwachsen, die Kirche mit ihren Idealen nur distanziert wahrnehmen und sich sogar von ihr manches für ein gelebtes Menschsein versprechen, aber die Kirche in ihrem Kernverständnis gar nicht mehr kennen?
Ich kann mich gut an die Diskussionen in Rom in der Zeit vor der Veröffentlichung der Enzyklika "Humanae vitae" (August 1968) erinnern. Kardinäle, die mitsprachen, kamen wie die Vertreter der Laien, die beratend mitwirkten, aus kinderreichen Familien, in denen ganz selbstverständlich das biblische "Wachset und mehret euch!" galt. Dass sich eine Zeit ankündigte, die den Menschen auch im Sexualverhalten neue Möglichkeit eröffnet, wurde zwar von vielen Bischöfen und Theologen, die in der Vorbereitung mitwirkten, wahrgenommen. Doch das traditionelle Denken setzte sich am Ende mit den Folgen durch, die wir kennen. Der Dissens zwischen kirchlicher Lehre und praktischem Verhalten leitete den nachfolgenden Exodus aus der Kirche ein. Der Prozess, der in Europa zu einem Anwachsen der "getauften Heiden" in der Kirche führte, ist voll im Gang.
Es bleibt zu hoffen, dass die kommende Synode wenigstens einige Antworten auf die Fragen findet, auf die wir nach Benedikt XVI. "noch keine Antwort besitzen". Denn das stimmt ja auch: Es gibt heute durchaus "getaufte Heiden", die "sich zum Glauben bekehren und ein ganz neues Leben beginnen" wollen.