Es gibt derzeit wohl kaum einen Autor, schon gar nicht innerhalb Europas, der Romane mit solcher überbordender Phantasie, solch überraschenden und zugleich überzeugenden Einfällen, mit solcher Freude am farbigen Fabulieren und zugleich solch präziser, niemals sich auflösender Erzählhaltung schreibt wie der portugiesische Autor José Saramago, der 1998 endlich den Nobelpreis für Literatur erhalten hat - und der doch in Deutschland unverdientermaßen weithin ungelesen blieb.
Der Durchbruch gelang Saramago mit dem Roman "Hoffnung im Alentejo" (1980), einer Familienchronik über mehrere Generationen aus der kargen portugiesischen Provinz, beginnend mit dem Landarbeiter Mau-Tempo, der von einem Dorf ins andere zieht, dem Alkohol verfällt, Frau und Kinder schlägt und sich schließlich erhängt. Die gesamte Familienchronik bietet allerdings nur das Gerüst, um das sich vielfältige Episoden mit Querverweisen ranken. Dabei treten die Figuren selbst als Geschichtenerzähler zwischen Wahrheit und Lüge in Erscheinung, so daß im Roman die historische Authentizität in Frage gestellt wird. Das Buch gilt als das Epos der portugiesischen Landarbeiter, sicher ein sozialer Roman mit deutlich politischer Botschaft, aber die barocke Beschreibungskunst, das häufig ironische Gegenüber der Argumente und vor allem die Mischung von traditionellen und modernen Sprachelementen sprengen bei weitem die Doktrin eines sozialistischen Realismus. Dabei läßt Saramago jedoch schon hier keinen Zweifel daran, daß er auf der Seite derer steht, die Geschichte erleiden und nicht zu denen hält, die Geschichte machen.
Saramago schreibt keine realistischen, keine historischen Romane, er entwickelt vielmehr verschiedene Versionen geschichtlicher Ereignisse. In diesem Roman erscheint zum ersten Mal das, was man den Stil Saramagos nennen könnte: eine eigene, komplexe, doch für den Leser nicht komplizierte Erzählstruktur, in die traditionelle ländliche Formen der mündlichen Weitergabe von Erzählenswertem eingeflossen sind. Das wuchernde, durch keine Ordnung gehemmte, mündliche Erzählen befreit dabei ebenso wie das Träumen für Augenblicke von existentiellen Ängsten. Populäre Redensarten, Sprichwörter oder naive Bibelauslegung unterhöhlen Parolen von Staat und Kirche und lassen zugleich neue Mythisierungen entstehen.
Vom Bau eines Klosters und dem Wunsch zu fliegen
In seinem wohl bekanntesten Roman "Das Memorial"1 (1982) erzählt Saramago die Geschichte des Franziskanerklosters von Mafra: "Wenn der König verspricht, einen Konvent zu bauen, wird Gott ihm einen Nachfolger schenken", prophezeit 1711 ein Franziskanermönch. Der bislang kinderlose Monarch gelobt es und flugs wird ihm - wenn auch nicht der ersehnte Thronfolger, so doch eine Infantin geboren. Indem der Chronist dieser Weissagung eine schwankhafte Wendung gibt, kommen Zweifel auf, ob besagter Mönch nicht via Beichtgeheimnis von der Schwangerschaft der Königin wußte und dieses Wissen dann zum Vorteil seines Ordens nutzte. Der König hält jedenfalls Wort, gibt ihm doch der Klosterbau Gelegenheit, seine Macht und Gottgefälligkeit unter Beweis zu stellen. So werden unter der Leitung eines Baumeisters aus Regensburg 50 000 Männer aus ganz Portugal in Ketten zur Baustelle geschleift, werden zur Ehre Gottes Ackerland, Gärten und Obstpflanzungen verwüstet und Ketzer verbrannt, während der königliche Auftraggeber in seinem Schlafgemach aus Bauklötzchen immer wieder den Petersdom nachbaut, den das Kloster von Mafra in Größe und Schönheit übertreffen soll.
Darin verflochten wird die Liebesgeschichte von Balthasar, der in einem der vielen Kriege die linke Hand verloren hat, und Blimunda, der Seherin, wie sie zusammen mit Pater Bartolomeus auf einem Gehöft bei Lissabon eine - historisch verbürgte - Flugmaschine bauen und sich in den Himmel schwingen. Balthasar, Blimunda und Bartolomeus heben ab aus der jämmerlichen Realität. Sie wollen drüber weg, "dorthin, wo der Arm der Inquisition nicht hinreicht, falls es einen solchen Ort gibt". Zugleich wollen sie etwas für die Menschen tun, und hier verbindet Saramago historisch gesicherte Geschichte mit einem genialen Einfall: Blimunda, die Seherin, schleicht durch die Straßen der von Seuche, Unterdrückung und Elend heimgesuchten Stadt Lissabon und nimmt von den Sterbenden deren letzte Willenskräfte, damit sie der Flugmaschine als Treibstoff dienen. Sie saugt aus den Sterbenden ihren letzten Seufzer, nicht aus vampyrischen Impulsen, sondern um den Hauch der scheinbar Wehr- und Machtlosen zu vereinen im Sehnen nach einem großen Sturm, der allen die Freiheit bringt. Eine Freiheit, die Balthasar und Blimunda mit ihrer wortlosen Liebe vorleben: ohne Streit, ohne Betrug, einer des anderen immer gewiß - gegen die alte Welt und für eine neue Welt. Saramago ist ein begeisterter Erzähler, ein Zweifler und ein Genießer der Liebe. Mit Hilfe seiner Erzählkunst entwickelt er die Kunst zu leben.
"Als sich, eine Woche später, das Wetter besserte, wanderten Balthasar und Blimunda nach Lissabon los, im Leben hat ein jeder sein Tun, diese bleiben hier, um Mauern hochzuziehen, wir dort werden Weidenruten, Drähte und Eisen in eins fügen, werden auch Willenskräfte einsammeln, damit wir uns dank all dem in die Lüfte erheben, denn die Menschen sind flügellos geborene Engel, das ist doch das Schönste, ohne Flügel geboren zu werden und diese zum Sprießen zu bringen" (175).
Die Bruchlandung folgt, Bartolomeus wird verrückt, geht nach Spanien und stirbt. Balthasar streicht immer wieder um die beschädigte Maschine und wird eines Tags von ihr in die Luft gerissen. Blimunda irrt zerlumpt und mit wirrem Haar durchs Land und findet ihn schließlich auf einem der Scheiterhaufen wieder. Saramago schreibt in opulenten Bildern über ein scheinbar fernes Jahrhundert: Prozessionen, Stierkämpfe und höfische Rituale, degenerierte Adlige, lüsterne Mönche und marodierende Soldaten, ein bunter Bilderbogen, genau recherchiert und deftig gemalt von einem allwissend-ironischen Erzähler. In einem Interview sagt Saramago:
"Daß Blimunda die Kräfte der Sterbenden einsammelt, heißt doch wörtlich, daß diese Kräfte nicht untergehen, nicht vergeudet sind, sondern einfließen in etwas Größeres, in die Utopie. Denn Utopie ist für mich nur ein anderes Wort für Hoffnung. ... Der Flug ist keine Flucht ins Phantastische, sondern Metapher zukünftiger Freiheit, Vorwegnahme künftiger Realität."2
So erzählt Saramago im doppelten Sinn eine Gegen-Geschichte, hinterfragt die offizielle Geschichtsschreibung und entfaltet so die Utopie einer ganz anderen Geschichte. Er erzählt ironisch-gelassen Geschichte von unten, betreibt so historische Spurensicherung; im Wort "Memorial" schwingt auch Memento mit, Erinnerung. Saramago setzt damit Blimundas Anliegen auf poetische Art fort, indem er die vielen Geschichten der kleinen Leute, die in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht vorkommen, aufbewahrt:
"Leb wohl, sagten sie, weiter nichts, denn es wissen die einen nicht, Sätze zu bauen und die anderen nicht, sie zu verstehen, doch mit dem Hingang der Zeiten findet sich da immer einer, der sich ausdenkt, daß diese Dinge gesagt worden sein könnten, oder er erspinnt sie, und am Ende sind die ersponnenen Geschichten wahrer als die wahren Fälle, die sie erzählen" (175).
Der Sprachstil spottet dabei in seinen wuchernden Schlingen und falschen Zitaten ebenso jeder Ordnung wie das Erzählen, das nicht zwischen Wahrheit und Lüge, Vergangenheit und Gegenwart unterscheidet, sondern alles vermischt, wobei immer wieder das Prinzip des Unvollkommenen, des Formlosen oder Verstümmelten als dasjenige betont wird, das der eigentlichen Wahrheit am nächsten kommt.
Portugal und Europa oder: Verrückte Welt
Der Hauptakteur des Romans "Das steinerne Floß"3 (1986) ist die Iberische Halbinsel, die eines Tags beschließt, sich von Europa zu trennen, und zwar genau an der hierfür wie geschaffenen Grenze zwischen Frankreich und Spanien. Die Pyrenäen reißen auseinander, eine Kluft entsteht, die sich erst langsam und dann immer schneller mit den Wassern von Mittelmeer und Atlantik füllt: Europa ade! Die Iberische Halbinsel treibt, zum steinernen Floß geworden, mit 750 Metern pro Stunde nach Westen. In Spanien und Portugal ist der Teufel los, die Touristen machen sich davon, die Reichen lassen sich ausfliegen, die Hotels stehen leer und werden von armen Bauern besetzt, eine eigene Stromversorgung der Halbinsel muß aufgebaut werden. Das Abdriften ist natürlich unerklärlich und wird mit der entsprechenden Massen- und vor allem Medienhysterie von morgens bis abends besprochen und bebildert. Auch die anderen Staaten rotieren: Konferenzen, Tagungen, Sondersitzungen, der amerikanische Präsident bietet Hilfe an und entwickelt zugleich den Notfallplan, die Iberische Halbinsel auf ihrer Drift gewaltsam zu stoppen und sie zwischen Kanada und Grönland neu zu verankern.
Natürlich will Saramago mit diesem Roman auch einen verspielten Akzent zur Diskussion um das zusammenwachsende Europa und die Identität der einzelnen Staaten setzen. Aber man darf diese politische Lesart sicher nicht überbetonen. Zu spielerisch-utopisch, augenzwinkernd-vorgaukelnd fabuliert der Autor seine Geschichte. Gleichzeitig berichtet Saramago von einer Gruppe einzelner Menschen, die auf merkwürdige Art mit dem großen Geschehen in Bezug stehen: wie etwa Joaquim Sassa, der beim Strandspaziergang einen Stein ins Meer wirft genau in dem Moment, in dem das Abdriften der Halbinsel beginnt. Die Frage nach Ursache und Wirkung läßt Saramago spielerisch offen; vielmehr trifft Sassa auf einer Fahrt kreuz und quer über die Halbinsel andere Personen, denen ebenfalls solche Merkwürdigkeiten zustießen. Diese Menschen, die unwillentlich Urheber oder zumindest Medien von kosmischer Wirkung sind, bilden nun eine Reisegemeinschaft und leben für ein paar Wochen so etwas wie die Utopie eines anderen Lebens, gelöst von alltäglichen Bindungen und Zwängen, eine Gemeinschaft, die sich frei von Gesellschaft und Rahmenbedingungen quasi neu erfinden kann. Damit ist natürlich nur sehr unzureichend der Inhalt dieses herrlich versponnenen Romans angedeutet, der auf vielfachen Umwegen und einem schier ungebremst dahinfließenden Erzählfluß tausend und eine Geschichte verknüpft, ganz so, wie Saramago einmal seinen Erzähler räsonieren läßt:
"In den verschiedenen Künsten, besonders in der des Schreibens, war, wird sein und ist der beste Weg zwischen zwei Punkten, selbst nahegelegenen, nicht die sogenannten Gerade, nie, weil diese stets die ... Art ist, auf Zweifel zu antworten, sie zum Verstummen zu bringen" (13).
Die Angst vor der Zukunft
Ein Mann bemerkt in dem Augenblick, als die Ampel, vor der sein Auto steht, auf Grün wechselt, daß er plötzlich erblindet ist. Ein Fußgänger bietet ihm an, ihn nach Hause zu fahren und erblindet einen Tag später auch. Die unbekannte Krankheit ist ansteckend, der geringste Kontakt mit einem Erkrankten macht blind. Der Augenarzt, zu dem die ersten Patienten eilen, steckt alle seine Patienten an. Die Blinden werden interniert und zu einer Art Selbstverwaltung gezwungen; wer sich den Wachsoldaten nähert, wird erbarmungslos erschossen. Die Internierten werden im Lauf der Zeit immer gewalttätiger. Da sie Gefahren nicht sehen können, schlagen sie beim geringsten Verdacht der Bedrohung zu, um mutmaßlichen Gewalttätern zuvorzukommen.
So ist das Horrorszenario in Saramagos bisher letztem ins Deutsche übersetzten Roman "Die Stadt der Blinden"4 (1995). In dieser sicherlich auch als Parabel zu lesenden Geschichte verläuft alles nach den Gesetzen der Vernunft, allerdings eben einer blinden Vernunft, die sich nicht mehr an ihre ethische Funktion erinnert. Die Kranken sehen nur eine weiße milchige Wand. Diese weiße Leere, der die Gesellschaft entgegensteuert, muß zur Selbstzerstörung führen. In kurzer Zeit werden aus gerade noch friedlich miteinander lebenden Bürgern primitive Horden, die sich auf die Suche nach Nahrung und einem sicheren Schlafplatz begeben; Menschlichkeit und Solidarität unterliegen, Angst beherrscht alles Tun. In Gesprächen einer kleinen Gruppe Erblindeter werden die Ereignisse reflektiert, die verschiedenen Phasen der Verrohung konstatiert und Möglichkeiten diskutiert, ihr doch zu widerstehen. Diese kleine Gruppe versucht, unter allen Umständen Menschlichkeit zu bewahren und formuliert damit ein Leitmotiv Saramagos: "Wenn wir nicht ganz wie Menschen leben können, sollten wir versuchen, nicht ganz wie Tiere zu leben." Ein nahezu ohne Punkt und Komma dahinfließender Redestrom simuliert die Situation der Blinden, die bei der Fülle der Geräusche genau hinhören müssen, um zu erkennen, wer spricht. Wenn der Leser sich darauf einläßt, wird er überrascht sein, wieviel er dabei auch über sich selbst erfahren kann.
Der Autor dieser Geschichten
José Saramago, geboren 1922, aus ärmsten Landarbeiterverhältnissen stammend, ein linker Autor, Jahrzehnte Mitglied der portugiesischen Kommunistischen Partei, heute auf Lanzarote lebend, konfrontiert den Leser mit einem grenzenlosen Pessimismus, gegen den ein moralischer Humanismus immer wieder aufbegehrt. Das geschieht in Form von Wundern ohne Zahl, Mysterien ohne Ende, Kuriosa und Mirakeln. Sie wahren Geheimnisse, leisten Widerstand gegen Deutung, Aufschluß, Klärung. Aufklärung ist nicht zu haben ohne den Mythos, beide treffen sich auf der Linie zwischen Tradition und Moderne, im Niemandsland der Fiktion, zwischen Historie und Hypothese. "Man fängt eine Geschichte an", heißt es einmal, "aber andere drängen sich vor." Ein vielstimmiger Erzählchor, eine portugiesische Polyphonie, in der alle mitsprechen, die Opfer, die Täter, Männer und Frauen, der Erzähler und seine Figuren; der Stil ist dadurch gekennzeichnet, daß Figuren am Roman mitschreiben, besser: ihn miterzählen.
Saramago führt die direkte Rede als Bestandteil seiner Erzählung in die Beschreibung ein, ohne Pausen, die einen Wechsel des Sprechers andeuten, ohne wahrnehmbaren Wechsel mittels Satzzeichen. Das Ganze könnte chaotisch wirken, aber hier zeigt sich die Wachsamkeit Saramagos, der mit dem Respekt vor dem Leser schreibt und dadurch verhindert, daß dieser sich auf einigen dicht geballten Seiten verirrt und verliert, auf denen sich Dialog und Beschreibung überlagern und verschmelzen. Oft tritt auch der Autor auf, der seine Rolle ablegt und sich in die Erzählung einschaltet, indem er Ansichten unterbreitet, Verhaltensweisen wertet und den Gang der Handlung kommentiert.
Trotz ihrer Verschiedenartigkeit in Umfeld, Zeitgebundenheit, trotz vielfach variierender Vorhaben des Autors haben alle Romane etwas gemeinsam: das Barocke, das doch niemals Inflation von Wörtern bedeutet, ein bedächtig geduldiges Aufbauen, das den Leser zwingt, an dem Spiel von Rede und Gegenrede teilzunehmen, einen spielerischen Scharfsinn, der mit unerwarteten Wendungen und Folgerungen überrascht, eine erzählerische Verbrüderung von Tradition und Moderne, die den Leser niemals aus dem Auge läßt. Episoden, Abschweifungen, ein ironischer Ton, der die Register des Sarkasmus und des Mitgefühls gleichermaßen zu ziehen versteht, der zugleich zynisch und wehmütig zu klingen vermag. Berührend und großartig, verspielt und verbissen, gegenüber den Helden der Geschichte und den Heiligen der Kirche boshaft und gegenüber der von ihnen gemachten Historie wahrhaftig. Die Romane Saramagos nutzen die spielerisch-fabulierende Dimension von Literatur, hinterfragen so die nackten bloßen Tatsachen, schreiben Gegen-Geschichte, unterwandern die Fakten durch Fabeln. Das Absurde der Fiktion einerseits und ihr realistisches, alltägliches Erscheinungsbild andererseits sind die zwei Pole in Saramagos Dichtung. All das Vergangene, dazu das Zukünftige geht bei ihm durch eine mythisch aufgeladene Roman- Gegenwart.
Einem über die Literaturszene hinausgehenden Publikum wurde Saramago bekannt, als er mit seinem Roman "Das Evangelium nach Jesus Christus" (1991)5 heftige Diskussionen auslöste: Das Buch, das den Gottessohn nicht nur als lebenshungrigen und wißbegierigen Jüngling zeigt, sondern auch an Glauben und Wundern zweifeln läßt, wurde nach Erscheinen auf Betreiben der Kirche wegen angeblicher "Verletzung religiöser Gefühle" von der Vorschlagsliste für den Europäischen Literaturpreis gestrichen. Und noch heute haben sich die Wogen nicht geglättet, wenn sich der Vatikan darüber befremdet zeigt und Protest anmeldet, daß einem derart freidenkerischen Autor wie Saramago der Nobelpreis zuerkannt wird.
Natürlich läßt sich über den Inhalt des Romans theologisch disputieren, trefflich streiten, daran kann dann auch Kritik geübt werden. Doch all diese Kritik trifft den Schriftsteller Saramago nicht, denn der muß sich bei seinem Schreiben nicht an theologisch-dogmatische Wahrheiten oder zu beachtende Pietätsgrenzen halten; Orthodoxie zu wahren ist nicht seine Aufgabe. Die von Kirche und konservativer Gesellschaft vorgebrachte Kritik an Saramago, Grenzen des Anstands, Glaubens und der Pietät zu verletzen, wird um der Autonomie der Kunst und dichterischen Freiheit willen zurückgewiesen. Der Dichter Saramago darf schreiben, was und wie er will.
Gespräche mit einem Toten
Ricardo Reis heißt eine derjenigen fingierten Dichterfiguren, hinter denen der portugiesische Dichter Fernando Pessoa6 (1888-1935) die Autorschaft für sein umfangreiches Werk verbarg. Nach Pessoas Informationen studierte Reis Medizin, emigrierte 1919 als Monarchist nach Brasilien und schrieb hauptsächlich kunstvolle Oden. Saramago nun läßt diese Gestalt im Dezember 1935, kurz nach dem Tod von Pessoa, von Rio de Janeiro nach Lissabon zurückkehren. Damit schreibt "Das Todesjahr des Ricardo Reis"7 (1984) die Fiktion fort, mit der Pessoa sein Leben umgab. Nach der Ankunft bringt Reis drei Monate in einem Hotel zu, flaniert müßig durch die Straßen, liest zerstreut in Cafes in Zeitungen, aus denen er auch vom Tod Pessoas erfährt. Er mietet später eine Wohnung, vertritt auch zeitweise einen Arzt. Dieses Leben, so monoton wie der Regen, der im Roman schier unablässig auf Lissabon fällt, wird auch von zwei Frauenbeziehungen kaum berührt: Reis beginnt zögernd und halbherzig eine Beziehung mit dem Zimmermädchen Lidia und verehrt platonisch die Tochter eines anderen Hotelgastes, Marcenda, deren linker Arm gelähmt ist. Kaum nötig zu sagen, daß beide Frauennamen auch in den Oden des wirklichen - aber was heißt hier wirklich? - Ricardo Reis auftauchen, die Saramago fragmentarisch zitiert.
Keine wirklichen Unterbrechungen also sind diese Beziehungen, vielmehr wird Reis und mit ihm der Leser beunruhigt durch Begegnungen und Gespräche mit seinem verstorbenen Schöpfer Pessoa, der ihn eines Nachts in seinem Zimmer erwartet. Die Verwirrung, das Spiel mit Spiegelungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, ist perfekt. Wie kann Pessoa denn auftauchen, wo er vor kurzem verstorben ist? Aber die Frage wird natürlich zugleich verdoppelt und ironisierend unterlaufen, begegnet Pessoa doch seiner eigenen Figur: Ein Toter trifft seine Fiktion. Saramago scheint einen Moment innezuhalten, indem er die Staatsmacht in Gestalt des Untersuchungsrichters Viktor einschaltet, dem die Geschichte suspekt erscheint. Die ordnende Macht verschafft dem Leser jedoch nur scheinbar eine Atempause, durch die Saramago sogleich neue Abgründe öffnet:
"Andere Quellen, die man entdecken wird, werden zweifelhaft sein, weil unecht, wenn auch ähnlich, auf jeden Fall untereinander nicht übereinstimmend, und alle mit der Wahrheit der Fakten, die wir nicht kennen, wer weiß, ob wir nicht, da uns alles fehlt, eine Wahrheit erfinden müssen, einen Dialog mit einiger Folgerichtigkeit, einen Viktor, einen Doktor, einen Morgen mit Regen und Wind, eine mitleidige Natur, falsch alles und wahr" (228 f.).
So erfindet Saramago einen der wohl schönsten Träume, die ein Dichter für einen anderen Dichter, ein Mensch für einen anderen Menschen ausmalen kann. Er läßt Pessoa sagen, ihm seien neun Monate gegeben, um in der vertrauten Welt zu bleiben, in seiner gewohnten Gestalt, aber schwerelos, ganz frei. Mit Hilfe der Fiktion sogar gegen den Tod anzuschreiben - dies ist der ungeheure Versuch, der mit diesem Roman unternommen wird. In einem Gespräch zwischen Pessoa und Reis, das hier in einer längeren Passage zitiert werden soll, lotet Saramago die Kühnheit des Unternehmens aus. Als Pessoa erklärt, daß es schwer für die Lebenden sei, die Toten zu verstehen, erwidert Reis:
"Wir Lebenden wissen, daß wir sterben werden. Ihr wißt es nicht, ... was wir wissen ist, daß die anderen sterben. Als Philosophie scheint es mir belanglos zu sein. Natürlich ist es belanglos, Sie ahnen nicht einmal, bis zu welchem Punkt alles von der Seite des Todes aus belanglos ist. ... Für den, der so denkt, muß der Tod letztendlich eine Erleichterung sein. Das nicht, weil der Tod eine Art Gewissen ist, ein Richter, der ein Urteil über alles fällt, über sich selbst und das Leben. Mein lieber Fernando, Vorsicht mit den Worten, Sie riskieren viel. Wenn wir nicht alle Worte aussprächen, selbst die absurden, dann würden wir nie die notwendigen äußern" (322 f.).
Reis leistet Widerspruch im Namen der Wirklichkeit, die Pessoa jedoch gelassen entkräftet. Es sei eine Frage des Gleichgewichts: Wie der Mensch neun Monate im Bauch seiner Mutter wachse, ehe er komme, niemand sähe ihn, dennoch sei er gegenwärtig und einige dächten unaufhörlich an ihn, so ähnlich werde es, wenn der Mensch wieder gehe. Saramago läßt an einer Stelle Pessoa und Reis über die Folgen der Begegnung diskutieren, wobei die eigenwillige Schreibweise die inhaltliche Verwirrung der Standpunkte zusätzlich verdoppelt und sie zunehmend austauschbar werden läßt:
"Ricardo Reis muß eine Neugierde befriedigen, wenn uns jemand anschaut, wen sieht er dann, Sie oder mich? Er sieht Sie, oder besser, er sieht eine Gestalt, die weder Sie sind noch ich. Eine Summe von uns beiden, geteilt durch zwei. Nein, ich würde eher sagen, das Produkt der Multiplikation des einen mit dem anderen. Gibt es diese Arithmetik? Zwei, wer sie auch sein mögen, summieren sich nicht, sondern multiplizieren, mehren sich. Wachset und mehret euch, sagt das Gebot. Das ist nicht der Sinn, mein Teuerster, das ist der naheliegende, biographische Sinn, allerdings mit vielen Ausnahmen, von mir wird es zum Beispiel keine Kinder geben. Von mir auch nicht, wie ich glaube. Und dennoch sind wir das Vielfache" (103).
Bei allem zeitgeschichtlichen Ernst von 1936, den Saramago hineingeschrieben hat, ist doch jederzeit die Freude an Spiel und literarischen Grundregeln als Grundton erkennbar. Und als wollte er an einem Punkt das Thema seines Romans und wohl auch seines gesamten Schreibens brennpunktartig bündeln, läßt Saramago Reis ein höchst mittelmäßiges Theaterstück besuchen und im Anschluß daran folgendes überlegen:
"Ricardo Reis denkt über das Gesehene und Gehörte nach und ist der Meinung, daß nicht die Nachahmung das Ziel der Kunst ist ..., daß die Wirklichkeit ihre Widerspiegelung nicht verträgt, sie lehnt sie ab, nur eine andere Wirklichkeit, welche es auch sei, kann man an die Stelle derjenigen setzen, die man ausdrücken wollte, und da sie untereinander verschieden sind, zeigen, erklären und beziffern sie sich gegenseitig, die Wirklichkeit, wie sie als Erfindung war, die Erfindung, wie sie als Wirklichkeit sein wird" (123).
Geschichte der Belagerung von Lissabon
Die Verbindung zwischen Wirklichkeit und Erfindung ist das Thema der Romane Saramagos. Das schönste Beispiel: Raimundo Silva, gewissenhafter Korrektor eines Lissaboner Verlags, sitzt nachts, eine Wolldecke über den Knien, über den Druckfahnen eines in seinen Augen unsäglichen Geschichtswerks, das er am nächsten Morgen im Verlag abzuliefern hat. Darin geht es um die Belagerung von Lissabon durch die Mauren, die mit Hilfe der Kreuzritter bezwungen werden8. "Wie lange willst du dich noch zum Handlanger machen", quält eine innere Stimmer immer lauter den gekrümmt dasitzenden Korrektor, schließlich scheint es ihm aus dem Buch zuzuraunen: "Mach aus mir etwas anderes." Da greift Silva mit fester Hand zum Stift und verändert nur an einer einzigen Stelle durch Hinzufügung eines "nicht" den Text. Welch großer Eingriff diese Einfügung für einen Korrektur bedeutet, beschreibt Saramago in wunderbar ironischer Weise, wobei er unterderhand seine Überzeugung über die Macht des Worts durchklingen läßt:
"Für einen Korrektor, der seinen Platz kennt, ist der Autor als solcher unfehlbar. Man weiß, nur ein Beispiel, daß Nietzsches Korrektor, obwohl glühender Christ, ebensosehr der Versuchung widerstand, auf einer ganz bestimmten Seite das Wort Nicht einzufügen und also aus des Philosophen Gott ist tot Gott ist nicht tot zu machen. Die Welt in ihrem Äußeren verändern könnten die Korrektoren, ... sie könnten auf Erden das Reich des Glücks errichten, Trank spendend dem Dürstenden, Speise den Hungernden, Friede dem Unruhvollen, Freude den Traurigen, Begleitung den Einsamen, Hoffnung den Hoffnungslosen, geschweige die behende Leichtigkeit, mit der alles Elend und alle Verbrechen sich ausrotten ließen, sie brächten das alles schlicht durch den Austausch von Wörtern zuwege, und sofern einer diese neuen handwerklichen Leistungen in Zweifel zieht, möge er sich nur daran erinnern, daß auf diese Weise die Welt erschaffen wurde, und so auch der Mensch, mit Worten, mit ganz bestimmten und nicht anderen, damit es so sei und nicht anders" (59).
Im hier vorliegenden Fall heißt es nun also: "Die Kreuzritter werden den Portugiesen bei der Eroberung Lissabons nicht helfen." Am nächsten Morgen liefert er das Manuskript mitsamt seiner Änderung ab und ist dann ängstlich gespannt, ob und wann sein Eingriff herauskommen wird. Wenig später fliegt alles auf und er wird zum Rapport ins Verlagshaus bestellt. Was er sich gedacht habe, er kann es nicht erklären, entschuldigt sich drucksend, zum Glück habe man den Eingriff noch rechtzeitig bemerkt, so daß die Geschichte mit entsprechendem Zusatzvermerk erscheinen könne. Saramago schreibt verwickelt komisch: "Nun denn, das Buch wird mit einem Erratablatt ausgeliefert, einem lächerlichen, denn da steht: lies nicht nicht statt nicht, wo es heißt, die Kreuzritter haben nicht geholfen, ist zu lesen, die Kreuzritter haben geholfen."
Silva muß brieflich beim Autor Abbitte leisten, und sicher wäre ihm gekündigt worden, wäre da nicht Frau Doktor Maria Sara, die neue Cheflektorin, die für ihn Partei ergreift und sein inneres Anliegen ahnt. Sie fragt ihn, was er davon halte, eine Geschichte der Belagerung von Lissabon zu schreiben, in der die Kreuzritter den Portugiesen nicht helfen. Dies ist der Beginn einer spannungsgeladenen Beziehung, Stoff für Endlostelefonate und Dialogspiralen. Für Saramago natürlich auch wunderbare Grundlage seines wohl schönsten Romans, den er natürlich listig-verschmitzt "Geschichte der Belagerung von Lissabon" nennt. Im Grund beginnt der Roman an dieser Stelle ganz neu und erst so richtig, denn ungeheuer virtuos läßt er im folgenden die Ebenen der Geschichte mit der des nun ans Werk gehenden Geschichtsschreibers Silva ineinanderfließen, wobei er diese Vermischung an einigen Passagen noch dadurch potenziert, daß er sich als Autor des gesamten Romans einschaltet. Ein kleines Beispiel für dieses Verfahren.
"Wieder beredete sich der König mit dem Erzbischof und dem Bischof, und nach deren Zustimmung hob er an und sprach, So höret denn. Das Telefon schellte. Es hat eine alte Klingel, eine von denen, die das ganze Haus erschüttern, Raimundo Silva hatte so konzentriert dagesessen, daß er jäh aufschrak und seine Hand ruckartig einen Strich über das Papier zog, als wäre die Welt, Beschleunigung erfahrend, plötzlich unter seinem Federhalter fortgerutscht" (172).
Saramago läßt Geschichte durch Geschichtsschreibung verändern; die Literatur, ja kleine Worte können historische Ereignisse und deren Auswirkung ins Gegenteil verkehren, wobei Silva natürlich vor der Aufgabe steht, die Geschichte so zu schreiben, daß letztlich Portugiesen in Lissabon wohnen, denn, wie Maria Sara richtig bemerkt, "wissen wir doch, wie die Geschichte ausgehen muß, der Beweis ist, daß wir hier in Lissabon zu Abend speisen, wir sind nicht Mauren und nicht Touristen in Maurenland ..." (364).
So liefert Saramago verschiedene, gleich gültige Versionen geschichtlicher Ereignisse, wobei der reale Verlauf nur eine unter mehreren Möglichkeiten ist: "Dies alles, weiß man bereits, sind Vermutungen eines Erzählers, der mehr um die Wahrscheinlichkeit bemüht ist als um die, so meint er, ohnehin nicht ermittelbare Wahrheit." Unnötig zu sagen, daß sich Silva und Maria Sara im Lauf der Zeit - auf mancherlei Umwegen zwar, zögerlich und unter Schwierigkeiten auch privat näherkommen. Womöglich liegt in dieser Liebesgeschichte zwischen verschrobenem Korrektor und seiner Chefin, die sein eigentliches Talent erspürt, die wirkliche "Geschichte der Belagerung von Lissabon", denn, so ein Streitgespräch zwischen Silva und Maria Sara:
"Brächtet ihr es im Leben nur einmal fertig, euch schlicht natürlich zu geben, Kein Menschenwesen ist natürlich, Für solche Klugheiten braucht einer nicht Korrektor zu sein, das weiß auch eine simple Studierte, Es scheint, wir stehen im Krieg widereinander, Freilich stehen wir im Krieg, ein Belagerungskrieg ist es, jeder belagert den anderen und ist von ihm belagert, wir möchten des anderen Mauern niederreißen und die unseren bewahren, Liebe ist wohl, wenn keine Barrieren mehr da sind, die Liebe setzt der Belagerung ein Ende. Raimundo Silva lächelte, Eigentlich hättest du diese Geschichte schreiben sollen" (313).
Mehr soll hier nicht verraten werden, zumal an manches Geheimnis der Geschichte niemand rühren kann und soll, weder der Autor noch seine Figuren und wohl auch nicht der Leser, der aufgefordert ist, sich in die "Geschichte der Belagerung von Lissabon" hineinzubegeben. Denn das führt Saramago eindrucksvoll vor: Eine Geschichte ist niemals fertig, sondern entsteht bei jedem Erzählen, Schreiben und auch Lesen wieder ganz neu.
Es ist hinreichend deutlich geworden, welch unendliche Romanwelten dem Leser im Werk Saramagos begegnen. Der Titel des Beitrags "Angenommen, es wäre ganz anders" zielt damit in zwei Richtungen: Er benennt einerseits das Verfahren Saramagos, alternative Geschichten zum "realen" Verlauf der Geschehnisse zu erdichten und diese damit als zufällig und keineswegs notwendig darzustellen. Saramago erfindet utopische Räume ganz anderen Lebens, die den zufällig eingetretenen Verlauf und Status spielerisch hinterfragen und so augenzwinkernd andere Denk- und vor allem Lebensmöglichkeiten vorführen. "Angenommen, es wäre ganz anders" wird damit aber auch zur Einladung an die Leser, sich wenigstens für die Zeit des Romans auf diese anderen Möglichkeiten einzulassen. Wenn wir uns in eine Erzählung und vor allem eine solch "wunderbare" Erzählung begeben, setzen wir für eine Zeit willentlich unsere Ungläubigkeit außer Kraft. Nach der Lektüre, so das Versprechen der Dichtung, wird der Leser sich - und damit doch auch die Wirklichkeit! - verändert wiederfinden, utopische Möglichkeiten überhaupt erst wahrnehmen und sich und anderen Räume der Freiheit und Hoffnung eröffnen. So ist es konsequent, wenn Saramago in einem Interview sagt:
"Utopie ist für mich nur ein anderes Wort für Hoffnung. Wir wissen, daß etwas getan werden soll und getan werden wird. Wir wissen nicht, wann, wir wissen nicht, ob für uns, wir wissen nur, daß es einmal Wirklichkeit sein wird und daß wir daran teilhaben."9
Es kann wohl keine schönere und größere Aufgabe der Literatur geben und, damit komme ich zum Anfang zurück, deshalb glaube ich nicht, daß es in der gegenwärtigen Literatur dafür einen reichhaltigeren Beleg als die Romanwelten Saramagos gibt. Wir sind eingeladen, diese Schätze für uns zu entdecken. Den Nobelpreis hat er erhalten, fehlt nur noch, daß er auch gelesen wird. Oder, wie es in einem seiner Romane heißt:
"Ein Mensch muß vor allem lesen, etwas oder soviel er kann, mehr soll man nicht von ihm verlangen angesichts der Kürze des Lebens und der Vielfalt der Welt."10
Stimmen der Zeit (1999) 195-205