Im 65. Jahr nach der Befreiung der Konzentrationslager ist das Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungen nicht mehr kontrovers. Eine leidenschaftlich geführte Diskussion, ob denn der 8. Mai ein Tag der Befreiung oder ein Tag der Niederlage sei, wie sie vor 25 Jahren noch Zeitungen, Akademien und Talkshows beschäftigte, ist heute nicht mehr vorstellbar. Die deutsche Gesellschaft hat, zumindest ihren vernehmbaren Stimmen nach, akzeptiert, daß regelmäßiges Erinnern zum festen Ritualbestand ihrer Demokratie gehört. Und gelegentlich - etwa angesichts der Wahlerfolge des Rechtspopulisten Geert Wilders in den Niederlanden oder nach dem Triumph der antisemitischen Jobbik-Partei in Ungarn - hält man sich inzwischen sogar einiges zugute auf die deutsche Gedenkkultur.
Hat sich hierzulande also alles gut eingespielt? Nicht alle sind dieser Meinung. Max Mannheimer, der Vorsitzende der Dachauer Lagergemeinschaft (der Vereinigung der überlebenden KZ-Häftlinge) sorgt sich, daß immer mehr jugendliche Erstwähler ihre Stimme rechtsextremen Parteien geben und von der Rhetorik des "Nie wieder!" kaum noch ansprechbar sind. Ruth Klüger, in Kalifornien lebende Wienerin und Überlebende von Auschwitz und anderen Lagern, meint, man beklage heute zwar die Opfer, gestehe sich aber nicht ein, "daß man sie geopfert hatte". Solches Mitgefühl mit den Opfern bei gleichzeitiger Ausblendung der Täter sei nur "Pseudovergangenheitsbewältigung" und eigentlich "sentimentale Flucht vor der Realität". Und Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, sagte in einer Rede zum 9. November 2009: "Die vielzitierte 'Aufarbeitung der Vergangenheit' in Deutschland ist, was Verfolgung und Bestrafung der Täter anbelangt, eine Geschichte des Scheiterns." Die überwiegende Mehrheit der an NS-Verbrechen Beteiligten ging straffrei aus.
Nimmt man diese kritischen Einwürfe ernst, erscheint die deutsche Erinnerungsgeschichte in einem anderen Licht. Zwar mangelte es nie an eindeutigen Stellungnahmen gegen die NS-Verbrechen, aber die auffällige Zurückhaltung bei der Strafverfolgung der Täter erzählt von einer tiefen Gespaltenheit. "In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte", sagte der Historiker Raul Hilberg, die Täter waren nicht irgendwelche "anderen", sondern oft genug die eigenen Angehörigen. Die wollte man schützen. Daß in der DDR über jene SED-Genossen, die wenige Jahre zuvor noch NSDAP-Mitglieder waren, beharrlich geschwiegen wurde, dürfte damit ebenso zusammenhängen wie das Straffreiheitsgesetz, das die Bundesrepublik noch in der ersten Sitzungsperiode des Bundestags 1949 beschloß und das die nahezu alle Vergehen außer Mord für nicht mehr verfolgbar erklärte. Die verbliebenen Mörder, die weder von den Prozessen der Alliierten noch von anderen europäischen Verfahren erfaßt wurden, kamen, wie Hannah Arendt 1963 feststellte, "entweder nie vor ein Gericht oder begegneten vor deutschen Gerichten denkbar großem 'Verständnis'".
Ersatzweise wurde die Bevölkerung immer wieder zum gemeinsamen Tragen der Schuld und zur "Kollektivscham" (Theodor Heuss) aufgefordert. Eingeübt wurde damit ein Nein zum Nazismus ohne ernsthaftes Ja zu Gerechtigkeit und genauer Aufarbeitung. Man wollte die Dinge hinter sich lassen. So mußte das Land ex negativo aufgebaut werden, in der Abkehr von der eigenen Geschichte, nicht in der Umkehr zu Werten des Rechts und der Solidarität.
Den überlebenden NS-Verfolgten begegnete man lange Zeit mit Mißtrauen. Man fürchtete sie als potentielle Ankläger, die die Tätergeschichte erneut ans Licht bringen könnten. Erst als Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai 1985 KZ-Häftlinge und Vertriebene, Ausgebombte und Gestapo-Opfer zu einer einzigen großen Leidensgemeinschaft zusammenführte, begannen zunehmend mehr Menschen im Land, sich den Geschichten der Verfolgten zu öffnen und mit ihnen mitzufühlen. Für Ruth Klüger war das unerträglicher Kitsch; beim neuen Mitgefühl schien es weniger um die überlebenden Häftlinge als um die Selbstbespiegelung der Deutschen zu gehen, "um das Vergnügen, die eigene Sensibilität auszukosten".
Wie schon die Täter eigentümlich gesichtslos blieben, wurden die NS-Verfolgten lediglich als "Opfer" wahrgenommen - ein merkwürdiges Nichtverhältnis in beiden Fällen.
Keiner vermißt dich,
Else Lasker-Schüler.
- so brachte Klaus Theweleit die Sache in einem Gedicht auf den Punkt. Kein Vermissen, keine Wahrnehmung der Opfer als Personen. Zum vielfach gelobten Nein zu den Untaten der NS-Zeit gesellte sich kein klares Ja zum Gerechtigkeitsverlangen der Überlebenden. Daß die Weitergabe der Erinnerung an die nachfolgenden Generationen darum auch nur Verhältnislosigkeit hervorrufen konnte, ist letztlich nicht überraschend.
Gibt es Wege aus dieser Verhältnislosigkeit?
Der kürzlich verstorbene Theologe Edward Schillebeeckx (1914-2009) sah im Nein der Menschen zum erlittenen Unrecht eine Urerfahrung der Transzendenz. Denn im Nein des Protests drücke der Mensch seinen Glauben aus, solches nicht verdient zu haben, Besseres erwarten zu dürfen. Darin liege aber immer auch ein "noch nicht ausgefülltes" Ja, das die Gegenwart transzendiere. Ausgefüllt werde dieses Ja jedoch nicht in der Abkehr, im Blick über diese Welt hinaus, sondern in der Transzendenz auf den Anderen, auf den zum Opfer Gemachten hin.
Dieser Schritt fehlt vielfach in der gegenwärtigen Erinnerungskultur: die Hinwendung zu den ehemals Verfolgten nicht als Opfer, sondern als Menschen, die ernst zu nehmen wären beim Nachdenken über die Zukunft der Welt. Zu denken wäre etwa an die europäischen Widerstandskämpfer, die in den Baracken des KZ Dachau abends über ein künftiges freies Europa Gedanken austauschten, die allesamt weit über den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union hinausweisen. Von ihnen könnte man sich inspirieren lassen, von ihren Lagertagebüchern, ihren Schriften - in Zustimmung wie auch im Widerspruch. Bis wir ein echtes Verhältnis zu ihnen entwickeln. Bis wir sie wirklich vermissen.