Viel zu weit oder viel zu wenig?Beobachtungen zu ersten Reaktionen auf das nachsynodale Schreiben "Amoris laetitia" von Papst Franziskus

Die einen jubeln, die anderen schimpfen: Die Bandbreite der ersten Reaktionen auf das am 8. April von den beiden Kardinälen Lorenzo Baldisseri, Generalsekretär der Bischofssynode, und Christoph Schönborn OP, Erzbischof von Wien, präsentierte nachsynodale Schreiben „Amoris laetitia“ (AL) ging, wie nicht anders zu erwarten, diametral auseinander.

Sie reichte von Zustimmung, Begeisterung, auch Erleichterung bis hin zu Ablehnung, Enttäuschung oder gar Wut und Häme. Die Freiburger Kirchenzeitung setzte treffsicher eine Karikatur von Thomas Plaßmann aufs Titelblatt: „Brückenbauer Schicksal“: „Das geht viel zu weit“ in der einen Sprechblase, „Das ist viel zu wenig“ in der anderen.

Schon einen Tag nach der offiziellen Vorstellung des mit 19. März 2016 unterschriebenen Dokumentes war der Interpretationsrahmen für die Öffentlichkeit weitgehend abgesteckt. Schlagzeilen prägen sich ein. Kommentare sitzen - und liefern meist die Brille, mit der ein Text (oft erst nachträglich) gelesen wird. Direkt oder indirekt ist die Lektüre damit gelenkt, sie muss dann bestehen - vor der Schlagzeile, einer Pointe, einem Eindruck, einem Urteil.

Selbst die Information, wie umfangreich das Schreiben ist, variierte je nach Quelle zwischen 185 und über 300 Seiten. Ob man sich die Fassung auf der Website des Vatikans anschaut oder die Ausgabe der vatikanischen Druckerei (Libreria Editrice Vaticana), macht einen Unterschied aus. Solche Differenzierungen gehen in der Eile des Tagesgeschäfts unter. Dabei sind das noch die kleinsten Widersprüchlichkeiten. (Am unverfänglichsten ist wohl die Angabe, dass das Dokument 325 Abschnitte oder Paragraphen umfasst.) Noch im April soll „Amoris laetitia“ in zwei verschiedenen deutschen Verlagen als kommentiertes Buch vorliegen.

In Erinnerung zu rufen ist zunächst ganz grundsätzlich der Rahmen für das päpstliche Schreiben: Ihm gingen, erstmals in der Geschichte der Kirche, eine weltweite Umfrage voraus und zwei Bischofssynoden im Oktober 2014 und 2015, dazwischen Studientage und Symposien, Publikationen und Bücher - eine ringende, eine streitende und eine lernende Kirche wurde sichtbar und erfahrbar. Kein Wunder, dass Papst Franziskus mehrmals vom „synodalen Weg“ (AL 2, 4, 7, 50, 199) spricht, ein Kurs, auf den er die Kirche eingeschworen hat: „Zugleich machte uns die Vielschichtigkeit der angesprochenen Themen die Notwendigkeit deutlich, einige doktrinelle, moralische, spirituelle und pastorale Fragen unbefangen weiter zu vertiefen.“ (AL 2) Ein Lernprozess, der nach wie vor andauert! Und der auf (innerkirchlichen) Widerstand stößt.

Die Tücken einer rasanten Rezeption

Wieviel Stellungnahmen und Kommentare verkraften durchschnittliche Leser? Wieviel davon verarbeitet man? Welcher Aufwand lohnt? Was muss man gesehen, zur Kenntnis genommen haben, um es dann wieder zu vergessen? Wer wählt aus, wer sortiert, wer steuert, wer lenkt, wer manipuliert? Kann man ein päpstliches Schreiben unvoreingenommen, wohlwollend, aufnehmen, gar willkommen heißen?

Manchmal besteht die Rezeption eines Textes einzig darin zu schauen: Was hat dieser oder jener prominente Journalist, Funktionär kirchlicher Verbände, Theologe oder eine Person des öffentlichen Lebens gesagt? Was der Vorsitzende einer Bischofskonferenz? Was deren Extrempole? Im Fall von „Amoris laetitia“: Wie bewertet Kardinal Walter Kasper das nachsynodale Schreiben? Mit seiner im Auftrag des Papstes in einem außerordentlichen Konsistorium der Kardinäle im Februar 2014 gehaltenen Rede hatte alles begonnen …

Und was sagen die drei Teilnehmer an der Synode im Oktober 2015 aus dem deutschen Episkopat, Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof Heiner Koch und Bischof Franz-Josef Bode dazu? Was der einzige deutschsprachige Berater der Synode, Michael Sievernich SJ?

Einen Blog von Bernd Hagenkord SJ („Radio Vatikan“) anzuschauen lohnt immer. Die Stimme von Heribert Prantl in der SZ hat Gewicht. Die des ebenso eloquenten wie brillant schreibenden Münsteraner Kirchenhistorikers Hubert Wolf ebenso.

Das Lesen des Textes ersetzen Kommentare aber nicht. Auch für päpstliche Schreiben gilt natürlich das Gesetz der Beschleunigung bzw. der Halbwertszeit. Schon in „Evangelii gaudium“ konnte man die nüchterne Einschätzung von Papst Franziskus lesen: „Ich weiß sehr wohl, dass heute die Dokumente nicht dasselbe Interesse wecken wie zu anderen Zeiten und schnell vergessen werden.“ Der gleich darauf folgende Satz machte dann jedoch deutlich, warum es schade wäre, deswegen Texte von vornherein zu relativieren: „Trotzdem betone ich, dass das, was ich hier zu sagen beabsichtige, eine programmatische Bedeutung hat und wichtige Konsequenzen beinhaltet.“ (EG 25)

In „Amoris laetitia“ nun gibt Franziskus eingangs so etwas wie eine Leseanleitung: „Infolge der Reichhaltigkeit dessen, was der synodale Weg in den beiden Jahren der Reflexion einbrachte, spricht dieses Schreiben in unterschiedlicher Darstellungsweise viele und mannigfaltige Themen an. Das erklärt seinen unvermeidlichen Umfang. Darum empfehle ich nicht, es hastig ganz durchzulesen.“ (AL 7)

Und als ob er es geahnt hätte, dass sich die Presse vor allem auf die „heißen Eisen“ (Homosexualität, geschiedene Wiederverheiratete usw.) stürzen und dann ihre Enttäuschung ausdrücken würde, ging er am 16. April, eine Woche nach Veröffentlichung, in einer fliegenden Pressekonferenz auf dem Weg von der griechischen Insel Lesbos nach Rom auf die ersten Reaktionen ein. Gefragt, ob nach „Amoris laetitia“ auch wiederverheiratete Geschiedene zur Kommunion zugelassen seien, meinte er: „Ich könnte schon sagen: Ja. Aber das wäre eine zu kurze Antwort. Wenn Sie die Einführung von Kardinal Schönborn, der ein großer Theologe ist, zu dem Text lesen, dann haben Sie die Antwort“1.

Schönborns Präsentation bei der Pressekonferenz in der Sala Stampa, die streckenweise auch sehr persönlich gehalten war, trotzt den Tücken einer rasanten Rezeption. Ich halte ihn für einen der nützlichsten und wertvollsten Begleittexte. Er muss nicht entschlüsseln, aber er bietet hilfreiche Zusammenfassungen. Das Grundanliegen des Papstes ist (mit einer leichten Nuance) mit dessen eigenen Worten zusammenfasst: „Es geht darum, alle zu integrieren“ (AL 297). Die offizielle deutsche Übersetzung schreibt zwar „eingliedern“ statt „integrieren“, doch ein Vergleich mit anderen Übersetzungen zeigt, dass hier nicht überinterpretiert ist (Si tratta di integrare tutti - Se trata de integrar a todos - Il s’agit d’intégrer tout le monde - It is a matter of reaching out to everyone).

Nüchtern wird eingeräumt: „Um es vorweg zu sagen: kirchliche Dokumente gehören oft nicht zur leserfreundlichsten literarischen Gattung.“ Jedoch ist gleich ergänzt: „Dieses päpstliche Schreiben ist lesbar. Und wer sich von der Länge nicht abschrecken lässt, wird Freude an der Konkretheit und Lebensnähe dieses Textes finden. Papst Franziskus spricht von den Familien in einer Anschaulichkeit, die in Lehrschreiben der Kirche nicht immer zu finden ist.“ 2

Schon dass der österreichische Kardinal „Amoris laetitia“ zusammen mit einem Kurienkardinal - der aber nicht Gerhard Ludwig Müller, sondern Lorenzo Baldisseri hieß - präsentierte, führte zu Spekulationen, ob der Papst hier indirekt einen Nachfolger fürs nächste Konklave präsentiert. Dass dieser dann bei der fliegenden Pressekonferenz am 16. April auch noch die theologischen Qualitäten Schönborns hervorhob, ähnlich wie er in anderen Zusammenhängen wiederholt Kardinal Kasper lobte, wurde aufmerksam registriert.

Beobachtungen zum Text

Wie wäre es, den Text einfach in Ruhe zu lesen? Das dauert, wenn man ihn nicht lediglich mit Suchfunktionen sehr selektiv, sehr oberflächlich, sehr schnell überfliegen will: Nebenbei-Lektüre mit Siebenmeilenstiefeln. Ähnlich wie bei „Evangelii gaudium“ (November 2013) habe ich diesmal wieder vier bis fünf Stunden gebraucht, in drei Durchgängen. Schneller ging es nicht bei mir. Gott sei Dank hat mich vorher niemand um einen Kommentar oder eine Stellungnahme gebeten. Aber auch eine einmalige Lektüre reicht nicht aus, um ein Dokument in seiner Gänze zu erfassen. Lesen und wirken lassen sind noch einmal zwei verschiedene Vorgänge. Profundes Studium braucht einfach seine Zeit. Was bedeutet diesbezüglich Nachhaltigkeit? Für eine geistliche Lektüre, die nicht sofort nach einem Kommentar schielt?

Was diesmal ins Auge sticht und was mir auffiel: Wiederholt ist, wie schon erwähnt, vom „synodalen Weg“ die Rede. Der Papst gibt zu verstehen, dass er die Berichte und Texte der beiden Bischofssynoden vom Oktober 2014 und 2015 („Relatio Sinodi“, „Relatio finalis“) aufmerksam studiert hat. Er kommt immer wieder darauf zu sprechen, wohl auch um deutlich zu machen, dass es ihm nicht darum geht, nur seine eigenen Ansichten darzustellen, sondern eine Grundstimmung der Synodenväter aufzunehmen.

Diese waren, bedingt durch verschiedene kulturelle Zugänge und Einstellungen, gesellschaftliche Erfahrungen und Mentalitäten, kontrastreich und sehr verschieden3: „Die Gesamtheit der Wortmeldungen der Synodenväter, die ich mit ständiger Aufmerksamkeit angehört habe, ist mir wie ein kostbares, aus vielen berechtigten Besorgnissen und ehrlichen, aufrichtigen Fragen zusammengesetztes Polyeder erschienen. Deshalb habe ich es für angemessen gehalten, ein nachsynodales Apostolisches Schreiben zu verfassen, das Beiträge der beiden jüngsten Synoden über die Familie sammelt, und weitere Erwägungen hinzuzufügen, die die Überlegung, den Dialog oder die pastorale Praxis orientieren können und zugleich den Familien in ihrem Einsatz und ihren Schwierigkeiten Ermutigung und Anregung bieten.“ (AL 4)

Dass Vorgänger-Päpste zitiert sind - nicht um künstlich Kontinuität herzustellen oder aus Höflichkeitsgründen, versteht sich von selbst. Keiner ist so oft zitiert wie Johannes Paul II., ausführlichst mit „Familiaris consortio“ (1981), außerdem mit Bezugnahmen auf „Dives in misericordia“ (1980), „Christifideles laici“ (1988), „Mulieris dignitatem“ (1988) „Redemptoris missio“ (1990), „Evangelium vitae“ (1995) oder „Vita consecrata“ (1996) oder Äußerungen in Generalaudienzen - ein wahrer Fundus des heiliggesprochenen Papstes.

Auch Papst Benedikt XVI. („Deus caritas est“), Paul VI. („Humanae vitae“), Pius XII. („Mystici Corporis Christi“) und Pius XI. („Casti connubii“) werden zitiert. Interessant und lohnend ist es, genau hinzuschauen: Was zitiert er davon, was lässt er weg - man vergleiche etwa AL 84! Das Zweite Vatikanische Konzil natürlich, besonders „Gaudium et spes“, und der Katechismus der Katholischen Kirche, der Codex des Kanonischen Rechts, Erklärungen der Glaubenskongregation und Dokumente verschiedener Päpstlicher Räte oder Akademien. Theologische Klassiker wie Leo der Große, Petrus Lombardus oder Thomas von Aquin, spirituelle Meister wie Ignatius von Loyola oder Thérèse von Lisieux, moderne Autoren wie Antonine-Gilbert Sertillanges OP, Josef Pieper, Gabriel Marcel oder Martin Luther King.

Ohne ihn namentlich zu nennen, ist der Terminus „vaterlose Gesellschaft“ (AL 176) von Alexander Mitscherlich erwähnt, Erich Fromms Bestseller „Die Kunst des Liebens“ (AL 284) ebenso. Aber auch zeitgenössische Schriftsteller wie Jorge Luis Borges und Octavio Paz oder der dänische Film „Babettes Fest“ (AL 129), den Papst Franziskus vor Jahren bereits im Gespräch mit den beiden argentinischen Journalisten Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti genannt hatte, kommen zur Sprache - neben eigenen Texten wie den Enzykliken „Lumen fidei“ (2013) und „Laudato si’“ (2015), dem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ (2013), der Verkündigungsbulle „Vultus misericordiae“ (2015) oder diversen Ansprachen.

Mehrmals sind nationale Bischofskonferenzen (Spanien, Korea, Argentinien, Mexiko, Kolumbien, Chile, Australien, Kenia) zitiert - de facto sind alle Kontinente vertreten. Auch das bedeutet: Es zählt nicht nur „Rom“ oder der Papst, ich nehme zur Kenntnis und schätze, was anderswo gedacht und erarbeitet wurde und erwähne das auch. Die einleitende Bemerkung des Papstes macht diese Methode verständlich: „Indem ich daran erinnere, dass die Zeit mehr wert ist als der Raum, möchte ich erneut darauf hinweisen, dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen. Selbstverständlich ist in der Kirche eine Einheit der Lehre und der Praxis notwendig; das ist aber kein Hindernis dafür, dass verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen.“ (AL 3)

Bedenkt man die Bitte am Beginn des Dokumentes, den Text nicht „hastig ganz durchzulesen“, kann man sich für eine zweite oder dritte Lektüre auch einzelne Kapitel vornehmen. Neun sind es insgesamt. In AL 6 ist der Aufbau erklärt. Auch Kardinal Schönborn strukturiert in seiner Vorstellung den Text und weist auf zentrale Passagen hin.

Leitwort „Integration“: unterscheiden und begleiten

Seine Einschätzung ist diese: „Es ist Papst Franziskus gelungen, wirklich alle Situationen anzusprechen, ohne katalogisieren, ohne kategorisieren, mit jenem Blick eines fundamentalen Wohlwollens, der etwas mit dem Herzen Gottes, mit den Augen Jesu zu tun hat, die niemanden ausschließen (vgl. AL 291), alles annimmt und allen die ,Freude des Evangeliums‘ zuspricht. Deshalb ist die Lektüre von Amoris Laetitia so wohltuend. Keiner muss sich verurteilt, keiner verachtet fühlen. In diesem Klima des Angenommenseins wird die Rede von der christlichen Sicht von Ehe und Familie zur Einladung, zur Ermutigung, zur Freude über die Liebe, an die wir glauben dürfen und die niemanden, wirklich und ehrlich niemand ausschließt.“ 4

Der Ton macht die Musik! Das gilt auch für ein päpstliches Schreiben. Auf Schönborn wirkt es zunächst als „Sprachereignis“: „Etwas im kirchlichen Diskurs hat sich gewandelt. Dieser Wandel der Sprache war schon während des Synodalen Weges spürbar. Zwischen den beiden Synodensitzungen von Oktober 2014 und Oktober 2015 ist deutlich erkennbar, wie der Ton wertschätzender geworden ist, wie die verschiedenen Lebenssituationen einfach einmal angenommen werden, ohne sie gleich zu be- oder verurteilen. In AL ist dies zum durchgehenden Sprachstil geworden. Dahinter steht freilich nicht nur eine linguistische Option, sondern eine tiefe Ehrfurcht vor jedem Menschen, der nie zuerst ein ,Problemfall‘ in einer ,Kategorie‘ ist, sondern eine unverwechselbare Person mit ihrer Geschichte und ihrem Weg mit und zu Gott.“

Von dieser Grundhaltung her sieht der Kardinal das Dokument geprägt von zwei „Schlüsselworten“, nämlich unterscheiden und begleiten. Dass das keine Finte ist, sondern tief mit der pastoralen Grundhaltung von Papst Franziskus zusammenhängt, wird jeder nachvollziehen können, der seinen Dienst der Verkündigung aufmerksam verfolgt. Es geht nicht um eine Charme-Offensive oder um Rhetorik, austauschbare Floskeln oder leere Phrasen. Ausgangspunkt ist der Respekt für jeden Menschen, unabhängig davon, wie er mit der Lehre der Kirche zurechtkommt.

Wenn Amtsträger in der Kirche nicht vergessen, was konkrete Realität, auch im eigenen Leben und in der eigenen Familiengeschichte sein kann, kommt „Barmherzigkeit“ nicht nur als pastorale Methode zur Anwendung oder wird gar „gewährt“, sondern sie wird zu einem grundsätzlichen Zugang zum verwundeten Menschen, der sich von der Kirche Hilfe erhofft.

Sehr persönlich erinnert Kardinal Schönborn daran: „Ich erlaube mir, hier eine Erfahrung der Synode vom vergangenen Oktober zu erzählen: So weit ich weiß, haben zwei der dreizehn ,Circuli minores‘ ihre Arbeit damit begonnen, dass alle Teilnehmer zuerst einmal erzählt haben, wie ihre eigene Familiensituation ist. Dabei zeigte sich schnell, dass fast alle der Bischöfe oder der anderen Teilnehmer des ,Circulus minor‘ in ihrer eigenen Familie mit den Themen, Sorgen und ,Irregularitäten‘ konfrontiert sind, von denen wir in der Synode meist viel zu abstrakt gesprochen haben. Papst Franziskus lädt uns alle ein, über unsere Familien zu sprechen, ,so, wie sie sind‘. Und nun das Großartige des Synodalen Weges und dessen Weiterführung durch Papst Franziskus: Weit davon entfernt, dass dieser nüchterne Realismus über die Familien ,so, wie sie sind‘, uns vom Ideal wegführt! Im Gegenteil: Papst Franziskus schafft es, zusammen mit den Arbeiten der beiden Synoden, einen zutiefst hoffnungsvollen, positiven Blick auf die Familie zu werfen.“ 5

Vom Öffnen von Türen, vom Aufrichten, von Nähe und Zärtlichkeit spricht der Papst andauernd. Abgrenzungen und Ausgrenzungen, auch im Namen der Lehre, werden als „kalte Schreibtisch-Moral“ (AL 312) qualifiziert, die den konkreten Menschen aus dem Blick verliert und stur an Prinzipien festhält, die unbarmherzig, rigoros, abstrakt verteidigt werden im Namen der „unveränderlichen Lehre“: „Daher darf ein Hirte sich nicht damit zufrieden geben, gegenüber denen, die in ,irregulären‘ Situationen leben, nur moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft. Das ist der Fall der verschlossenen Herzen, die sich sogar hinter der Lehre der Kirche zu verstecken pflegen, ,um sich auf den Stuhl des Mose zu setzen und - manchmal von oben herab und mit Oberflächlichkeit - über die schwierigen Fälle und die verletzten Familien zu richten‘.“ Hier zitiert der Papst seine Schlussansprache vom Oktober 2015. Selbstgerechtigkeit produziert Härte, Sklerose des Herzens.

Dass es auf den einzelnen Menschen ankommt, dass die „Unterscheidung der sogenannten ,irregulären‘ Situationen“ (AL 296-300) nottut, ist für den Papst evident (Man beachte: Es ist durchgehend von sogenannten „irregulären“ Situationen die Rede, die immer unter Anführungszeichen gesetzt sind!). Was Wunder, dass ein Papst, den die ignatianische Spiritualität prägt, auf das Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola verweist (vgl. AL 94, 207). Soll er so tun, als spielten Spiritualität und Theologie seines Ordens keine Rolle für seine Art und Weise, sein Amt zu führen und zu gestalten?

Kapitel 8 „Die Zerbrechlichkeit begleiten, unterscheiden und eingliedern“ (AL 291-312) macht deutlich, dass es nicht um billige Lösungen oder pastorale Schlupflöcher und Notlösungen geht. Dass hier, übrigens mit Bezugnahme auf „Familiaris consortio“ (!), das „Prinzip der Gradualität“ (AL 293-295) ausführlich behandelt wird, ist ein erfreulicher Umstand. Nicht nur, dass „Geduld und Feingefühl“ (AL 294) im seelsorgerlichen Umgang eine Rolle spielen sollen, ist von Bedeutung, sondern dass erkannt wird, dass es nicht um eine „Gradualität des Gesetzes“ geht, sondern um „eine Gradualität in der angemessenen Ausübung freier Handlungen von Menschen, die nicht in der Lage sind, die objektiven Anforderungen des Gesetzes zu verstehen, zu schätzen oder ganz zu erfüllen“ (AL 295). Hier wird theologisch weitergearbeitet werden müssen.

Die „öffentliche Meinung“ steht schnell fest

Die eigene Lektüre kann Einschätzungen von außen nicht übergehen. Die sind, noch dazu oft aus demselben Bereich, oft konträr. Während der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff zum Beispiel eine Bestätigung der Freiburger Seelsorge-Leitlinien für den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen und eine späte Rehabilitierung des seinerzeitigen Papiers der damaligen oberrheinischen Bischöfe Oskar Saier (†), Walter Kasper und Karl Lehmann sieht, befindet sein Dogmatik-Kollege Helmut Hoping von derselben Fakultät im Interview mit dem Kölner Domradio: „Die Ausführungen des Pontifex sind aber sehr ambivalent und werden daher auch ganz unterschiedlich interpretiert. Vielleicht ist das ja beabsichtigt - eine Art jesuitischer Dialektik. Ich halte dieses Vorgehen für nicht seriös.“

Während ein Kardinal Kasper, der ebenso wie der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz vor zu hohen Erwartungen gewarnt hatte, das päpstliche Schreiben und die damit verbundenen Möglichkeiten begrüßt und „Öffnungen“ registriert, kritisiert der 87-jährige deutsche Kurienkardinal Walter Brandmüller das Einzelfallprinzip des Papstes. Ein US-amerikanischer Kardinal spekuliert, ab welchem Zeitpunkt ein Papst „häretisch“ sei. Ein afrikanischer Purpurträger wiederholt gebetsmühlenartig, die Lehre der Kirche sei unveränderlich.

Die „Süddeutsche Zeitung“ (9./10. 4. 2016) titelte am Tag nach der Veröffentlichung von „Amoris laetitia“ auf Seite 1: „Der Papst, die Liebe und der Sex“. Untertitel: „Der Papst beharrt in seinem Schreiben ,Freude der Liebe‘ auf den Regeln der Kirche zu Ehe und Familie. Aber er will mehr Verständnis für die Menschen, die in Moralfragen von der reinen Lehre abweichen“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (9. 4. 2016) auf Seite 3: „Liebe mit Lust und Leidenschaft“. Zwar könne das Schreiben als „ein Loblied auf die Liebe in der Ehe“ gelesen werden, aber: „Keine Neuerung gibt es beim Blick auf Homosexuelle.“

Heribert Prantls Kommentar in der SZ fokussierte sich auf einen einzigen Punkt: „Die Liebe, die der Papst predigt, könnte viele Formen haben - auch diejenige, homosexuelle Partner zu achten und ihre Partnerschaft in Ehren zu halten. Hier verweigert sich der Papst in verletzender Weise. Er redet von Liebe, verweigert sie aber den schwulen und lesbischen Paaren; er stößt diese Paare in die Sünde. Er reduziert Liebe auf heterosexuelle Liebe. Gibt es Verantwortung nur dort? … Er anerkennt nicht das Füreinander-Einstehen in solchen Partnerschaften. Das ist bitter, unbarmherzig, ohne Liebe.“ 6

Hubert Wolf hingegen nennt AL „revolutionär“ und sieht darin von Papst Franziskus „einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der päpstlichen Lehrverkündigung vollzogen, der nicht nur für den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen gilt. An der Doktrin als solcher änderte er nichts, aber bei ihrer Anwendung auf der Ebene der Disziplin und des seelsorgerlichen Handelns fordert Franziskus dezidiert zu neuen Wegen auf, von denen manche bis vor Kurzem noch mit dem Odium der Unkirchlichkeit behaftet gewesen wären.“ 7

Welchen Reim macht sich eine kritisch distanzierte Öffentlichkeit von der Vielfalt solcher Stimmen, von denen ich nur einen sehr kleinen Bruchteil wiedergegeben habe8? Egal was der Papst sagt oder schreibt oder tut: Es wird so oder so aufgenommen. Ganz unterschiedlich. Oft völlig konträr. Schon im Vorfeld der Veröffentlichung wurde ja spekuliert, wie weit der Papst in dem einen oder anderen Punkt von der bisherigen Lehrtradition abweichen würde, ob er, wenn alles beim Alten bliebe, seine Autorität verlöre. Manche sagen jetzt: Ja, das hat er. Andere behaupten das Gegenteil. Professor Dr. Elisabeth Müller macht sich genauso ihren Reim darauf wie Lieschen Müller.

Ein Bekenntnis

Der Papst macht keine Klientelpolitik. Damit enttäuscht er diejenigen, die nur ihre eigenen Anliegen in diesem Dokument suchen. Es geht ihm zunächst um die klassische Familie: Vater, Mutter, Kind(er), der das besondere Augenmerk der Kirche gilt.

Papst Franziskus hat den Menschen im Blick, vor allem den verwundeten Menschen, besonders den scheiternden Einzelnen. Bloße Kasuistik, die immer Recht behält, ist ihm zuwider. Genauso wie Verbotsmoral. Natürlich kann man zählen, wie oft in AL „Familiaris consortio“ oder „Humanae vitae“ zitiert werden und warum. Muss er sich in eine Lehrtradition stellen, indem er Vorgänger zitiert? Was denn sonst! Der Papst kann die Kirche nicht neu erfinden oder alles Bisherige auf den Kopf stellen. Aber ich stimme Kardinal Kasper zu: „Der Papst ändert keine einzige Lehre und doch ändert er alles.“ 9

Denn wie Franziskus auf Tradition zurückgreift und in welchen Zusammenhängen, wie er deutlich macht, dass Kirche nicht dadurch gewinnt, dass sie sich selber zitiert und nur wiederholt, was sie schon einmal gesagt hat, das ist neu - und lässt Sehende und Erkennende durchaus zu Recht von einem Paradigmenwechsel sprechen. Ich glaube, dass hier der Weg zu neuen Entwicklungen eröffnet ist. Die Debatte, ob dieser Papst ein Reformer ist oder ein Reformator, ist reichlich akademisch. Mit Widerstand musste und muss der Pontifex „vom anderen Ende der Welt“ rechnen, erst recht in einem so verkrusteten System wie der Römischen Kurie.

„Amoris laetitia“ ist für mich - ebenso wie etwa „Evangelii gaudium“ oder „Misericordiae vultus“ - ein prophetisches Schreiben, auch geistliche Lektüre, die mich aufbaut. Wie schon in „Evangelii gaudium“ bringt er auch in AL ganz praktische Vorschläge für das Leben, etwa wenn er jungen Ehepaaren empfiehlt: „Es ist gut, den Morgen immer mit einem Kuss zu beginnen und jeden Abend einander zu segnen“(AL 226) - der Bischof von Rom als Seelsorger.

Wer sich auf die Seite des Papstes und hinter seine Texte stellt, wird manchmal belächelt oder verdächtigt. Man riskiert Sympathien. Mit Blick auf den bevorstehenden 80. Geburtstag von Jorge Mario Bergoglio SJ / Papst Franziskus denken manche vielleicht: Das sitzen wir aus, vielleicht tritt er zurück, vielleicht stirbt er bald … Dieser Papst hat die Kirche längst jesuanischer gemacht, auf den Kurs des Evangeliums zurückgeführt - ohne sich damit aggressiv von anderen abzusetzen, die einen anderen Stil bevorzugten und praktizierten. Viele sagen immer noch: Was hat der Papst in drei Jahren wirklich zustande gebracht? Ich bewundere, täglich mehr, seinen Mut. Seine Entschlossenheit. Und seine Gelassenheit. So spricht, so denkt, so handelt ein freier Mensch. Er tut der Kirche gut. Er tut mir gut.

Die Frage ist nicht, ob er zu weit geht oder zu wenig weit. Sondern ob er danach fragt, wohin Gott in dieser Zeit die Kirche führen will. Sein Tun zeigt: Gott will, dass kirchliches Handeln „das Antlitz der Barmherzigkeit“ aufzeigt, darauf hinweist - vor allem anderen. Wie sonst hätte Papst Franziskus die Insel Lesbos mit zwölf syrischen Flüchtlingen im Airbus verlassen können, die keine Christen, sondern Muslime sind - auch sie: Kinder Gottes.

Apropos: In unserer Juni-Ausgabe wird der Berliner Erzbischof Heiner Koch, Vorsitzender der Kommission für Ehe und Familie in der Deutschen Bischofskonferenz, das neue Papst-Schreiben analysieren.

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