Man darf es nicht vergessen und kann es ihm nicht hoch genug anrechnen: Dank der Einsicht eines fast 86-jährigen Bayern, der die Kirche seit April 2005 geleitet hatte, wurde die Wahl des ersten lateinamerikanischen Papstes und des ersten Jesuiten in der Geschichte der Kirche überhaupt erst möglich. Zur Überraschung von Kirche und Welt hatte Papst Benedikt XVI. am Rosenmontag 2013 seinen Rücktritt angekündigt, der mit Ende Februar wirksam werden sollte: "Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben".
Der bewegende Abschied aus dem Vatikan am 28. Februar, als kurz nach 17 Uhr der Helikopter in den Vatikanischen Gärten abhob, eine Schleife drehte und am Petersdom vorbei über das Kolosseum nach Castel Gandolfo flog, besiegelte die zwei Wochen zuvor mitgeteilte Entscheidung. Ein epochaler Moment. Und das Ende einer Ära. Um 20 Uhr war die Welt ohne Papst: Beginn der Sedisvakanz.
Am 12. März begann das Konklave, dem Beratungen des Kardinalskollegiums vorausgegangen waren. Nach fünf Wahlgängen stand das Ergebnis tags darauf kurz nach 19 Uhr fest. Für einige Minuten wurde eine Möwe auf dem Schornstein der Sixtina, der weißen Rauch anzeigte, zum Mittelpunkt. Es dauerte noch mehr als eine Stunde, bis der Mann "vom anderen Ende der Welt", wie er sich selbst bezeichnete, auf der Benediktionsloggia des Petersdoms erschien. Seine Herkunft, seine Ordenszugehörigkeit wie auch der erstmals gewählte Name Franziskus - lauter Überraschungen.
Der argentinische Jesuit Jorge Mario Bergoglio SJ, der sich Papst Franziskus nannte, hat frischen Wind in die Kirche gebracht, eine neue Dynamik - das ist unübersehbar. Und er hat der Kirche Reformen verordnet auf allen Ebenen, sein eigenes Amt nicht ausgenommen. Es ist ein anderer Stil, ein anderer Ton. Der Papst ist ein Kommunikationsgenie. Er macht Mut, wo er nur kann. Und er ergreift permanent Partei, vor allem für Arme und Ausgegrenzte. Und er macht seinem Namen Franziskus alle Ehre. Der Name ist Programm.
Beinahe stereotyp fordert er zu mehr Barmherzigkeit auf. Das ist die Kennmelodie dieses Pontifikats geworden. Und Barmherzigkeit ist etwas anderes als "Gutmenschentum", auch das hat Franziskus klargestellt. Erst neulich erinnerte er den Klerus von Rom daran, dass das Heilen von Wunden vorrangig ist. Priester, die "aseptisch" seien, wie "frisch aus dem Labor" kommend, könnten diese Botschaft der Kirche nicht glaubwürdig vermitteln. Nähe ist das Gütesiegel einer Seelsorge, die den Menschen im Blick hat und nicht zuerst das Kirchenrecht.
Und der Papst macht es selbst vor. Die künstliche Aura der Unnahbarkeit ist weg. Der Papst ist berührbar, und er lässt sich berühren. Er gibt Interviews. Er greift offenbar selber zum Telefon. Ich bewundere seine Spontaneität und Direktheit. Ein 78-Jähriger, der so ein Tempo vorlegt! Die Jugendlichen in Rio auf dem Weltjugendtag waren begeistert. Man nimmt ihm ab, was er sagt, weil es echt ist: einfache und eingängige Bilder, nicht eine abstrakte theologische Sprache, die nur Insider verstehen.
Der Papst wirbt für eine missionarische Kirche, die sich an die Ränder, an die Peripherien des Lebens, wagt. Das heißt ganz konkret: Kontakt mit Armen auf der Straße. Er hat Gescheiterte im Blick, er redet mit Andersdenkenden, Andersgläubigen oder Atheisten. Die schreibt er nicht einfach ab. Er hat Respekt vor ihnen. Er möchte mit allen ins Gespräch kommen, nicht nur mit den Frommen. Und Klerikalismus geht ihm offenbar gewaltig auf die Nerven. Das kratzt natürlich am Ego kirchlicher Apparatschiks, die sich für etwas Besseres halten und päpstlicher als der Papst sein wollen.
Die "Stimmen der Zeit" bekommen viele Artikel angeboten, in denen einzelne Aussagen des Papstes kommentiert, analysiert und ausgewertet werden. Das heißt: Man beschäftigt sich wieder mit dem, was ein Papst sagt. Eben weil er nicht nur Theologen anspricht.
Es herrscht - der Eindruck drängt sich auf - im Moment weniger Angst in der Kirche, kritische Fragen und sogenannte heiße Eisen anzusprechen. Der Papst lädt ja selber dazu ein. Das Establishment im Vatikan, aber nicht nur dort, scheint sich damit schwerer zu tun als die Menschen, die den Petersplatz füllen oder die Texte des Papstes lesen.
Themen wie die pastoral drängende Frage des Umgangs mit geschiedenen Wiederverheirateten lassen sich nicht einfach par ordre de Mufti verbieten. Das hat der Präfekt der Glaubenskongregation versucht. Kardinal Reinhard Marx, der Münchener Erzbischof, hat ihm öffentlich widersprochen und eine bessere Debatten- und Streitkultur in der Kirche gefordert. Das ist ein enormer Forschritt. Was den Menschen unter den Nägeln brennt, lässt sich nicht mehr einfach durch Maulkorberlasse unterbinden. Darin liegt auch eine Chance für die kirchliche Publizistik.
Was ist das Geheimnis des "Erfolgs" des neuen Papstes? Warum ist es zu einem Franziskus-Hype gekommen? Er hat den Zölibat nicht aufgehoben und die kirchliche Sexualmoral nicht umgeschrieben. Er macht nicht große Politik wie Johannes Paul II., er entwirft auch keine philosophisch-theologischen Lehrstücke wie Benedikt XVI. Und doch kann dieser Papst anscheinend nichts falsch machen. Woran liegt das?
Er ist einfach authentisch. Er bedient nicht eine bestimmte Rolle. Aber er ist auch kein Übermensch oder ein Popstar. Dass ihn Time Magazine zur "Person of the Year" ernannt hat, kratzt ihn vermutlich wenig. Auch nicht, dass er nach dem Wirtschaftsmagazin Forbes der viertmächtigste Mensch der Welt sein soll. Innerkirchlich kann man beschwichtigend hören: Er sei Reformer, kein Reformator oder Revolutionär.
Trotzdem: Man sollte den Papst nicht unterschätzen. Manche tun das, auch in der Kirche, indem sie ihn mit despektierlich als "Pfarrer der Welt" bezeichnen und damit abwerten wollen. Theologisch habe er nicht viel zu bieten. Der geschwätzige Präfekt des Päpstlichen Hauses, der nach wie vor Privatsekretär des emeritierten Papstes ist, hat in Interviews gemeint, Franziskus müsse ja erst noch zeigen, was er theologisch draufhat. Der "Obama-Effekt" könne umschlagen. So ein Unsinn. Erzbischof Gänswein tut sich offensichtlich schwer mit dem neuen Stil, aber auch mit den Inhalten. Und die gibt es. "Lumen fidei", die erste Enzyklika vom Juli 2013, war noch "mit vier Händen geschrieben", weil Franziskus große Teile von seinem Vorgänger übernommen hat. Aber "Evangelii gaudium", das Apostolische Schreiben vom November 2013, trägt deutlich seine Handschrift. Das ist sein Regierungsprogramm.
Es geht nicht nur um neue Kleider und um bescheidenes Auftreten. Es geht um Veränderung, Schritt für Schritt. Papst Franziskus mischt auch in der internationalen Politik mit. Er nutzt die Autorität seines Amtes aus. Was er auf seiner ersten Reise außerhalb des Vatikans im Juli 2013 auf Lampedusa zum europäischen Flüchtlingsdrama gesagt hat, war ein klares Signal an die EU: Globalisierung der Gleichgültigkeit. Er hat auch im Syrien-Konflikt interveniert. Er hat Putin geschrieben. Er hat für Frieden in der Ukraine gebetet. Er kennt die Brennpunkte der Welt, und er kümmert sich dabei keineswegs nur um katholische Anliegen.
Mehr als einmal hat der neue Papst die Kurie irritiert. Er forderte die päpstlichen Richter in Ehestandsangelegenheiten zur Barmherzigkeit auf. Der oberste Glaubenshüter des Vatikans, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, ging mehr als einmal auf Distanz, wehrt sich aber gegen das Image, er sei der Antipode des Papstes. Ob dieser Papst die in Jahrhunderten so festgefügte Welt des Vatikans nachhaltig erschüttert, wird sich erst zeigen müssen. Natürlich gibt es Widerstand seitens des Establishments. Aber der Papst geht souverän damit um. Er verliert sich nicht in innerkirchlichen Grabenkämpfen. Er weiß natürlich, dass sich die Dinge nicht von heute auf morgen ändern lassen. Apparate wie die Römische Kurie haben etwas Beharrendes an sich. Ihn machen sie krank. Deswegen wohnt er ja auch nicht im Apostolischen Palast. Franziskus braucht die Nähe von Menschen, und wenn er beim Frühstück aufsteht und sich einen Joghurt holt, kommt er eben neben einem anderen Bewohner zu stehen, der an der Theke auch etwas holt. Das ist so banal, dass es für manche schon wieder sensationell ist.
Schon einen Monat nach seiner Wahl hat der Papst eine internationale Gruppe von acht Kardinälen installiert ("K8"). Die haben mehrmals getagt. Sie machen Vorschläge für eine Kurienreform. Das läuft alles auf eine Dezentralisierung hinaus. Die Ortskirchen sollen mehr Gewicht bekommen. Franziskus wendet schlicht und ergreifend das gut katholische Subsidiaritätsprinzip an: Was vor Ort entschieden werden kann, soll vor Ort entschieden werden, nicht von einer römischen Zentrale aus, wo oft Prälaten und Monsignori sitzen, die keine Ahnung von den echten Problemen der Menschen haben. Dass das auf internen Widerstand stößt ist klar. Da geht es auch um Verteilungskämpfe, um Macht, um all das, was den Papst abstößt. Klerikalismus und Karrierismus hat er wiederholt angeprangert.
Die Finanzen des Vatikans unterstehen jetzt einer neuen Kontrolle. Erst kürzlich hat der Papst auch ein eigenes Finanzministerium gegründet, das Kardinal George Pell aus Syndey leiten soll. Das sind alles echte Reformschritte. Franziskus lädt zur Beteiligung ein und versucht, auch Kritiker und Bremser ins Boot zu holen. Er braucht natürlich Verbündete.
Der Papst betreibt keine Spielchen. Er möchte wissen, wie die Menschen ticken, was sie denken und wie sie leben. Es hat ja keinen Sinn, auf die Lehre zu pochen, obwohl man weiß, dass da eine riesige Kluft zwischen Leben und Lehre besteht. Franziskus lässt sich nicht abschirmen von der Realität. Er nimmt sie zur Kenntnis, das hat er als Jesuit gut gelernt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er geschönte Dossiers nicht durchschaut. Er hat seine Kanäle, um an Informationen zu kommen. Er hat Kontakte von früher nicht aufgegeben. Er twittert ja auch.
Im Konsistorium Ende Februar durfte Kurienkardinal Walter Kasper zum Thema Familie völlig offen reden. Wenn der Papst erfährt, dass zehn von zehn spontan Befragten im Bistum Mainz meinen, "Humanae vitae", die sogenannte Pillenenzyklika Pauls VI., sei eine vitalisierende Körperlotion, dann weiß er: Die kirchliche Sexualmoral hat überhaupt keine reale Bedeutung mehr. Nicht weil die Kirche nichts zu sagen hätte. Sondern weil die Menschen eine Kasuistik satt haben, die nur verbietet und nichts positiv zu begründen versteht. Hier sind wir einfach an einem toten Punkt angelangt, schon seit Jahren, und der Papst macht sich da nichts vor. Er will ja auch nicht ständig von Sex reden, sondern auf das Befreiende des Christentums hinweisen. Er erinnert dafür an die "Hierarchie der Wahrheiten": Nicht alles ist gleich wichtig in der kirchlichen Lehre.
Die Außerordentliche Bischofssynode im Herbst ist eine wichtige Vorbereitung für die Bischofssynode im Jahr 2015. Ich glaube, dass jetzt auch Bischöfe sich ermutigt sehen können, Dinge direkter und viel konkreter anzusprechen, als sie das bisher gewohnt waren oder sich trauten. Das kann der Kirche nicht schaden, allenfalls einem Bild von Kirche als der reinen und makellosen Institution, die sie ja nicht ist. Dieser Papst ist kein weltfremder Illusionär.
Der Papst öffnet Türen. Das ist nicht wenig. Er ist unkonventionell und überrascht immer wieder mit Gesten und Aktionen. Er hat die Gärten in Castel Gandolfo für die Öffentlichkeit geöffnet, zu denen bisher exklusiv der Papst Zugang hatte. Dass er mit engen Kurienmitarbeitern, darunter Bischöfe und Kardinäle, im Bus nach Aricca in den Albaner Bergen gefahren ist, um dort Fastenexerzitien zu machen, war wieder so eine Überraschung: Er verlässt den Vatikan, und ein römischer Pfarrer, nicht ein Spitzentheologe, hielt dabei die Vorträge. All das sind kleine Zeichen - aber sie wirken.
Papst Franziskus lässt sich nicht vor den einen oder anderen Reformkarren spannen. Er "liefert" ständig. Man muss nur hinschauen. Wir haben es mit einem geistlichen Menschen zu tun, der manche Probleme ganz pragmatisch angeht und anspricht, nicht mit einem taktierenden Politiker oder einem schöngeistigen Theologen. Dass der Papst nach Träumen und Visionen von Kirche fragt und auch selber davon erzählt, stimmt mich optimistisch. Da wird noch viel kommen, was aufrüttelt. Darf man stolz sein auf diesen Papst? Ich bin's.