Nachdem im Herbst 2010 der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, einen Dialog angekündigt hatte, versuchten im Februar 2011 144 deutschsprachige Theologieprofessorinnen und -professoren mit dem Aufruf "Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch" einen ersten Beitrag dazu zu leisten. Der Text, den man in der darauf folgenden Debatte kurz "Memorandum" nannte, wurde noch von weiteren Kolleginnen und Kollegen, auch aus nichtdeutschsprachigen Ländern, unterzeichnet, so daß die Theologenzunft mit insgesamt 311 Namen ihre Unterstützung kundtat.
Zur Erinnerung: Der Appell ging von der langfristigen Entfremdung vieler Katholiken von ihrer Kirche aus und forderte ein Nachdenken über Reformen in sechs Handlungsfeldern: In bezug auf (1) "Strukturen der Beteiligung" mehr Subsidiarität und Mitsprache der Gläubigen bei der Bestellung von Bischof und Pfarrer; bezüglich der (2) "Gemeinde" verheiratete Priester und - ohne weitere Präzisierung - "Frauen im kirchlichen Amt"; im Bereich der (3) "Rechtskultur" eine vom Lehramt unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit; als Respekt vor der (4) "Gewissensfreiheit" eine nicht ausschließende Beziehung zu wiederverheirateten Geschiedenen und Menschen, die in auf Treue angelegten gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben; unter dem Stichwort (5) "Versöhnung" die Abkehr von einer rigorosen Moral ohne Barmherzigkeit und im Hinblick auf den (6) "Gottesdienst" Offenheit für Ausdrucksformen der Gegenwart ohne zentralistische Vereinheitlichung.
Das Dokument, das - ein Novum - in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht wurde, sollte knapp und griffig formuliert sein und konnte aus Zeitgründen nicht auf breiter Basis vorbereitet werden. Zwei Sammelbände, die diesen Herbst erschienen sind, leisten nun so etwas wie Nacharbeit und Vertiefung, wobei beide den Aufruf nochmals dokumentieren.
Die überschaubare Publikation "Das Memorandum: Die Positionen im Für und Wider" enthält Erörterungen von 15 Befürwortern und Gegnern, die die beiden Herausgeber um eine Stellungnahme gebeten haben1. Im Unterschied zum viel zitierten ablehnenden Votum, das Kardinal Walter Kasper bereits zwei Tage nach der Veröffentlichung des Aufrufs in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" publizierte und das auch abgedruckt ist, kritisieren die vier Nicht-Unterzeichner, die hier zu Wort kommen, den Appell nicht pauschal, sondern nur bestimmte Mängel.
So erscheint dem Grazer Pastoraltheologen Rainer Bucher der Hinweis auf den Priestermangel immer noch zu priesterzentriert. Und der Salzburger Fundamentaltheologe Gregor Maria Hoffvermißt in dem Dokument eine eingehende Zeitanalyse in Verbindung mit einer theologischen Grundsatzbestimmung, ebenso eine klare Aussage, ob man eine Zulassung der Frauen zum Diakonat und Priestertum fordere. Indes verweigerte der Mainzer Alttestamentler Thomas Hieke seine Unterschrift, weil er die Hoffnung der Autoren nicht teilen kann: "Ändern wird sich auch diesmal nichts. In 20 Jahren wird man es sehen" (143).Was ihn aber nicht hindert, die "Utopie" zu skizzieren, die deutschsprachigen Kirchen könnten in einigen Jahren den Beschluß fassen, verheiratete Männer zu Priestern zu weihen und dafür - falls in diesem Prozeß keine Kirchenspaltung entsteht - von Rom die Dispens für ihr Experiment erhalten.
"Ein Unterton der Trauer und Verzweiflung"
Der Soziologe Hans Joas verteidigt das Memorandum gegen mancherlei Kritik und meint: "Der Text hat einen Unterton der Trauer und Verzweiflung - eben weil so viel Debattieren und Argumentieren so wenig in Gang gesetzt hat" (155). Der Churer Pastoraltheologe Manfred Belok erinnert an die lange Reihe vergeblicher Reformanstöße - von der Erklärung "Für die Freiheit der Theologie" (1968), in der 1360 Theologen aus aller Welt, darunter Walter Kasper, Karl Lehmann und Joseph Ratzinger, vor der Gefährdung der Theologie durch Sanktionen warnten, über die Synoden der Jahre 1972 bis 1975 und die "Kölner Erklärung: Wider die Entmündigung - für eine offene Katholizität" (1989) bis zur Petition "Für eine uneingeschränkte Anerkennung der Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils" (2009) gegen die Rehabilitierung der Piusbruderschaft.
Diese Aufzählung offenbart eine beklemmende Beratungsresistenz des kirchlichen Amtes gegenüber der eigenen Theologenschaft. Aus österreichischer Sicht ergänzt der Innsbrucker Dogmatiker Roman Siebenrock: "In Österreich wurde versucht, der Ära König ein Ende zu bereiten. Das Ergebnis war ein Desaster" und fragt, warum man "betontraditionalistische Gruppen" geduldet und päpstlicherseits gefördert, aber kritische Bewegungen wie "Wir sind Kirche" ausgegrenzt hat.
Eine durch die gegenwärtige Krise geläuterte Kirche mit herrschaftsfreier Kommunikation?
Die Autoren, die ihre Unterstützung des Appells begründen, weisen vor allem auf zwei Ursachen des Vertrauensverlustes hin, die der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann so zusammenfaßt: "Eine Tendenz zur fortgesetzten Zentralisierung und ein ungeklärtes Verhältnis zu Fragen der menschlichen Geschlechtlichkeit" (170). Das bedeutet - gegen den Einwand von Kardinal Kasper -, daß die Herausforderung durch die Gotteskrise die Kirche nicht von Strukturreformen dispensiert.
Der Tübinger Kirchenhistoriker Hans Reinhard Seeliger erinnert daran, daß die Amtskirche seit dem Lehrschreiben "Humanae Vitae" (1968) ihre "Glaubwürdigkeit weitgehend in den Betten ihrer Gläubigen verspielt" hat, daß mit dem Rückgang der Zahl der Priesteramtskandidaten auch eine "Senkung der Begabung" einhergeht und daß nur durch einen ernsthaften Dialog und partizipative Verhältnisse Vertrauen zurückgewonnen werden kann.
Nicht alle Befürworter äußern, wie die Kasseler Bibelwissenschaftlerin Ilse Müllner, die Sehnsucht und Möglichkeit, durch die gegenwärtige Krise könne eine geläuterte, geisterfüllte Kirche mit herrschaftsfreier Kommunikation entstehen, doch sprechen sie alle - wie auch das Memorandum - von einem Aufbruch. Auf dieser Linie wünscht sich der Kirchengeschichtler Joachim Schmiedl eine Nacharbeit zum Memorandum, wie sie der Konzilserklärung "Gaudium et Spes" vorausging, mit weiteren Memoranden: von Priestern und Laien in der Seelsorge, Mitgliedern der Pfarrgemeinderäte, Gemeindekatecheten, Engagierten in der missionarischen Seelsorge sowie spirituellen Gruppen. Alle Beiträge sind von großer Sorge und Verantwortungsbewußtsein für die Sache der Kirche getragen und letztlich überaus konstruktiv gemeint.
Die Kirche - weder eine Demokratie noch ein absolutistischer Staat
Nacharbeit leistet auch ein zweites Sammelwerk, in dem 14 Autoren - fast alle Theologieprofessoren - die sechs Themenfelder des Memorandums behandeln2. Sie tragen ihr Anliegen durch die Bank argumentativ, auf hohem Niveau und unter Verzicht auf jede Polemik vor. Zu Beginn stellt die Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Claudia Lücking-Michel, klar, daß etwas anderes not tut als eine Strategie, um die nörgelnden Kirchenmitglieder zufriedenzustellen: etwas Ähnliches wie die Würzburger Synode. Dabei sollen synodale Strukturen das kirchliche Amt nicht ersetzen, sondern ergänzen: "Natürlich, die Kirche ist keine Demokratie - aber sie ist eben auch kein absolutistischer Staat" (44).
Hier werden Analysen und Argumente, die wegen der gebotenen Kürze nicht im Memorandum erwähnt werden konnten, gleichsam nachgeliefert: Grundlegendes über die Situation der katholischen Kirche in soziologischer Sicht (Karl Gabriel), über ihren "latenten Antimodernismus" und die fälschliche Verknüpfung von Moderne und ethischem Relativismus (Magnus Striet), über den Ansatz des Aufrufs beim Freiheitsbegriff und der Kirche als "Zeichen und Werkzeug der Freiheit Gottes und der Menschen" (Saskia Wendel) sowie über Schuldeingeständnis, Prävention, Korrekturen der offiziellen Morallehre und einen sanktionsfreien Umgang mit Kritik als Wege zur Wiederherstellung der moralischen Autorität der Kirche (Gerhard Kruip). Der Moraltheologe Stephan Goertz erläutert, daß das Memorandum die Kirche als Kollektiv-Subjekt begreife, das Schuld auf sich laden könne, denn die gegenwärtige ethische Diskussion schreibe auch Institutionen und Organisationen Verantwortung zu, weil sie das Handeln ihrer Mitglieder beeinflußten. Dabei kann man sich allerdings fragen, wo man noch eine Grenze zur Kollektivschuld ziehen kann.
Pastorale Großräume, "viri probati" und Frauendiakonat
Zum Aufgabenfeld "Beteiligung" skizziert die Kirchenrechtlerin Sabine DemelReformvorschläge im Sinne von mehr Ausübungsrechten des gesamten Gottesvolkes bei kirchlichen Diensten und Ämtern, mehr Mitspracherechte der repräsentativen Vertretungsgremien bei Entscheidungen des Diözesanbischofs und Pfarrers sowie mehr Mitentscheidungsrechte des Volkes Gottes bei synodalen Zusammenkünften. Die Religionspädagogin Judith Könemann und der Pastoraltheologe Reinhard Feiter fordern im Hinblick auf die Schaffung größerer pastoraler Räume einen doppelten Perspektivenwechsel: Einerseits eine Berücksichtigung der Bedürfnisse der Städte und Orte und der in ihnen lebenden Menschen, damit beispielsweise prekäre Stadtviertel nicht marginalisiert werden, und anderseits statt einer Fusionierung der bestehenden Gruppen eine Förderung von (kleinen) Gruppen durch Zulassen von Eigenverantwortung von ehrenamtlich Aktiven.
Und der Priestermangel? Der Bamberger Dogmatiker Georg Kraus legt ein prägnantes Plädoyer für die Weihe von "viri probati" vor, während sein Tübinger Kollege Peter Hünermann die Zulassung von Frauen zur Priesterweihe noch nicht für entscheidungsreif, aber die lehramtliche Ablehnung eines Diakonats von Frauen für nicht überzeugend hält: "Die oben angeführte Schlußfolgerung, daß Frauen zum Diakonat aufgrund der Einheit des Ordo nicht zugelassen sind, entbehrt der Logik. Diese Schlußfolgerung berücksichtigt nicht die qualitative Vielfalt der Ämter innerhalb der Einheit des Ordo. Unter Berücksichtigung des Faktums, daß erst Petrus Lombardus (gest. 1160) die Rede von dem 'Einen Ordo' in die Theologie eingeführt hat, kann die Kirche eine Neubestimmung der Relation Frau und Amt in Bezug auf den Diakonat vornehmen. Die Opportunität einer solchen Neubestimmung, ja die geschichtliche Dringlichkeit bzw. Notwendigkeit ergeben sich sowohl aus der gesellschaftlichen wie der kirchlichen Lage" (195 f.).
Nachdenkliches zu Liturgie, Ehescheidung und Homosexualität
Mit derselben wissenschaftlichen Sorgfalt werden weitere Aufgaben benannt und Defizite untersucht. Beispielsweise die Forderung flexiblerer, weniger zentralistischer Vorgaben in der Liturgie, nachdem - gegen den Geist des Zweiten Vatikanums - den Bischofskonferenzen das Approbationsrecht für liturgische Bücher entzogen wurde und "kaum noch Spielraum (bleibt) für Weiterentwicklungen auf der Ebene einzelner Kulturen und Länder" (Albert Gerhards). Ebenso der Aufbau einer kirchlichen Rechtskultur, vor allem im Bereich der Verwaltung, wobei die im Jahr 2005 (nur) in Deutschland eingeführten kirchlichen Arbeitsgerichte als gelungenes Beispiel angeführt werden.
Zum Memorandum-Stichwort Gewissensfreiheit und zum Problembereich Ehescheidung und Wiederheirat bemerkt der Moraltheologe Karl-Wilhelm Merks, daß die "Berufung auf die heilige Schrift als Grundlage sowohl der kirchlichen Sexuallehre wie des kirchlichen Eherechts nur dank weitgehender Überdehnung des eigentlichen Sinnes der Texte möglich ist" (270) und daß die Ostkirche das Evangelium weiter auslegt als die lateinische, ohne deswegen die Unauflöslichkeit der Ehe in Frage zu stellen: Sie stelle nur die Zerstörung der ersten Ehe fest und dulde eine zweite. Nicht weniger differenziert stellt sein Münchener Kollege Konrad Hilpert bezüglich gleichgeschlechtlicher Partnerschaften fest, daß sich die offiziellen Texte des Lehramts in den letzten 35 Jahren gewandelt haben und sich bemühen, neue Einsichten zu integrieren, "ohne daß dieser Prozeß schon konsequent an sein Ende gekommen wäre" (280). Er äußert Verständnis für manche lehramtlichen Bedenken, stellt aber auch behutsam Gegenfragen.
Fazit: Beide Sammelbände arbeiten plakativen Vereinfachungen - bei Gegnern wie auch Befürwortern des Memorandums - entgegen. Sie versammeln so viel Sachverstand, daß es für die Teilnehmer des begonnen Dialogprozesses unklug wäre, ihn zu ignorieren3.