Braucht Rom eine Regierung?

Die katholische Kirche wird oft als der älteste und erfolgreichste "Global Player" der Welt bezeichnet. Nicht zu Unrecht; denn schon früh verfügte sie über moderne Regierungsstrukturen - man denke nur an die in weite Teile der Welt ausgreifende Rekrutierung ihres Personals (bei freilich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschender italienischer Majorität!), an das päpstliche Gesandtschaftswesen, eines der ältesten der Welt(1), an die Organisation der Papstfinanz seit dem hohen Mittelalter(2) und vor allem an die auf Sixtus V. (1585-1590) zurückgehende Ressortgliederung der Kurie, die zu ihrer Zeit in Europa vorbildlich, ja einzigartig war(3). Die universelle Aktivität der Kurie im Rahmen weltkirchlicher Strukturen, die wachsende Verflechtung des Heiligen Stuhls mit dem sich entwickelnden Staatensystem - das alles war immer wieder Anlaß zur Schaffung neuer und feinerer Instrumente des Regierens, zur Überprüfung des Vorhandenen unter Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit und Effizienz. Daher gehören zur Geschichte der Kurie immer wieder auch eingreifende Umbildungen und Veränderungen. Schwerpunkte bilden das 16. und das 20. Jahrhundert. Das Ziel war stets dasselbe: Es galt ein Regierungssystem zu schaffen, das modern und anpassungsfähig war und sich den "globalen" Anforderungen der Kirche gewachsen zeigte.

Instrumente regelmäßiger und systematischer Koordinierung fehlen

Heute freilich begegnet die alterprobte römische Regierkunst vielerorts Fragen und Zweifeln - und das keineswegs nur in "schwierigen" Ländern wie Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz oder Indien und den USA(4). Gewiß, die Internationalisierung der Kurie hat im 20. Jahrhundert weitere Fortschritte gemacht, vor allem in den Pontifikaten Pius' XII., Pauls VI. und Johannes Pauls II.; moderne Kommunikationsmittel haben seit langem Einzug gehalten in die Vatikanbehörden, und was die mediale Präsenz Roms und des Papsttums in aller Welt angeht, so hat sie unter dem gegenwärtigen Papst zweifellos einen Höhepunkt erreicht. Dennoch ist es in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder zu Reibungen und Schwierigkeiten im Verhältnis der römischen Kurie zu den Ortskirchen der Welt gekommen. Und auch aus dem Inneren des römischen Behördenspektrums kamen manchmal widersprüchliche, jedenfalls nicht immer eindeutige Signale.

So machte beispielsweise weder die Bereinigung der niederländischen Krise noch der Umgang mit der Lefebvre-Bewegung noch die Auseinandersetzung mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie - von außen gesehen - den Eindruck einer planvollen, abgestimmten, von allen Verantwortlichen gemeinsam getragenen "Politik"; das Bild war eher das eines Auf und Ab, eines Vor und Zurück - manchmal sogar eines Schlingerkurses. Ähnliches gilt - bei durchaus vorhandener Klarheit im Prinzipiellen - für die praktische Haltung, den moralisch-politischen Umgang Roms mit der Abtreibungsgesetzgebung zahlreicher Länder, bei dem entscheidende Unterschiede nicht zur Kenntnis genommen werden, ja kaum in den Blick kommen: etwa ob Abtreibung bis zum Ende des dritten Monats als Recht gilt oder prinzipiell Unrecht bleibt; ob das Selbstbestimmungsrecht der Frau - wie in den meisten Ländern - einschränkungslos gilt oder ob im Konfliktfall das Lebensrecht des Ungeborenen Vorrang hat; ob Abtreibung generell, oder nur nach vorgeschalteter Pflichtberatung, straflos bleibt usw. Endlich darf an die Politik des Vatikans in Sachen Ökumene erinnert werden: Hier trat der Mangel an Koordination, an Schlüssigkeit und Stimmigkeit in jüngster Zeit besonders deutlich in Erscheinung und löste nicht selten Kopfschütteln und Verwirrung aus.

Man kann dies alles auf die persönliche Eigenart des regierenden Papstes zurückführen, der zweifellos mehr ein charismatischer Verkünder als ein beharrlicher Aktenleser und Verwalter ist(5). Doch eine solche Erklärung griffe zu kurz. Bedenklicher erscheint mir der Umstand, daß im kirchlichen zentralen Institutionengefüge die Instrumente regelmäßiger und systematischer Koordinierung fast gänzlich fehlen. Die oberste Leitung der katholischen Kirche (und das gilt schon für das 19. und das 20. Jahrhundert) kennt zwei wesentliche Elemente modernen Regierens nicht oder kaum: ein regelmäßig (im Zweifel wöchentlich) tagendes Kabinett und eine von allen "Ministern" (in diesem Fall: Präfekten und Präsidenten) getragene kollegiale Gesamtverantwortung. So bleibt nur das konsequent ausgeformte Ressortprinzip auf der einen, die umfassende "Richtlinienkompetenz" des Papstes auf der anderen Seite. Es fehlt aber dazwischen ein Instrumentarium für die pragmatische Anwendung und Durchsetzung der von oben deklarierten Prinzipien, für das abgestimmte Vorgehen der verschiedenen Ressorts, für das geschmeidige, die Umstände berücksichtigende Reagieren auf neue Lagen und unerwartete Entwicklungen - eben für das, was man gemeinhin "Regieren" nennt.

Kardinäle: Von Papstberatern zu Ressortchefs

Um diese These zu begründen, will ich kurz an die frühneuzeitliche Entwicklung der "Curia", der römischen Zentralverwaltung, erinnern. Eben das, was im 16. Jahrhundert als großer Fortschritt erschien, die systematische Gliederung der Kurie in Fachressorts mit Kardinälen an der Spitze, eigenen Geschäftsbereichen und Verfahrensregeln und selbständigem Bewegungsspielraum, das war zugleich - indem es ältere Strukturen gemeinsamer Beratung zurückdrängte und allmählich in Vergessenheit geraten ließ - der Keim für spätere Defizite und Schwierigkeiten.

Vom 12. bis zum 16. Jahrhundert hatte sich die zentrale Beratung und Willensbildung der Kurie im wesentlichen im Rahmen der Konsistorien vollzogen. Konsistorien, das waren die Vollversammlungen der in Rom oder anderen Aufenthaltsorten der Päpste anwesenden Kardinäle mit dem Papst:

"Sie fanden sehr oft (wöchentlich dreimal oder zweimal) statt; und normalerweise wurden in ihnen alle wichtigen kirchlichen Angelegenheiten besprochen, auch z. B. Bischofsernennungen oder gerichtliche Verfahren. Sie verloren ihre Funktion, als unter Sixtus V. die 'Kongregationen' eingerichtet wurden und die Hauptaufgabe der Kurienkardinäle in diese Kongregationen (gleichsam in die 'Ministerien') verlagert wurde; von da an hatten sie praktisch nur noch zeremonielle Bedeutung."(6)

Hat man diesen Verlust im Lauf der folgenden Zeit bemerkt? Wohl kaum. Wie üblich heben die Quellen das Neue hervor und kümmern sich wenig um das Alte, Überwundene. Das neu erstarkte Papsttum war vor allem an einer durchgreifenden Reform und Reorganisation der Kirche interessiert - und dazu schienen die alten kollegialen Strukturen nicht mehr zu genügen. Man steuerte neue zentrale Behörden an: sechs Kongregationen für die Verwaltung des Kirchenstaates, die übrigen für die Gesamtkirche: Inquisition, Index, Konzil, Bischöfe, Orden, Konsistorium, Signatura gratiae, Riten und Vatikanische Druckerei(7). Hier sollten die Kurienkardinäle künftig ihre Aktivitäten entfalten. Sie sollten vor allem Ressortchefs sein - nicht so sehr Papstberater. In der Tat war in älteren Zeiten Mitwirkung oft zur Mitregierung geworden, Oligarchien von Kardinälen hatten sich gebildet, die manchmal den Päpsten das Heft aus der Hand zu nehmen drohten (falls diese es ihnen nicht sogar willig überließen!). Nun vertraute man auf das neue Prinzip der Fachbehörden mit hochrangigen Chefs an der Spitze - im damaligen Europa eine beispielhafte Innovation. Die Kehrseite war freilich, daß die Kardinäle von da an nur noch über die Kongregationen an der Kirchenregierung mitwirkten, daß sie ganz in ihren Verwaltungsaufgaben aufgingen, während der Papst in Zentralfragen als alleiniges Oberhaupt zu entscheiden hatte - freilich in kritischen Situationen dann auch meist ganz allein dastand.

Die Kurienreformen des 20. Jahrhunderts

Ein stärkeres Bedürfnis nach Kollegialität und Koordinierung machte sich erst wieder im Zeitalter der Demokratie bemerkbar. Die Kurienreformen des 20. Jahrhunderts suchten ihm zu entsprechen, indem sie unübersichtlich gewordene Strukturen bereinigten, die Bereiche der Administration und der Gerichte schärfer trennten und - wenn auch sehr vorsichtig - kollegiale Elemente einführten. Ließ Pius X. trotz einer Reihe konstruktiver Veränderungen nach dem Urteil von P. Genocchi im ganzen doch den Geist der "alten Maschine" bestehen(8), so brachte die Kurienreform Pauls VI. (1967) tiefer eingreifende Änderungen: Alte Behörden wurden aufgehoben und neue geschaffen; in die Gesamtorganisation und die Verteilung der Einzelkompetenzen kam mehr Transparenz; die Amtszeit der Mitglieder und Sekretäre der Kongregationen wurde auf fünf Jahre begrenzt, um eine Verjüngung zu erreichen; eine intensivere Zusammenarbeit mit den residierenden Bischöfen und den Bischofskonferenzen der Weltkirche wurde ins Auge gefaßt(9).

Schon in dem vorausgehenden Motuproprio "Pro comperto" vom 6. August 1967 wurde bestimmt, daß künftig je sieben residierende Bischöfe zu Mitgliedern einer jeden Kongregation berufen werden sollten; hierdurch sollten dem Papst die Sorgen und Wünsche aller Kirchen besser bekannt werden. Gemeinsame Beratung bei mehrseitig interessierenden Materien wurde empfohlen - die Konstitution zur Kurienreform spricht von gemeinsamen Sitzungen der Kongregationspräsidenten unter dem Vorsitz des Kardinalstaatssekretärs, ein Vorgehen, das von offizieller römischer Seite mit dem Beispiel des Ministerrates in weltlichen Regierungen verglichen wurde(10). Damit war ein Anstoß für die Zukunft gegeben, wenn auch in der Folgezeit noch viele Fragen offen blieben - so vor allem stringentere Kompetenzabgrenzungen innerhalb der Kurie, das Verhältnis des römischen Zentrums zu den Ortskirchen im Rahmen eines umfassenden Kirchenverständnisses und das damit eng verbundene Problem der Subsidiarität(11).

Die neuerliche Reform der Kurie durch Johannes Paul II. (1988)(12) bestätigte die Koordinierungsfunktion des Staatssekretariats, gliederte die Kurie in neun Kongregationen, fünf Tribunale und elf Räte und zog damit einen vorläufigen Schlußstrich unter die kuriale Behördenorganisation. Während die Kongregationen Regierungsorgane sind, die Tribunale Gerichtsorgane, sind die Räte im wesentlichen Förderungsorgane (prevalentemente promozionali) ohne wirkliche Entscheidungskompetenz. Die Stellung der Glaubenskongregation wurde gestärkt; sie hat nicht nur umfassende Zuständigkeiten, sondern eine Art von ressortübergreifender Kompetenz. Was die Zusammenarbeit der Dikasterien anging, so blieb man bei der von Paul VI. initiierten Übung: Gemeinsame Sitzungen der Dikasteriumsleiter mehrere Male im Jahr wurden vorgesehen. Freilich, ein kurialer "Ministerrat" ist aus diesen Sitzungen bisher nicht hervorgegangen. Schon 1988 vermerkte ein Beobachter: "Über Mangel an Koordination wird innerkurial wieder mehr geklagt als zur Zeit Pauls VI. und seines Substituten Benelli."(13)

Es ist schwer abzuschätzen, wieweit die zentrale Abstimmung zwischen den Dikasterien unter dem gegenwärtigen Papst an Boden gewonnen hat. Auf der einen Seite sind die periodischen Zusammenkünfte der Dikasteriumsleiter etwa fünfmal jährlich zu einer festen Einrichtung geworden - insofern sind die Kardinale durchaus an der "Regierungsarbeit" beteiligt(14). Auf der anderen Seite gibt es bei diesen Versammlungen - die unter dem Vorsitz des Papstes vom Kardinalstaatssekretär geleitet werden - wohl Information und Beratung, jedoch keine eigentlichen Debatten, und es werden auch keine gemeinsamen Beschlüsse gefaßt. Auch das seit 1999 vorliegende "Regolamento Generale della Curia Romana"(15) ist nicht ohne weiteres mit der Geschäftsordnung eines Kabinetts zu vergleichen, obwohl es in Art. 98-111 Normen über Kardinalskonsistorien und interdikasterielle Sitzungen aufweist. Es enthält vor allem Regelungen über Personal und Struktur der vatikanischen Behörden einschließlich des Dienst- und Arbeitsrechts. Nach wie vor liegt der Schwerpunkt römischen Regierens auf den Fachressorts, nicht auf dem "Kabinett" - und zusammengehalten wird das Ganze durch die an Regeln nicht gebundene Entscheidungskompetenz des Papstes. "Was das Regieren betrifft", sagt ein Kenner wie Luigi Accattoli, "ist der Vatikan noch immer eine absolute Monarchie."(16)

Zu einer Wiederherstellung des alten Konsistoriums unter neuen Bedingungen ist es also auch in den jüngsten Reformen nicht gekommen. "Die unersetzliche Rolle des Konsistoriums als Ort kontroverser Beratung ist verlorengegangen."(17) Zwar wäre es denkbar, daß die Versammlung der Dikasteriumsleiter mit der Zeit über die defensive Attitüde bloßen Informierens, Ratschlagens und Koordinierens hinauswüchse, daß sie wirklich "Regierung" würde. Das würde jedoch, wie die Dinge liegen, eine Initiative des Papstes voraussetzen. Außerdem müßten zuvor elementare Grundfragen geklärt sein, einmal der Gewaltenteilung (Gerichtspräsidenten können nicht gut Mitglieder eines Kabinetts sein!), sodann der Gleichstellung: ein Ministerrat kann sich nicht aus Ungleichen (Entscheidungsbefugten und nur zur "Promotion" Befähigten) zusammensetzen.

Aber verfügt nicht die katholische Kirche seit 1967 über das Institut der Bischofssynode, die sich aus gewählten Delegierten der einzelnen Bischofskonferenzen zusammensetzt(18)? Braucht man ein "Kurienkabinett" im Vatikan, wenn man bereits über ein "Weltkirchen-Kabinett" verfügt? Nun, der Vergleich ist nicht schlüssig: Die Bischofssynode ist weder ein "kleines Konzil" und damit ein Regulativ der Kurie, noch kann sie - für begrenzte Zeit berufen und unter eine spezifische Thematik gestellt - mit den umfassenden Zuständigkeiten und der Kontinuität der Kurienbehörden wetteifern, die längst zu einem umfassenden "pastoralen Zentralismus" ausgebaut worden sind. "Fast keine seelsorgliche Frage von einigem Gewicht wird in der kurialen Aktivität noch übersehen."(19) Allenfalls kann man sie als ein temporäres kollegiales Beratungsorgan des Papstes verstehen - kollegial im Unterschied zu den Ressorts der Kurie, wo sich Papstberatung vorwiegend in bilateralen und multilateralen Formen, aus der Sicht der einzelnen Ressortleiter, vollzieht. Diese Formen überwiegen schon deshalb, weil sie gegenüber dem Ausnahmefall der Versammlungen der Dikasteriumsleiter die alltägliche Regel bilden(20). "Regierung" im eigentlichen Sinn ist weder das eine noch das andere.

Vatikan und USA: "Wir arbeiten für den Papst" bzw. "den Präsidenten"

Aber braucht man im Vatikan denn überhaupt eine "Regierung" nach dem Muster weltlicher Regierungen? Ist die päpstliche "gubernatio" nicht eine Regierungsform besonderer Art jenseits aller Vergleiche - Ausübung von Herrschaft in der alten umfassenden Bedeutung des Wortes, "government" im altenglischen Sinn, vor aller modernen Gewaltenteilung, vor aller Begrenzung der Macht durch rechtsstaatliche und parlamentarische Prozeduren?

Gewiß, geistliche Herrschaftsgebilde folgen anderen Gesetzen als weltliche. Es geht nicht darum, ihnen profane Deutungsmodelle überzustülpen(21). Sucht man aber zu klären, "wie die Kirche regiert wird"(22) und worin die Probleme kirchlichen Regierens heute liegen, so kann ein Blick auf die Entwicklung des modernen Staates und seiner Organe nur nützlich sein. Staatliche und kirchliche Regierungsformen haben sich ja in der Neuzeit vielfach parallel entwickelt - oft übrigens in Konkurrenz, Nachahmung, Widerspruch. Oft gingen wichtige Initiativen von der Kirche aus(23). Und wie fast jedes historisch geprägte "government" weist auch das päpstliche alte und neue, traditionelle und moderne Züge auf - "dignified parts" und "efficient parts" in der Sprache Bagehots.

Zieht man Analogien der Verfassungsgeschichte heran - alle Vergleiche sind natürlich cum grano salis zu nehmen -, so kann man die bis heute bestehende päpstliche Herrschaftsausübung mit der "Regierung aus dem Kabinett" der späten europäischen Könige des 18. Jahrhunderts vergleichen. Das war ein nicht mehr (gänzlich) absolutistisches, ein in Maßen "aufgeklärtes", jedoch noch nicht konstitutionell gebundenes Königtum(24). Das "Kabinett" ist hier noch das fürstliche Arbeitszimmer; "aus dem Kabinett regieren" heißt: sich durch Fachleute beraten lassen, um die nötigen Sachinformationen für die Entscheidung zu gewinnen. Bekanntlich wies die Beratung der Könige eine dualistische Struktur auf: Sie konnten sowohl die Ressortinhaber als auch eigens bestellte Räte heranziehen - was freilich oft zu Kompetenzüberschneidungen und Unklarheiten im Geschäftsgang führte. Diese Schwierigkeiten wurden erst überwunden, als die Ressortminister zu einer "Kabinettsregierung" zusammengefügt wurden, die dem König (später dem Parlament) in ihrer Gesamtheit verantwortlich war. Das Kabinett war nun - im heute noch gültigen Sinn - ein Kollegium öffentlich sichtbarer Personen (und nicht mehr ein "Geheimkabinett"). Die persönlichen Berater ohne Ressortverantwortung verloren an Bedeutung oder verschwanden gänzlich. Es bildete sich das heraus, was wir Regierung im modernen Sinn nennen: periodisches Beraten und Entscheiden in regelmäßigen kurzen Abständen in einem Gremium von Ressortchefs, deren Bereiche die gesamte Politik abdecken, unter der Richtlinienkompetenz des Premiers, in gemeinsamer Verantwortung aller für die getroffenen Beschlüsse.

Von diesem Idealtypus moderner Kabinettsregierung weichen zwei Staaten bis heute charakteristisch ab: die USA und der Vatikan. Die Regierung der Vereinigten Staaten ist bis heute eine Regierung "aus dem Kabinett" geblieben: mit einem übermächtigen Präsidenten, der sich sowohl von Räten (Advisers) als auch von Ressortchefs beraten lassen kann. Es gibt keine Minister, sondern nur Staatssekretäre, es gibt kein regelmäßig tagendes Kabinett, sondern im wesentlichen Einzelberatung seitens der gerade ins Tagesgeschehen involvierten Politikressorts. Und natürlich liegt die letzte Entscheidung auch nicht bei dem "unauffindbaren" Kabinett, sondern beim Präsidenten. Eine berühmte Anekdote aus der Zeit Abraham Lincolns illustriert das drastisch. "Als seine Minister sich geschlossen gegen ihn stellten, erklärte Lincoln: 'Seven nays and one aye - the ayes have it'."(25) Die endgültige Entscheidung fällt also im Exekutivbereich des Präsidenten, und dementsprechend ist das "Executive Office" sein wichtigstes Arbeitsorgan(26). Im Unterschied zu den Vollmachten des Papstes ist die Entscheidungsfreiheit des Präsidenten freilich durch den Kongreß, den Supreme Court und die Gesetze begrenzt.

Im Vatikan - wir sahen es - hat sich früh eine feingegliederte Ressortstruktur entwickelt. Sie arbeitet nach den Richtlinien des obersten Chefs, ohne daß sie als Kollegialorgan selbständig in Erscheinung tritt.

"Der Dienst der Römischen Kurie", schreibt Georg May, "ist Teilnahme an der Sendung des Papstes; sie ist das Werkzeug, das der Papst benötigt und dessen er sich bedient zur Ausübung der Aufgaben des Hirten der Gesamtkirche. Römische Kurie und Papst stehen zueinander im Verhältnis der Repräsentation; ihre Behörden handeln im Rahmen ihrer Zuständigkeit im Namen und in der Autorität des Papstes. Die ordentliche Gewalt der Behörden der Römischen Kurie ist eine stellvertretende. Die Römische Kurie hat nur die Gewalt, die ihr der Papst überträgt. Einen selbständigen Willen neben dem Papst oder gegen ihn darf sie nicht entwickeln."(27)

Rom hat zwar den in den USA bis heute bestehenden Dualismus von Advisers und Ressortleitern (Staatssekretären) in der Beratung des obersten Chefs frühzeitig überwunden - darauf beruhte seine Fortschrittlichkeit gegenüber den meisten europäischen Staaten seit dem 16. Jahrhundert. Was freilich bis heute nicht gelang (und wohl auch nie konsequent angestrebt wurde), war die Entwicklung kollegialer Strukturen nach innen und außen. Nach innen hätte das eine gemeinsame Beratung des Papstes durch ein Kollegialorgan (anknüpfend an das frühere Konsistorium der Kardinäle) bedeutet, nach außen eine Gesamtverantwortlichkeit aller Ressorts für die gemeinsam gefällten Entscheidungen. Es blieb aber im wesentlichen bei der Beratung des obersten Chefs durch einzelne Dikasteriumsleiter - und es blieb ebenso bei der (oft unkoordinierten) Abfolge von Einzelentscheidungen der verschiedenen Dikasterien, aus denen man eine einheitliche "vatikanische Politik" oft nur in Splittern und Fragmenten ablesen kann.

So nehmen die Betroffenen in beiden Fällen zwei Dinge wahr: einen übermächtigen Präsidenten bzw. Papst - und eine nach Sach- und Fachgesichtspunkten arbeitende Administration. Die vermittelnden kollegialen Regierungsstrukturen fehlen dagegen sowohl in den USA wie in Rom fast gänzlich. Das wird in beiden Fällen kompensiert durch eine ausgeprägte Homogenität des Staats- bzw. Kirchenbewußtseins und eine entsprechende Dienstmentalität. "Wir arbeiten für den Papst" - das ist die Devise der römischen Administration(28); und "Wir arbeiten für den Präsidenten, für Amerika" - das dürfte in den USA für die "administration" gelten.

Freilich können solche Homogenitäten und Kontinuitäten sich in Krisenzeiten plötzlich abschwächen. Dann kommt es - wie in den letzten Jahren der Regierung Clinton - zu Vertrauensverlusten, Parlamentsopposition, Haushaltsblockaden - zu Rückschlägen, die nur in mühsamen Verhandlungen unter Inkaufnahme von Demütigungen und Gesichtsverlusten überwunden werden konnten. Im Bereich der Römischen Kirche ist das nicht so offenkundig, da es an institutionalisierten Indikatoren fehlt, die Veränderungen frühzeitig anzeigen. Daß es aber gegen Ende des Pontifikats Johannes Pauls II. in vielen Ländern stille Opposition, Mißtrauen, Resignation und Gehorsamsverweigerung gibt, ist nicht zu übersehen. Ein besonders beunruhigendes Kapitel ist das Verhältnis zwischen Theologen und Papsttum:

Es ist heute "schlechter als zu irgendeiner Zeit seit der Reformation. Die Zahl von Theologen, die unter Investigation stehen, zum Schweigen verdammt oder aus ihren Ämtern entfernt wurden, hat einen absoluten Höhepunkt erreicht - sie übersteigt sogar die Zahl während der Modernismuskrise zu Beginn dieses Jahrhunderts. Die Rhetorik., mit der Theologen auf Aktionen des Vatikan reagieren, ist bitter und ätzend. Und diese Kluft scheint sich immer weiter aufzutun."(29)

Ein wesentlicher Grund liegt in einem wachsenden kirchlichen Zentralismus. In den bald 40 Jahren seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist der Bogen römischer Führung oft überspannt worden. Viel zu wenig hat man mit dem konziliaren Pfund der Subsidiarität gewuchert. Eine gründliche Analyse findet sich bei Walter Kasper; sein Fazit lautet:

"Ist in der konkreten Anwendung der universalen Ordnung nicht eine gewisse Flexibilität gegeben, dann kümmern sich viele Seelsorger vor Ort nicht mehr um die nach ihrer Ansicht nicht praktikablen Normen, dann kommt es erst recht zu einem pastoralen Wildwuchs. Der Zentralismus schlägt dann in sein genaues Gegenteil um. Beschädigt wird dabei sowohl die Autorität des Papstes wie die der Bischöfe. Denn sie müssen mehr oder weniger ohnmächtig der Entstehung einer problematischen 'Pastoral von unten' zusehen, sind aber durch ihre Loyalität gegenüber Rom daran gehindert, eigenverantwortlich sach- und situationsgerechte Lösungen herbeizuführen, so wie es ihre Hirtenverantwortung ist. Ein Weniger an Dokumenten und an Einzelvorschriften Roms wäre in dieser Hinsicht ein Mehr an Autorität des Petrusamtes in den wirklich grundlegenden Fragen, welche die Einheit der Kirche berühren."(30)

So finden sich nicht wenige Gläubige in einer Lage, in der sich Bewunderung für die Persönlichkeit und Leistung des Papstes mit Kritik an seiner Amtsführung und am Verhalten der Römischen Kurie mischen.

Von der "Regierung aus dem Kabinett" zur "Kabinettsregierung"

Weshalb wäre die Entwicklung kollegialer Regierungsstrukturen eine wichtige Aufgabe bei künftigen Reformen der Kurie? Aus den gleichen Gründen, aus denen im weltlichen Bereich die "Regierung aus dem Kabinett" zu einer effektiven "Kabinettsregierung" weitergebildet wurde. Erstens: Ressortmacht muß eingebunden werden; sie darf sich nicht verselbständigen, sie muß als Teil dem Ganzen dienen - sonst mündet sie in unkontrollierte Alleingänge. Zweitens: Gesamtpolitik verlangt nicht nur die Abstimmung zwischen den Ressorts, sondern auch das gemeinsame Mittragen und Vertreten der getroffenen Entscheidungen durch alle Beteiligten nach dem Prinzip der Kollegialität. Drittens: Die Spitze kann nie allein regieren, sie bedarf vieler Hände und Helfer; sie bedarf einer effektiven und loyalen Verwaltung, die ihre Politik "umsetzt". Was ihr freilich niemand abnehmen kann, das ist die Pflicht, Richtlinien vorzugeben - und zwar für alle Handlungsbereiche vatikanischer Politik, nicht nur für besonders interessierende und im Augenblick gerade aktuelle Politikfelder. Zu Recht konstatiert Jan Roß ein selektives Interesse Johannes Pauls II. an institutionellen Fragen der Kirchenregierung:

"Die Chefs von Vatikanbehörden, für deren Arbeit er sich erwärmen kann, die mit Weltpolitik, Glaubensessentials oder Bischofsernennungen zu tun haben, gehen beim Papst aus und ein. Die anderen überläßt er weitgehend sich selbst."(31)

Aber ein Einwand: Wäre eine solchermaßen gestraffte, eine kooperativ und abgestimmt agierende Römische Kurie nicht den Versuchungen zentralistischer Herrschaft in noch höherem Maße ausgesetzt als das jetzige Nebeneinander "starker" und "schwacher" Ressorts? Dazu ist zweierlei zu sagen: Einmal ergeben sich aus dem Vorgang kollegialer Abstimmung auch wohltätige Hemmungen und Schranken für einen ungezügelten Aktionismus; sodann müßte bei künftigen Reformen der Kurie die Balance von Ortskirche und Weltkirche in den Mittelpunkt gerückt und institutionell gesichert werden.

Bezüglich des ersten Punktes bieten sich Beispiele aus jüngster Zeit an. Hätte man wohl nach vorheriger eingehender Beratung unter allen Betroffenen die Erklärung der Glaubenskongregation "Dominus Iesus" in der vorliegenden Form veröffentlicht? Ich meine nein. Schon die Verbindung zweier unterschiedlicher Themen - der Heilsuniversalität Christi im Verhältnis zu den Weltreligionen einerseits, des Verhältnisses der christlichen Kirchen zueinander anderseits - war ein Fehler; was im ersten Fall begreiflich und berechtigt war, die Abwehr einer pluralistischen Religionstheorie und die Betonung der Grenzen des Dialogs, war auf den zweiten Fall - die Ökumene - nicht übertragbar. Bezüglich der Ökumene geraten die Formulierungen von "Dominus Iesus" außerdem in eine Spannung zur Enzyklika Johannes Pauls II. "Ut unum sint" (1995). Dort heißt es in Nr. 13:

"Die Elemente der Heiligung und der Wahrheit, die in den anderen christlichen Kirchen in je unterschiedlichem Grad vorhanden sind, bilden in der Tat die objektive Grundlage der, wenn auch unvollkommenen Gemeinschaft, die zwischen ihnen und der katholischen Kirche besteht."

Auf diesem Hintergrund folgt nun die entscheidende Aussage: "In dem Maße, in dem diese Elemente in den anderen christlichen Gemeinschaften vorhanden sind, ist die eine Kirche Christi in ihnen wirksam gegenwärtig." - In "Dominus Iesus" scheint es dagegen so zu sein, als ob Gegenwärtigkeit und Wirksamkeit der Kirche Christi auf die Kirchen mit historischem Episkopat eingeschränkt wird. Dem entspricht es, daß im folgenden Text keinerlei positive Würdigung der Kirchlichkeit der anderen Gemeinschaft stattfindet und nur noch der christliche Einzelne (als Getaufter) in den Blick kommt. In "Dominus Iesus" wird außerdem ein Zitat aus "Ut unum sint" verkürzt. Es heißt in "Ut unum sint" Nr. 14: "Die Elemente dieser bereits gegebenen Kirche existieren in ihrer ganzen Fülle in der katholischen Kirche und noch nicht in dieser Fülle in den anderen Gemeinschaften, wo gewisse Aspekte des christlichen Geheimnisses bisweilen sogar wirkungsvoller zutage treten." Diese wichtige hermeneutische Anweisung nach dem Komma ist in "Dominus Iesus" schlicht weggelassen(32).

Beide Themen in einem Text abzuhandeln, mag der Logik eines Ressorts - der Glaubenskongregation - entsprechen; eine Debatte unter kollegialen, unter "Regierungs"gesichtspunkten hätte zumindest die Unterschiedlichkeit der Adressaten, das Wann und Wie sowie die Wirkungen bedenken müssen. Kein Wunder, daß nun aus dem Dokument in der öffentlichen Wahrnehmung nur die Vorbehalte gegenüber den evangelischen "Schwesterkirchen" ins Auge fielen und immer wieder zitiert wurden - mit höchst schädlichen Folgen für die ökumenische Zusammenarbeit in vielen mehrkonfessionellen Ländern der Welt. Ein Grundproblem scheint hier, wie auch bei früheren Kontroversen, darin zu liegen, daß "bei den lutherischen oder anglikanischen Kirchen geregelte Zuständigkeiten und Verfahrenswege zur Behandlung ökumenischer Gesprächsergebnisse bestehen, während Rom bisher offensichtlich von Fall zu Fall entscheidet, welche Strategie es bei einem solchen Vorgang jeweils verfolgt und welchen Zeitrahmen es dafür beansprucht. Hier liegt eine entscheidende Quelle für ökumenische Irritationen."(33)

Ein anderes Beispiel ist die Auseinandersetzung zwischen Rom und den deutschen Katholiken über Möglichkeiten und Grenzen, pastorale Chancen und Mißdeutungsgefahren bei der Schwangerschaftskonfliktberatung. Was viele Gläubige in Deutschland von Anfang an verwundete und verstörte, war nicht der päpstliche Einspruch als solcher, sondern die Tatsache, daß er sich einseitig, ja ausschließlich gegen ein Land richtete, das die Abtreibung - im Unterschied zu den meisten Ländern der Welt - nicht einfach freigegeben oder gar als "Recht der Frau" anerkannt hatte. Vor allem die Hürde der verpflichtend vorgeschriebenen Beratung gibt es nur in Deutschland; sie soll der Erhaltung des Lebens eine Chance geben, keineswegs der Tötung ungeborener Kinder vorarbeiten. Auch hier hätte eine kollegiale Beratung (nicht zuletzt mit einem als Partner ernstgenommenen deutschen Episkopat) die Unterschiedlichkeit nationaler Gegebenheiten deutlicher in den Blick rücken können. Päpstliche Weisungen gewinnen ja gerade dadurch an Verbindlichkeit, daß zuvor das Gelände erforscht, die Rechtstatsachen zur Kenntnis genommen und die Wirkungen bedacht werden. Nun bleibt - nachdem der Diskussionsprozeß durch eine Weisung beendet wurde - der fatale Eindruck zurück, daß in kritischen Situation die Nichtbeteiligung der Gläubigen, das Sich-Heraushalten aus Konflikten der sicherste Weg sei, jedenfalls am zuverlässigsten vor römischen Zensuren schütze. Die immer wieder vorgebrachte römische Begründung für den wesentlich leiseren Ton gegenüber der Abtreibungsgesetzgebung anderer Länder ("Da sind wir nicht involviert") ist doch wohl ein Pilatus-Argument, das sich selbst richtet.

Eine neue Balance von Orts- und Weltkirche

Schwieriger ist die Frage zu beurteilen, wie die Balance von Orts- und Weltkirche, von Primat und Episkopat im Rahmen einer Eigenständigkeit und Gemeinschaftlichkeit verbindenden Lehre von der Kirche zu meistern ist. Selbst Paul VI. rechnete dies zu den ungelöst gebliebenen Fragen seines Pontifikats(34). Manche Beobachter haben in jüngster Zeit Zweifel geäußert, ob eine grundlegende Änderung ohne die Schubwirkung eines neuen Konzils überhaupt zu erreichen sei(35). Man könnte meiner Meinung nach jedoch zumindest einen Anfang machen und - im Rahmen schon vorhandener Einrichtungen(36) - den Aufbau und die Arbeit kollegialer Regierungsstrukturen vorbereiten. So könnten einem künftigen "Kabinett des Papstes" nicht nur Kurienkardinäle und -bischöfe als Behördenleiter angehören, sondern - zur Hälfte - auch regierende Bischöfe aus der Weltkirche. Damit könnten die Gesichtspunkte der Ortskirchen besser zur Geltung gebracht werden.

Eine solche Reform hätte freilich mehrere Voraussetzungen. Erstens müßte eine einheitliche Struktur aller Dikasterien unter weitgehender Gleichstellung der Dikasteriumsleiter(37) erreicht werden. Denn die unterschiedliche Rechtsstellung und Funktion von Kongregationen und Räten ist ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zu einem wirklichen Konsistorium; außerdem führt sie ständig zu Fehlleistungen und Frustrationen. Zweitens reicht die jetzige Tagungsweise der Versammlungen - etwa fünfmal im Jahr - für eine Einrichtung in Permanenz nicht aus. Nötig wären regelmäßige (im Zweifel wöchentliche) Sitzungen, nötig wäre zugleich die gründliche aktenmäßige Vorbereitung mit schriftlichen Vorlagen und formeller Beschlußfassung. Offensichtlich gibt es über die bisherigen Versammlungen nur Pressemitteilungen, aber keine nachlesbaren Beschlüsse (oder werden sie nur nicht veröffentlicht?). Vor- und Nachbereitung solcher Sitzungen müßten also erheblich über das im Vatikan noch immer übliche "Regiment der Tischvorlagen" hinauswachsen, es müßte im voraus für einen gleichmäßigen Informationsstand aller Beteiligten gesorgt werden. Drittens müßten die Kurien-Minister durch Bischöfe der Ortskirchen ergänzt werden, die den jeweiligen Ressorts zuzuordnen wären - ein weites Feld und eine Aufgabe auf lange Sicht. Und viertens wäre für eine angemessene Rotation, nach Möglichkeit im fünfjährigen Abstand, Sorge zu tragen, damit sich nicht Verhärtung und Verteidigungsdenken und der Geist der Besitzstandswahrung ausbreiten - abgesehen davon,daß "Kabinette" generell ihre Zeit haben und dem Wechsel unterworfen sind.

Die nicht einfachen quantitativen und formalen Probleme einer solchen "Regierungsbildung" sind lösbar, wenn der Wille zur Reform vorhanden ist. Nach Accattoli(38) nehmen an den Versammlungen der Dikasteriumsleiter ungefähr 30 Personen teil. Reduziert man das Ganze auf den "harten Kern" (Staatssekretariat, Kongregationen, Räte), müßte eine Zahl von 22 "Kabinettsmitgliedern" erreichbar sein, was im unteren Durchschnitt heutiger weltlicher Ministerräte läge. Mit der Hinzunahme regierender Bischöfe der Weltkirche würde sich diese Zahl auf 44 verdoppeln. Das läge an der oberen Grenze, bliebe aber noch im Rahmen des international Üblichen. Auch Übergangs- und Zwischenformen wären denkbar.

Kollegiale Gesamtverantwortung: Transparenz und professionelles Krisenmanagement

Man sage nicht, solche Strukturänderungen seien einem Regierungssystem besonderer Art, wie es der Vatikan darstellt, nicht angemessen. Gerade die älteste Regierung Europas (im Sinn einer zentralen Behördenorganisation) sollte hinter modernen Fortentwicklungen des Regierens (im Sinn der ständigen, auch kontroversen, Beratung und der einheitlich-kollegialen Vertretung nach drinnen und draußen) nicht zurückbleiben. Das braucht Zeit und muß erprobt werden. Aber wäre es nicht ein Gewinn für alle, wenn in der Kirche wieder mehr Vertrauen wüchse? Man könnte dann auf manchen Aktionismus und auf die unentwegte Produktion von Erklärungen und Papieren verzichten, die längst das zuträgliche Maß und die Aufnahmefähigkeit vieler Gläubigen übersteigen.

Die heutigen Probleme kirchlichen Regierens liegen nach meiner Meinung nicht darin, daß sich dieses Regieren in weltweiten Dimensionen bewegt. Die katholische Kirche war - wie dargetan - immer ein "Global Player". Nicht Internationalität ist es, was sie lernen muß, sondern Transparenz, abgestimmtes Handeln, örtlich und zeitlich differenziertes Krisenmanagement. Zwischen den Blöcken des Prinzipiellen einerseits und der kurialen Fachverwaltung anderseits müßte etwas aufgebaut werden, was - natürlich mit den entsprechenden Modifikationen einer Regierung, einem Kabinett, einer kollegialen Gesamtverantwortung ähnlich sähe. Ich bin sicher, die Lage in der Kirche würde sich entspannen, wenn es eine solche beweglich reagierende Arbeits- und Vermittlungsinstanz gäbe. Im übrigen: Nicht jeden Übelstand in der Kirche kann und soll man auf eine umfassende "Gotteskrise" (Johann Baptist Metz) zurückführen. Manches ist auch Menschenwerk - Krise kirchlichen Regierens in bestimmten, nicht mehr angemessenen Formen. Dagegen kann man etwas tun: mit Hilfe der Regierenden selbst und ihrer Einsicht, mit Unterstützung aller "Christifideles", mit Hilfe einer breiten öffentlichen Meinungsbildung in der Kirche.

Nachtrag: Nach Abschluß des Manuskripts erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Januar 2001 Winfried Aymans' Artikel „Noch nie in Rom gewesen? Hans Maiers Kurienreform ist keine". Der Autor polemisiert gegen Leitsätze einer Kurienreform, die ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. Dezember 2000 vorgetragen habe; er vertritt die Ansicht, daß die wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine institutionelle Reform der Kurie noch nicht gegeben seien. Selbst der „große deutsche Kanonist" Klaus Mörsdorf habe sich der Bitte Erzbischof Benellis um Erstellung eines entsprechenden Gutachtens verweigert, da es dazu einer „umfassenden Binnenkenntnis der Abläufe in einer in Jahrhunderten gewachsenen Behörde bedürfe".

Mörsdorfs (von Aymans geteilte) Meinung ist für mich nichts anderes als eine Kapitulation vor einem offensichtlichen Behördenwildwuchs, der sich nur noch in jahrelangen Recherchen und Erkundungen vor Ort einigermaßen "transparent" machen läßt. Daß Kurienreform nach dem Urteil so bedeutender Fachleute derart schwierig (ja fast unmöglich) sein soll, zeigt nach meiner Meinung gerade, wie dringlich und unaufschiebbar sie ist.

In übrigen bestätigt Aymans meine Thesen: Erstens hat Papst Johannes Paul II. auch nach seiner Ansicht an der vom Vorgänger Papst Paul VI. angestrebten zentralen Kabinettsstruktur der Kurie "nicht festgehalten"; zweitens beschränkt sich Kollegialität innerhalb der kurialen Abläufe nach gegenwärtigem Stand auf die einzelnen Dikasterien (die in der Tat kollegial verfaßte Behörden sind); drittens erfolgen wechselseitige Abstimmung und Koordination im wesentlichen nur zwischen den Dikasterien ("Ministerien") der Kurie, auf Initiative des jeweils federführenden Ressorts. Das alles kann aber nach meiner Meinung die zentrale Koordination durch eine "Regierung", ein regelmäßig tagendes "Kabinett" nicht ersetzen. Man stelle sich ein profanes Kabinett vor, in der Abstimmung und Koordination der freien Initiative der einzelnen Ressorts unterliegen - es würde rasch in völligem Chaos enden!

Stimmen der Zeit (2001) 147-160

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