In der katholischen Kirche Englands sind Konvertiten keine Seltenheit. Seit dem Emanzipationsgesetz von 1829, das Katholiken wieder zur Wahl zuließ und ihnen erlaubte, öffentliche Ämter zu bekleiden, waren sie immer eine wichtige Gruppe dieser Kirche. Es hat Zeiten gegeben, in denen es bis zu 8000 solcher "converts" pro Jahr gegeben hat. Unter ihnen waren nicht selten prominente Intellektuelle oder bekannte Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft. Man denke nur an Graham Greene, Evelyn Waugh oder Compton Mackenzie. In letzter Zeit konvertierten der ehemalige Premierminister Tony Blair und die konservative Abgeordnete Ann Widdecombe.
Der neue Selige John Henry Newman dürfte aber voraussichtlich auf lange Zeit der prominenteste unter ihnen bleiben - nicht nur, weil er die theologischen Gründe für seine Konversion in seinen Werken so genau beschrieben hat, sondern auch, weil er theologiegeschichtlich viel bewegt hat.
Ein Jahrhundertleben
Sein Leben spannte sich beinahe über das ganze 19. Jahrhundert: Geboren in London am 21. Februar 1801, lebte er bis zum 11. August 1890. Die erste Hälfte seines Lebens war er Anglikaner, die zweite Katholik.
John Henry war der älteste Sohn von John und Jemima Newman. Sein Vater war Bankier in der City of London und stammte aus einer Gutsbesitzerfamilie in Cambridgeshire. Seine Mutter, eine geborene Foudrinier, stammte aus einer französischen Hugenottenfamilie, die nach England auswanderte, als das Edikt von Nantes 1685 aufgehoben wurde. Beide Eltern waren Mitglieder der Church of England. Newmans Mutter war einer milden Form des Calvinismus zugeneigt, etwas, was damals in der sogenannten Low Church typisch war. Newmans Vater wurde evangelikal erzogen, war aber nicht sehr orthodox und tolerierte alle protestantischen Sekten, wobei er eine besondere Sympathie für die Quäker empfand.
Die Church of England ("C of E" genannt), die die etablierte Nationalkirche in England ist, umfaßt mehrere Strömungen. Die sogenannte Low Church neigt eher dem strengen Protestantismus zu, die sogenannte High Church oder Anglo-Catholic Church eher dem Katholizismus. Dazwischen liegt die sogenannte Broad Church, die die Königin bevorzugt. In der Low Church glaubt man zum Beispiel nicht an die Transsubstantiation und lehnt die Marienverehrung ab, während Anglo-Katholiken oft „katholischer als Rom" sind. Newman hat in seinem Leben die ganze Palette dieser unterschiedlichen Strömungen durchgemacht, bevor er schließlich römisch-katholisch wurde.
John Henry war eines von sechs Geschwistern. Er hatte noch drei Schwestern und zwei Brüder. Jemima Newman versuchte, alle ihre Kinder in der milden calvinistischen Tradition, in der sie selbst aufgewachsen war, zu erziehen. Religion faszinierte John Henry von frühester Jugend an. Schon als Kind war er ein unersättlicher Leser und kannte bald große Teile der King James Bible auswendig. Im Alter von acht Jahren schickte ihn sein Vater in die Great Ealing School, ein Internat, das damals ebenso berühmt war wie Eton oder Harrow, wo er bis zum 15. Lebensjahr blieb. Ein Jahr später begann er sein Studium der klassischen Antike am Trinity College in Oxford. Das Studium von Latein und Griechisch und der antiken Philosophen im Original war bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts das schwerste und angesehenste Studium in Oxford. Bereits nach einem Jahr gewann Newman ein Stipendium im Wert von £ 60 - damals viel Geld. Stipendien wurden und werden in Oxford ausschließlich für hervorragende akademische Arbeiten vergeben.
Nachdem Newman 1820 sein Studium am Trinity College beendet hatte, wurde er Fellow des Oriel College. Er war inzwischen vom Calvinismus abgerückt, blieb jedoch einstweilen noch ein Low Churchman. Er hatte sich aber bereits entschlossen, ein zölibatäres Leben zu führen und dachte daran, in die Mission zu gehen. 1824 wurde er zum Diakon in der Anglikanischen Kirche geweiht. Bald danach starb sein Vater. Jetzt war er der einzige in seiner Familie, der Geld verdienen und so die Familie unterhalten konnte. Damit schied eine Arbeit in der Mission aus. Ein Jahr später wurde er zum Priester geweiht. Drei Jahre danach wurde er Pfarrer (vicar) von St Mary's, der Universitätskirche von Oxford, zu der auch Grundstücke in Littlemore, einem kleinen Dorf im Süden von Oxford, gehörten.
Erneuerung durch die "Oxford-Bewegung"
St. Mary's wurde die spirituelle Heimat der "Oxford-Bewegung", einer Bewegung, die innerhalb der Anglikanischen Kirche um 1830 begann. Ihr Ziel war, christliche Spiritualität und Praxis, wie sie in der Frühen Kirche von den Kirchenvätern ausgeübt wurden, wieder in die Anglikanische Kirche einzuführen. Die Oxford-Bewegung wurde von Newman und zwei seiner Kollegen im Oriel College - John Keble und Edward Pusey -, die alle in Oxford lehrten, getragen. Diese drei wurden jetzt High Anglicans. Sie publizierten regelmäßig sogenannte Traktate, die auf dem Glaubensbekenntnis ("Ich glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche") basierten und in denen sie die Gründe für eine Rückkehr zur Spiritualität der Frühen Kirche erklärten.
Newmans Predigten zu diesem Thema, die auch publiziert wurden, hatten ihn bereits berühmt gemacht. Er war damals der Meinung, die Anglikanische Kirche sollte eine Art via mediazwischen Protestantismus und Katholizismus sein. Es ist kaum verwunderlich, daß Newmans Bischof und immer mehr anglikanische Bischöfe anderer Meinung waren. Er wurde gebeten, die Verbreitung seiner Traktate, besonders des letzten (Nr. 90), einzustellen. Daraufhin trat Newman als Führer der Oxford-Bewegung zurück, blieb aber Pfarrer von St Mary's.
Im Jahr 1842 übersiedelte Newman nach Littlemore, wo er bereits eine Kirche gebaut hatte. Seine Mutter wurde hier unter dem Hochaltar begraben. In Littlemore führte er ein fast monastisches Leben und beschäftigte sich vor allem mit dem katholischen Glauben, dem er immer mehr zuneigte. Anfang 1845 entschloß er sich, eine Arbeit über die Entwicklung der christlichen Lehre zu verfassen. Er nahm sich vor, zur katholischen Kirche überzutreten, wenn sich seine Überzeugungen bezüglich Roms während des Schreibens nicht ändern würden. Noch bevor er das Werk abschloß, wußte er, daß er diesen Schritt vollziehen müsse.
"Boshafte Geschichten werden über einen erzählt"
Am 3. Oktober 1845 schrieb er an den Provost von Oriel College und legte sein Fellowship zurück. Noch am selben Tag wurde er vom (späteren Seligen) Dominic Barberi CP, einem Passionisten, der seit 1842 als Missionar in England tätig war, in die Kirche aufgenommen. In den folgenden Jahren hat Newman oft im Detail beschrieben, wie schwer für ihn dieser Schritt war und was es damals bedeutete, zur katholischen Kirche überzutreten: "Wenn sie einen nicht sofort verleugnen, dann lassen sie einen allmählich fallen ... man bekommt keine Einladungen mehr, man ist nicht mehr ein willkommener Gast … ungeheuerliche, boshafte Geschichten werden über einen erzählt. Und was für ein Verbrechen hat man begangen? Man ist ein Katholik unter Protestanten."
Kurz nachdem er katholisch geworden war, besuchte Newman das Oscott College in Birmingham, wo er im November 1845 gefirmt wurde. Im Jahr darauf verließ er Littlemore und Oxford nach 30 Jahren und zog nach Maryvale. Im September 1846 reiste er zusammen mit Ambrose St. John, der ebenfalls katholisch geworden war, nach Rom, wo er im Mai 1847 zum römisch- katholischen Priester geweiht wurde. Bald darauf wurde er im Noviziat der Oratorianer in Rom aufgenommen.
Zusammen mit einer Gruppe von jungen Konvertiten gründete Newman bereits 1848 ein Oratorium in Maryvale und bald darauf auch in Birmingham und London.
Katholiken in England
Erst 1850 konnte die katholische Hierarchie wieder offiziell in England etabliert werden. Damals hielt Newman seine berühmten Reden über die Position von Katholiken in England. Mit Humor und Ironie zeigte er auf, wie absurd Vorurteile gegen Katholiken seien und unterstrich, wie sehr die katholische Kirche gut informierte Laien brauche, die ihren Glauben jederzeit gut erklären konnten. In den kommenden Jahren verteidigte er wiederholt die wichtige Rolle der Laien in der katholischen Kirche und erinnerte daran, daß es immer wieder Perioden in der Kirchengeschichte gegeben hatte, in denen der Glaube eher von der Gemeinschaft der Gläubigen, dem consensus fidelium, bewahrt wurde als von manchen Päpsten oder Bischöfen.
Zu keiner Zeit wurde Newmans Rat so sehr gesucht wie zur Zeit des Ersten Vatikanums (1870/71). Newman sah voraus, daß das Unfehlbarkeitsdogma weitgehend mißverstanden werden würde, sogar von Katholiken. Die weitere Entwicklung gab ihm recht.
Am 15. Mai 1879 wurde John Henry Newman von Papst Leo XIII. zum Kardinal ernannt. Am 10. August 1890 bekam er plötzlich eine Lungenentzündung. Tags darauf starb er im Oratorium von Edgbaston.
Im Jahr 1958 wurde sein Seligsprechungsverfahren eingeleitet. Im Rahmen seiner viertägigen Reise ins Vereinigte Königreich - dem ersten Staatsbesuch eines Papstes in Großbritannien seit dem Bruch des Königreichs mit Rom im Jahr 1534 unter König Heinrich VIII. (Henry Tudor) - wurde John Henry Newman am 19. September 2010 von Papst Benedikt XVI. während eines Gottesdienstes im Cofton Park in Birmingham seliggesprochen.