Czeslaw Milosz, der immer noch produktive Literaturnobelpreisträger des Jahres 1980, ist nicht nur der bedeutendste unter den lebenden Dichtern Polens, sondern auch bekannt für seine "metaphysische Lyrik". Diese wird in den gängigen Rückblicken auf sein Werk oft zu wenig gewürdigt. Mit seinen 92 Jahren kann Milosz auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Am 30. Juni 1911 im Litauischen Šeteiniai geboren, mußte er zunächst Vilnius (Wilna), die Stadt seiner Jugend, verlassen, nachdem dort 1940 die Rotarmisten einmarschiert waren. Später sah er sich gezwungen, auch Polen zu verlassen. Nach Kriegsende arbeitete er notgedrungen als Beamter des Außenministeriums bei den diplomatischen Vertretungen Volkspolens in New York, und es hat sechs Jahre gedauert (1945-1951), bis er sich zum Bruch mit dem kommunistischen Regime entschied und im Westen blieb. Zehn Jahre lebte er zunächst in Paris und veröffentlichte seine Texte in der dort herausgegebenen polnischen Exilzeitschrift bzw. im Verlag "Kultura". 1960 wurde er als Professor für Slawische Sprachen und Literatur an die University of California in Berkeley berufen, wo er 30 Jahre unterrichtete. Ein Besuch in Polen kam erst 1981 zustande, ein Jahr später, nachdem er - der in seinem eigenen Land durch die kommunistische Zensur zur Schattenexistenz verurteilte Schriftsteller - mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden war.
Zwischen Schattenexistenz und Nobelpreis
An die Bemühungen, Milosz in der Schulausbildung nach der Verleihung des Nobelpreises den ihm gebührenden Platz zu "gewähren", kann ich mich noch gut erinnern. Das wurde zunächst vorsichtig versucht, da der Freiheitskampf in Polen erst nach dem endgültigen Sturz des Kommunismus 1989 zu Ende war. Während der kurzen Freiheitsphase nach der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc (August 1980) bis zur Verhängung des Kriegsrechts (Dezember 1981) organisierten Schauspieler und andere Vertreter der Kultur unzählige Veranstaltungen in Schulen, an Universitäten und in Kirchen, um Milosz' Gedichte bekannt zu machen.
Milosz hat mehrere literarische Gattungen verwendet. Die Lyrik ist seine privilegierte Ausdrucksform, findet jedoch in seiner Prosa ihre Ergänzung. Seine literarische Tätigkeit zeichnet sich durch beständiges Suchen nach einer "ausdrucksstarken Form" aus. Das Ziel seiner Experimente ist eine Sprache, welche die erstrebte Wahrheit gebührend zu bezeugen vermag. Neben zahlreichen Gedichtbänden hat er auch Prosawerke wie "Verführtes Denken" (1953), "West- und Östliches Gelände" (1959), "Visionen über der Bucht von San Francisco" (1969), "Das Land Ulro" (1977) und Romane wie "Die Machtergreifung" (1953) oder "Tal der Issa" (1955) veröffentlicht. Es gibt auch interessante "Bücher-Sammlungen" von ihm, in denen er eine gezielte Auswahl von Gedichten anderer Autoren in eigener Übersetzung, vermischt mit eigenen Gedichten, vorlegt: "Private Pflichten" (1972) und "Die unfaßbare Erde" (1984). Milosz hat auch seine Korrespondenz mit einigen Autoren, unter anderem mit Thomas Merton (1991), veröffentlicht. Ein Jahr lang, von August 1987 bis Juli 1988, führte er ein Tagebuch, das unter dem Titel "Das Jahr des Jägers" erschienen ist. Bekannt sind auch seine philosophisch-theologischen Mini-Traktate, Übersetzungen einiger Bücher der Bibel (Ps, Ijob, Hld, Klgl, Koh, Rut, Est, Weish, außerdem Mk und Offb) sowie Übersetzungen von kurzen, von der Haiku-Kunst inspirierten Gedichten, die Augenblickserleuchtungen zu Papier bringen.
Im Jahr 1953 erschien die sozio-psychologische Stalinismusanalyse "Verführtes Denken". Karl Jaspers, der für die noch im selben Jahr veröffentlichte deutsche Fassung die Einführung schrieb, hielt Milosz' Analyse für einen moralischen Gewissensprotest, mit dem dieser die menschlichen Grundwerte verteidigen wollte. Die Umstände der Veröffentlichung haben Milosz irrtümlich den Ruf eines politischen Schriftstellers eingebracht. Sie ist aber vielmehr Frucht eines inneren Dialogs des Autors, den er jahrelang mit der Philosophie des "realen Sozialismus" sowie mit Kollegen führte, die diese Philosophie akzeptiert haben.
Die Einsamkeit ist untrennbar verbunden mit seinem Leben im Exil. Sie begegnet als Thema an vielen Stellen der Prosa Milosz'. Eines seiner wichtigen Bekenntnisse findet sich in der Einführung zum Gedichtband "Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang" (1980):
"Es fällt schwer die Einsamkeit zu akzeptieren. Gelingt das einem, dann wird er überreich belohnt. Und ich glaube, ein Dichter kann nur glaubwürdig schreiben, wenn er in seinem Leben zu bitteren Erfahrungen, zur Einsamkeit, ja sogar zur Niederlage das Ja zu sagen wagt."1
Ein solches Bekenntnis kann nur als Frucht der Auseinandersetzung mit schwierigen Erfahrungen, aber auch eines demütigen Sichfügens begriffen werden. Der Autor weiß: Schwierige Momente verlieren ihre bedrückende Kraft, werden sie nicht isoliert für sich, sondern als Teil des Lebensganzen betrachtet und wenn gute Erinnerungen ins Gedächtnis gerufen werden. Der Roman "Tal der Issa" ist in diesem Sinn eine Selbsttherapie. Milosz meint, dieses Buch sei einerseits "Rückkehr zu den sakramentalen, heiteren, erfreulichen Kindheitserfahrungen" und anderseits "Ausdruck des geistigen Leidens, der Zwietracht und Qual, einer Lebensabrechnung" 2. Die Hauptgestalt des Romans, ein heranwachsender Junge (das Alter ego des Verfassers) entdeckt Naturgesetze, die dem menschlichen Gefühl für das Gute zuwiderlaufen. Er entdeckt die Entzweiung im eigenen Inneren, die durch das gegenseitig sich ausschließende Streben eines Naturmenschen und einer geistigen Person bedingt ist. "Unde malum?" ("Woher kommt das Böse?") - so ließe sich verallgemeinernd die Grundfrage formulieren, die den Verfasser beschäftigt. Diese Frage begleitet Milosz, ähnlich einem Refrain, in seinem ganzen schriftstellerischen Schaffen. Da er in der traditionellen katholischen Dogmatik keine zufriedenstellende Antwort findet, beeinflußt - wie er immer wieder feststellt - "das manichäische Gift" sein Denken. Dieser Einfluß läßt sich an der in seinen Texten (besonders im "Tal der Issa") häufig auftauchenden Frage feststellen, ob die Natur und der Mensch nicht bloß passive Vollstrecker unerbittlicher und notwendiger Gesetze sind.
Das Land Ulro: Geistige Heimat der innerlich Verletzten
Der Dichter und Übersetzer Stanislaw Barañczak hält das 1977 erschienene Buch "Das Land Ulro" für Milosz' "Summe". Es enthält eine Sammlung gelehrter philosophisch- theologischer Analysen und Dialoge mit mehreren Autoren, die die moderne Aushöhlung religiöser Einbildungskraft zum Thema haben. Der Anfang dieser negativen Entwicklung hat für Milosz mit dem aufklärerischen Wissenskult zu tun. Unsere Zeit hat die Offenheit für die Welt als Symbol einer anderen, geistigen Wirklichkeit verloren. Dieser Verlust wird auch im Gedichtband "Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang"3 thematisiert:
Ich hatte nicht gedacht, daß ich leben würde in einem so seltsamen Moment,
Da der Gott der felsigen Höhen und Donner,
Herr der Heerscharen, Kyrios Zebaoth,
Die Menschen zutiefst erniedrigt,
Indem er sie tun läßt, was sie wollen,
Ihnen die Schlußfolgerungen wortlos überlassend (Oeconomia divina).
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Dabei sind wir doch ständig auf der Suche nach dieser anderen Wirklichkeit! Sie entzieht sich uns, aber wir ahnen, daß es diese Wirklichkeit gibt, weil sie uns - vermittelt durch unsere Welt - in Epiphanien anspricht. Die Epiphanien des "anderen Raumes" strahlen Licht aus, das uns den Sinn der Welt erschließt. Es scheint, daß sich Milosz in seiner ganzen schriftstellerischen Tätigkeit auf der Suche nach Wahrheit und somit nach der anderen Wirklichkeit befindet. Das bezeugen allein schon die Titel einiger seiner Gedichtbände: "Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang", "Hymne von der Perle", "Die unfaßbare Erde", "Weiteres Umfeld", "Am Ufer des Flusses" und vor allem die in den letzten Jahren herausgegebenen Bände "To" ("Dies da" bzw. "Das Eigentliche") und "Der andere Raum", die als Zusammenfassungen von Milosz' Überlegungen gelten können. Der besondere Wert seiner Dichtung liegt in der Wahrnehmung der Epiphanien des "anderen Raumes".
Der Titel "Das Land Ulro" stammt vom William Blake, der mit diesem symbolischen Begriff die geistige Heimat der innerlich Verletzten, Entwurzelten und Leidenden meinte. Milosz schreibt dazu:
"Ich wohnte in Ulro, lange bevor ich von Blake erfahren habe, wie diese Gegend überhaupt heißt. Ich konnte mich aber mit einer solchen Heimat überhaupt nicht anfreunden. Mehr, ich konnte kaum akzeptieren, daß ich dort gelandet bin."4
"Das Land Ulro" ist ein Zeugnis seines immer wieder gewagten Versuchs, dieses Fluchland zu verlassen. Er versuchte das im Dialog mit Autoren, die wie er mit dem aufklärerischen Wissenskult nicht einverstanden waren. Ihre Überlegungen wurzeln im Christentum. Sie gehen von der christlichen Botschaft aus, bleiben jedoch auf kritischer Distanz: Emanuel Swedenborg, William Blake, Adam Mickiewicz, Fedor Dostojewskij (Milosz hat in Berkeley Vorträge über ihn gehalten), Oskar W. Milosz, der während der Begegnungen in Frankreich großen Einfluß auf seinen jungen Verwandten ausgeübt hat, und Simone Weil, deren Schriften Milosz ins Polnische übersetzt hat. "Das Land Ulro" beinhaltet auch eine gründliche Auseinandersetzung mit Witold Gombrowicz. Dieser polnische Exilschriftsteller zählt zur Gruppe überzeugter Atheisten, die Milosz' bewundert hat. Geschätzt hat er an ihm die positive Lebenshaltung und den Respekt gegenüber ethischen Vorschriften, die für ihn nicht in einer religiösen Offenbarung, sondern nur im Gewissen wurzelten.
Dichtung als Wahrnehmung der Epiphanien des "anderen Raumes"
Milosz' Dichtung zeigt sein leidenschaftliches Interesse für die Welt. Seine Welteinstellung gleicht einer kontemplativen Beobachtung, die ihn zu besonderer Vertrautheit mit der Welt führt und in ihr aufgehoben sein läßt. So beschreibt er im Gedicht "Das Eine" aus dem Band "Chroniken" (1987) eine Ergriffenheit und Freude, die ihm beim Wandern in der Natur geschenkt werden5:
Tal und darüber Wälder in Farben des Herbstes.
Der Wanderer kommt, von der Landkarte hergeführt,
Vielleicht vom Gedächtnis. Einmal, längst, in der Sonne,
Als erster Schnee fiel, fuhr er hier durch
Und empfand Freude, eine heftige, ohne Grund,
Freude der Augen. Alles war Rhythmus
Vorbeiziehender Bäume, des Vogels im Flug,
Des Zuges auf dem Viadukt, ein Fest der Bewegung.
Er kehrt nach Jahren zurück, wunschlos.
Er will nur etwas, einzig Kostbares:
Nur reines namenloses Schauen sein,
Ohne Erwartung, ohne Hoffnungen, Ängste,
An der Grenze, wo ich und nicht-ich enden.
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Immer wieder greift Milosz auf Orte, Personen und Geschehnisse zurück, die in seinem Gedächtnis einen festen Platz haben, weil er spürt, daß er ihre Wahrheit noch nicht entdeckt hat. Das einzelne bürgt dafür, daß es einen Sinn gibt, der es übersteigt. Er selbst läßt sich von der Sehnsucht führen, diesen Sinn zu erfassen, der sich im kontemplativen Umgang mit der Welt erschließt ("Wenn der Mond" 6):
Wenn Frauen beim Mondschein in blumigen Kleidern spazieren,
Machen mich ihre Augen, Wimpern, die ganze Weltbeschaffenheit staunen,
Mir scheint, daß aus derart gewaltiger gegenseitiger Neigung
Endlich die letzte Wahrheit erfolgen könnte.
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"Die letzte Wahrheit" erfassen: Diesem Ziel soll nach Milosz die Dichtung dienen. Der Dichter ist "der Hirte des Seins" (Martin Heidegger), und er hat das Seiende zu retten und zu bereichern. Allerdings wird er den Sinn nie vollkommen erfassen, da er sich nur im Vorgriff erschließt. In einem solchen Moment - es sind nur momentane Erfahrungen - hat er den Eindruck, daß sich ihm die Wahrheit des Seins (das Sein in seiner Schönheit und Wahrheit) erschließt ("Gustl, der Verzauberte"7):
Schräges Feld und ein Horn,
Es dämmert, der Vogel fliegt tief, und die Wasser glitzern.
Die Segel haben sich für den Morgen hinter der Schlucht geöffnet.
Ich trat in das Innere einer Lilie ein über die Brücke des Türkenbundes.
Das Leben war gegeben, doch unerreichbar.
Vom Kindesalter bis zur Vergreisung Ekstase beim Sonnenaufgang.
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Schon im Jahr 1954 hält Milosz fest:
"So weit ist es mit mir gekommen, daß ich, nach den vielen Versuchen, der Welt einen Namen zu geben, einzig noch imstande bin, immer wieder das höchste, das einzige Bekenntnis, von keiner Macht überboten, zu wiederholen: ich bin - sie ist. Schreit, schmettert es in die Posaunen, bildet Festzüge, tausendfache, hüpft, zerreißt eure Kleider und wiederholt das eine: ist! Wozu hat man Seiten beschrieben, Tonnen, Kathedralen von Seiten, wenn ich stammle, als wäre ich der erste Mensch, der an den Ufern des Ozeans dem Watt entstiegen ist? Wozu taugen die Zivilisationen der Sonne, der rote Staub der zerfallenden Städte, die Rüstungen und die Motoren im Sand der Wüsten, wenn sie dem Wohlklang 'ist' nichts hinzugefügt haben? (Esse)."8
Milosz spricht hier von der schon angedeuteten Spannung: Die Wahrheit, der Sinn lockt und entzieht sich zugleich. Eine solche Erfahrung deutet darauf hin, daß uns die Wahrheit im Vorgriff schon zugänglich ist. Nehmen wir sie als solche wahr, dann bedeutet das, daß wir uns des absoluten Bezugspunktes unserer Erfahrung bewußt sind. Bei Milosz klingt es nach einem Bittgebet ("Takiego traktatu"9):
Möge unserer Sprache der absolute Bezug geschenkt werden und sie die Wirklichkeit, den Sinn erfaßt.
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Die Sinn- und Wahrheitsepiphanien verbinden sich für Milosz zunächst mit der Natur. Sie ist für ihn der privilegierte Ort ihrer Wahrnehmung ("Stunde"10):
Glimmende Sonne auf Blättern, eiferndes Brummen der Hummel,
Irgendwoher, hinterm Fluß, schläfriges Palaver
Und lästiges Hammerklopfen erfreuten nicht mich alleine.
Bevor die fünf Sinne geöffnet wurden und hellwach lauerten,
Eh es begonnen hatte, auf alle, die sterblich sich nennen,
Daß sie wie ich das Leben, das heißt das Glück lobpreisen.
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Diese Momentaufnahme ist mehr als ein flüchtig-freudiges Naturerlebnis. Die ganz gewöhnliche Alltagserfahrung gewinnt eine weitere Bedeutung: Die Harmonie in der Natur beglückt. Darüber hinaus kündigt sie aber auch zukünftige Vollendung an. Milosz deutet dies an, indem er die Betrachtungsperspektive umdreht: Da die beglückenden Momente immer schon da waren ("hellwach lauerten, eh es begonnen hatte"), bleibt auch unser Glück nicht an den Augenblick gebunden, sondern läßt uns auf Vollendung hoffen.
Milosz' Ephiphanien beginnen oft im vertrauten Umgang mit der Natur und finden ihre Vollendung im vertieften Einblick in das Leben überhaupt. Diese Dynamik läßt sich anhand des wichtigen Gedichts "Flüsse" 11 aus dem Band "Hymne von der Perle" (1982) verfolgen:
Mit verschiedenen Namen rühmte ich euch nur, Flüsse!
Ihr seid Honig und Liebe und Tod und Tanz.
Vom Quell in geheimen Grotten, der zwischen bemoosten Steinen sprudelt,
Wo die Göttin aus ihren Krügen lebendiges Wasser spendet,
Von hellen Brunnen auf Rasen, worunter Rinnsale murmeln,
Beginnt euer Lauf und mein Lauf, Begeisterung und Vergehen.
Der Sonne bot ich's Gesicht, nackt, selten mit dem Ruder steuernd,
Und vorbei huschten Eichenwälder, Wiesen, Föhrendickicht,
Hinter jeder Biegung öffnete sich vor mir der Boden der Verheißung,
Rauch der Dörfer, schläfrige Herden, fliegende Uferschwalben, Sandrutsch,
Langsam, Schritt für Schritt, trat ich ein in eure Wasser,
Und die Strömung nahm mich schweigend auf um die Knie,
Bis ich mich anvertraute und sie mich trug und ich schwamm
Durch den großen gespiegelten Himmel des triumphierenden Mittags.
Auch beim Anbruch der Sommernacht war ich an euren Ufern,
Als das volle Rund erscheint und Lippen sich feierlich einen.
Das Rauschen der Anlegestelle, wie damals hör ich es in mir
Als Ruf, Umarmung, Wohltat.
Mit dem Glockenschlag aller versunkenen Städte entfernen wir uns.
Von den Botschaften früherer Geschlechter werden die Vergessenen begrüßt.
Doch euer ständiger Drang treibt weiter und weiter.
Und weder war es noch ist es. Nur der ewige Augenblick dauert.
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Der Lauf der Flüsse spiegelt das Leben der Menschen wider: ihre Begeisterung, die Fülle im Augenblick und die Vergänglichkeit. Die Feststellung: "Ihr seid Honig und Liebe und Tod und Tanz" bekräftigt, daß die Naturbetrachtung einen ekstatischen Vorgriff auf das Lebensganze ermöglicht. Die Wandelbarkeit der Flüsse symbolisiert die überraschenden Geschenke der Lebensfülle. Der Vorgriff auf das Lebensganze ist die Frucht eines demütigen Sichfügens im Leben. "Der gespiegelte Himmel" und "der triumphierende Mittag" symbolisieren Momente der Fülle bzw. ein besonderes Lebensgefühl. Freiheit, die einer gewinnt, wenn er das Ja zum Leben wagt. Die aus der Vergangenheit schöpfende Erinnerung des Autors verbindet den Aufenthalt am Ufer des Flusses und das beruhigende Rauschen an der Anlegestelle mit der Nähe zum anderen Menschen und mit der Sehnsucht nach einer wahren Beziehung: "Auch beim Anbruch der Sommernacht war ich in euren Ufern, / Als das volle Rund erscheint und Lippen sich feierlich einen. / Das Rauschen an der Anlegestelle, wie damals hör ich es in mir / Als Ruf, Umarmung, Wohltat." "Die Sommernacht", "das erscheinende volle Rund" deuten den Vollmond an. Aber diese Naturerfahrung führt tiefer: Sie wird zur Bühne einer Liebesbeziehung. Es scheint, daß der in seiner Bedeutung offene Ausdruck: "das volle Rund erscheint" ganz gezielt gebraucht wurde. Er vermittelt den Eindruck, daß die Fülle (das Lebensganze) in der Beziehung zum anderen Menschen, das Einssein mit der Natur zur Voraussetzung hat12. Vielleicht geht es auch um die Beziehung zum Schöpfer? Die Betrachtung der "Flüsse" schließt mit einem Glockenschlag ab. Er ist ein Bote unseres Vergehens, und im Gedicht kommt das verstärkt durch den "Glockenschlag aller versunkenen Städte" zum Ausdruck. Aber die Glocken sind ein integraler Teil der Kirchtürme, die über die Städte emporsteigen. Und wer weiß, ob die eigentliche Botschaft des Glockenschlags nicht das "Versinken der Städte" (und somit die traurige Botschaft unserer Vergänglichkeit), sondern das Hervorheben der Fülle - im Vorgriff zugänglich - ist: "Und weder war es noch ist es. Nur der ewige Augenblick dauert."
Es ist bemerkenswert, daß für Milosz gerade die Natur der privilegierte Ort ekstatischer Erlebnisse ist: Die Natur läßt Geborgenheit erfahren, aber auch Entfremdung. In einem Interview gesteht er, schon als kleiner Junge die Welt von ihrer grausamen Seite erfahren zu haben. Die Spuren der Kindheitsentdeckung, daß das Hauptmerkmal der Natur: "natura devorans, natura devorata" ("verschlingende Natur, verschlungene Natur") heißt, findet sich im Roman "Das Land Ulro". Milosz erklärt seine ambivalente Natureinstellung einmal in Interviews für Renata Gorczyñska und Aleksander Fiut13. Einerseits verweist er da auf die Begeisterung und Geborgenheit, die ihm im vertrauten Umgang mit der Natur geschenkt wurden. Da er diese Erfahrung schon als Kind machen durfte, wirkt sie sich in seinem ganzen Leben aus. Anderseits gab es schwierige Phasen in der Pubertät, Kriegserfahrungen und das Interesse für Kirchengeschichte, insbesondere für Häresien (Gnosis und Manichäismus). Man kann sich fragen, warum Milosz trotz seiner Neigung zu einem manichäisch-gnostischen Naturpessimismus doch kein Vertreter einer dualistischen Weltauffassung geworden ist. Spielen dabei seine Kindheitserfahrungen eine Rolle? War es vielleicht seine katholische Erziehung? Wie auch immer: Naturerfahrungen haben ihn stark beeinflußt.
Epiphanien als verpflichtender Vorgriff auf das Lebensganze
Die Epiphanieerfahrung, von der Milosz spricht, ist ein Vorgriff auf die Lebensfülle: weniger ein aktives Erfassen, als vielmehr ein Erhobenwerden über sich selbst, wie in Begeisterung. Dafür spricht auch, daß er auf den jeweiligen Augenblick beschränkt bleibt und sich unserer Verfügungsgewalt entzieht. Das legt es nahe, von einem Geschenk und konsequenterweise von einer bestimmten Verpflichtung zu sprechen.
"Mittelbergheim", ein für unser Thema wichtiges Gedicht (aus dem Band "Tageslicht"), beginnt mit der Erinnerung einer Glückserfahrung in der Natur. Das Lauschen auf die Dinge und Geräusche des Alltags in der "geheiligten" Atmosphäre einer Kirchenglocke läßt den Autor einen Zustand des Einsseins mit der Wirklichkeit und der Vollendung erleben14:
Der Wein in den Fässern aus rheinischer Eiche schläft.
Die Kirchenglocke zwischen den Weingärten Mittelbergheims
Weckt mich. Ich höre die kleine Quelle
Plätschern im Zuber im Hof, das Klappern
Der Holzschuhe auf der Straße. Der trockene Tabak
Unter dem Dachfuß, die Pflüge und Holzräder
Und die Berghänge und der Herbst sind bei mir.
Noch hab ich die Augen geschlossen. Feuer, Gewalt, Kraft,
Treibe mich nicht, denn es ist noch zu früh.
Ich habe viele Jahre durchlebt und gefühlt wie in diesem
Traum, daß ich an die bewegliche Grenze rühre,
Hinter der Farbe und Klang sich erfüllen
Und wo dieser Erde Dinge zueinander finden.
Noch öffne mir nicht meinen Mund mit Gewalt,
Laß mich vertrauen, glauben, daß ich es erreichen werde,
Und laß mich rasten in Mittelbergheim.
Ich weiß, daß ich sollte.
Der Herbst und die Holzräder und die
Tabakblätter unter dem Dachfuß stehen bei mir.
Hier und überall ist mein Land,
Wohin ich mich wende, in welcher Sprache ich auch
Das Kinderlied, das Gespräch eines Liebespaares
Höre. Mehr als die anderen glücklich, nehme ich auf
Den Blick, das Lächeln, den Stern, die Seide,
Die auf der Rundung des Knies sich faltet. Heiter, offenen Blicks
Soll ich durch Berge gehen, im milden Glanzlicht des Tages
Zu Städten, Wegen, Gewässern, Sitten, Gebräuchen.
Feuer, Gewalt, Kraft, die du mich
In der Handfläche hältst, deren Furchen
Wie riesige Schluchten sind, vom Südwind Geglättet. Die du Sicherheit gibst
In der Stunde der Angst, in den Wochen des Zweifelns;
Es ist noch zu früh, mag reifen der Wein,
Die Reisenden mögen schlafen in Mittelbergheim.
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Die Epiphanie wird hier als Gefühl beschrieben, an eine bewegliche Grenze zu rühren, "hinter der Farbe und Klang sich erfüllen / und wo dieser Erde Dinge zueinander finden". Die Epiphanieerfahrung bürgt für ein Versprechen, eine Ansage in sich ("ich habe gefühlt ..."). "Eine bewegliche Grenze ... wo ... Dinge zueinander finden" deutet den Vorgriff auf die Lebensfülle an, die unverfügbar bleibt. Angesichts der Erfahrung von Fülle (Ganzheit), die sich entzieht, ist der im Gedicht geäußerte Wunsch: "Laß mich vertrauen, daß ich es erreichen werde", verständlich. Indes weiß man nicht genau, an wen der Verfasser seine Bitte richtet. Es ist aber deutlich, daß er sich als Beschenkter und Verpflichteter zugleich sieht. Das wird an anderen Bittwendungen des Gedichtes deutlich: "Feuer, Gewalt, Kraft, / Treibe mich nicht, denn es ist noch zu früh"; oder: "Noch öffne mir nicht meinen Mund mit Gewalt".
Offensichtlich erfährt sich Milosz in den Epiphanien in eine Beziehung versetzt. Er spricht von einer überwältigenden Kraft, die ihn "in der Handfläche hält". Sie gibt Sicherheit "in der Stunde der Angst, in den Wochen des Zweifelns". Milosz spricht von einer besonders intensiven Erfahrung: "Feuer ... treibe mich nicht". Daß er diese Erfahrung mit Feuer vergleicht, deutet einerseits auf die Sehnsucht nach Fülle und anderseits auf eine Verpflichtung hin ("Ich weiß, daß ich sollte"). Was für eine Verpflichtung ist gemeint? Der Autor führt uns noch tiefer in seinen Traum hinein. Da er sich "mehr als die anderen glücklich" fühlt, soll er "den Blick, das Lächeln, den Stern ..." aufnehmen und "durch Berge ... zu Städten, Wegen, Gewässern, Sitten, Gebräuchen" gehen. Das Leben, so wie es ist, soll aufgenommen werden. Die im Alltag erfahrenen Epiphanien des Lebensganzen ("Der Herbst und die Holzräder und die Tabakblätter unter dem Dachfuß stehen bei mir") befähigen, "durch Berge ... zu Städten" zu gehen.
Die Verpflichtung bezieht sich auf das Zeugnisgeben: Leben hat einen tieferen Sinn und weist auf eine Wirklichkeit außerhalb seiner selbst hin.
Bezüglich der Zeitdimension sind die Epiphanien an den jeweiligen Augenblick gebunden. In unserer Erfahrung wirkt sich ihr Vorgriff auf die Fülle so aus, daß wir über den jeweiligen Augenblick erhoben werden. Das Nacheinander der Zeitmomente bleibt für einen Augenblick stehen. Da das Lebensganze im Vorgriff schon vorhanden ist, ist auch der Wunsch, dieser Erfahrung Dauer zu verleihen, verständlich. Das Ganze bleibt jedoch unverfügbar. Milosz beschreibt diese ihm wohlvertraute Regung in folgender Meditation am Genfer See 15:
Rotbuchen, leuchtende Pappeln
Und steile Fichten hinter Oktobernebeln.
Der See dampft im Tal. Der Schnee liegt
Schon auf der anderen Seite des Berggrats.
Was bleibt vom Leben? Nur Licht,
Vor dem die Augen blinzeln an Sonnen-
Tagen. Es ist, so ist es,
Und keine Fähigkeit, keine Gabe
Reichen hinaus über das, was ist.
Und das unnütze Gedächtnis verliert seine Kraft.
Apfelwein riecht aus den Fässern. Der Probst mischt
Den Kalk mit dem Spaten vor dem Schulbau.
Dort läuft mein Sohn auf dem Pfad. Die Buben tragen
In Säcken Kastanien, am Hang gesammelt.
Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann
Soll, sagt der Prophet, meine Rechte verdorren.
Unterirdisches Beben erschüttert das, was ist,
Die Berge platzen, und die Wälder zerbrechen.
Von dem, was war, und von dem, was wird,
Berührt, fällt das, was ist, in Asche.
Die reine heftige Welt gärt aufs neue,
Und weder Erinnerung noch Verlangen hören auf.
Herbstnebel, in der Kindheit dieselben
Wie im reifen und wie im greisen Alter, euch
Werde ich nicht betrachten. Landschaften
Die uns mit wilder Wärme die Herzen nährten,
Wie seid ihr giftig, so daß der Mund verstummt,
Die Hände sich auf der Brust verschränken, der Blick
Dem der schläfrigen Tiere ähnelt. Und wer Ruhe findet,
Ordnung, den ewigen Augenblick darin, was ist,
Der vergeht ohne Spur. Du billigst das, was ist,
Zu zerstören und aus der Bewegung den ewigen
Augenblick zu bergen. So wie den Glanz
Auf dem Wasser des schwarzen Flusses? Ja.
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"Die Herbstlandschaft": "Fichten hinter Oktobernebeln", "Schnee ... auf der anderen Seite des Berggrats" weckt bei Milosz die Sinnfrage: "Was bleibt vom Leben?" Es bleibt: "Nur Licht, / Vor dem die Augen blinzeln an Sonnentagen". Dieses Blinzeln, ein natürliches Verhalten bei Sonnenschein, bekommt im Gedicht eine andere Bedeutung. Es betont die intensive Erfahrung des Lebensganzen (des Lichtes). Ein ähnliches Bild erscheint im Gedicht "Die Sonne" 16 aus dem Band "Rettung":
Wer die Welt malen will, so bunt sie ist,
Darf nie gerade in die Sonne sehn,
...
Knien soll er, den Blick aufs Gras gesenkt,
Die Strahlen sehn, wie sie die Erde bricht.
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Milosz zeigt sich in beiden der hier zitierten Gedichte davon überzeugt, daß die Epiphanien des Lebensganzen eine Gabe sind. Der Vorgriff auf das Lebensganze hängt mit der vertrauten Beziehung zur Natur bzw. mit einer demütigen Ja-Haltung im Leben ("knien soll er") zusammen. Die Überzeugung des Autors: "Und keine Fähigkeit, keine Gabe / Reichen hinaus über das, was ist", stellt unsere Epiphanieerfahrung nicht in Frage. Es geht vielmehr um die Betonung, daß die Antizipation des "anderen Raumes" "das, was ist" voraussetzt und daß sie keine Eigenleistung, sondern eine Gabe sei.
Der Gegenstand von Milosz' Betrachtung ist nicht nur die Natur, sondern auch der Alltag: "Der Probst mischt / Den Kalk mit dem Spaten", "Die Buben tragen / In Säcken Kastanien". Das Alltägliche zieht an: "Apfelwein riecht"; "Dort läuft mein Sohn". Milosz zitiert in diesem Zusammenhang aus dem Exilpsalm, der die Sehnsucht der vertriebenen Juden nach ihrem heiligen Ort, nach Jerusalem, zu Papier bringt: "Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem ...". Auf diese Weise gewinnt das Alltägliche die Bedeutung des Heiligen. Das ist, wie es scheint, ein neues Epiphaniebild. Die Epiphanie ist, wie schon betont, eine sich entziehende Gabe: "Von dem, was war, und von dem was wird, / Berührt, fällt das, was ist in Asche". Unsere Sehnsucht nach der Fülle stützt sich auf immer neue Erfahrungen.
Die Natur ist der privilegierte Ort für Milosz' Epiphanien, aber "ihre Landschaften" sind giftig. Sie lassen uns das Lebensganze erfahren, doch bleibt dies ein Verprechen. Mit Sicherheit wird enttäuscht, wer meint, er habe im Da-Sein "den ewigen Augenblick" gefunden, und dann doch "ohne Spur" vergehen muß. Man kann sich, wie Milosz' Gedichte immer wieder zeigen, kontemplativ für einen Augenblick in der anderen, vollendeten Welt wähnen, doch die ersehnte Fülle ist nicht aus eigener "Fähigkeit" zu erreichen, sondern als Geschenk zu empfangen. Es gilt, in aller Vergänglichkeit und Zerstörung den "ewigen Augenblick zu bergen". Er verpflichtet zum Gestalten des eigenen Lebens im Einklang mit der erfahrenen Fülle auf das Ganze hin. Der Dichter fragt sich, ob er dazu bereit ist und bejaht.
Das Verpflichtende der Epiphanieerfahrung kommt an mehreren Stellen des lyrischen Werkes von Milosz zum Ausdruck, vor allem in Gedichten, die auch eine religiöse Deutung der Epiphanien nahelegen. Beispielsweise greift Milosz im Gedicht "Von Engeln"17 die biblische Tradition auf und läßt Engel als Boten göttlicher Vorsehung über den "anderen Raum" und unseren Bezug zu ihm sprechen. Die Engel wandeln in seiner Betrachtung durch "die umgestülpte Welt, / Das schwere Gewebe, mit Sternen und Tieren bestickt". Dank dieser besonderen Perspektive ist es ihnen möglich "die wahren Nähte" zu betrachten. Die Auskunft, die sie darüber erteilen, erreicht leider nicht viele, weil sie nur kurz bei uns bleiben, und uns, wie in Milosz' Vision, mittels der Natur ansprechen:
Man hat euch die weißen Kleider genommen,
Die Flügel und selbst das Sein,
Ich glaube euch dennoch,
Boten.
Die umgestülpte Welt,
Das schwere Gewebe, bestickt mit Sternen und Tieren,
Durchwandelt ihr, die wahrhaftigen Nähte betrachtend.
Ihr rastet hier kurz,
Wohl in der Morgenstunde bei klarem Himmel,
In der Melodie, die ein Vogel nachsingt,
Oder im Duft der Äpfel im Abenddämmer,
Wenn Licht die Gärten verzaubert.
Man sagt, es hätte euch jemand erdacht,
Doch mich überzeugt das nicht.
Die Menschen haben sich selbst genauso erdacht.
Die Stimme - ist wohl Beweis
Weil sie ohne Zweifel von klaren Wesen herkommt,
Die leicht sind, beflügelt (warum auch nicht),
Mit Blitzen gegürtet.
Ich habe im Traum diese Stimme manchmal vernommen
Und, was noch seltsamer ist, in etwa verstanden
Den Ruf oder das Gebot in überirdischer Sprache:
bald ist es Tag,
noch einer,
tu, was du kannst.
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Es fällt nicht schwer, Parallelen zwischen der kurzen Rast göttlicher Boten in Milosz' Gedicht und dem augenblicklichen Vorgriff auf das Lebensganze in unserer Erfahrung zu sehen. Weil die Berührungen des "anderen Raumes" an den Erfahrungsaugenblick gebunden und uns erst dann zugänglich sind, wenn wir nach ihrem Sinn fragen, herrscht bezüglich der Engel und ihrer Botschaft Skepsis: Sie seien nur Erfindung von Menschen ("Man hat euch die weißen Kleider genommen, / Die Flügel, sogar das Sein"). Milosz beklagt zunächst die Verarmung der Einbildungskraft seiner Zeitgenossen, fügt aber hinzu: "Ich glaube euch dennoch, / Boten". Er schreibt nicht: "Ich glaube, es gibt euch", sondern: "ich glaube euch". Damit bekennt er, daß die Botschaft göttlicher Boten verläßlich ist. Ja, der Autor begreift den Ruf, Tag für Tag, sich für das Ganze einzusetzen, als "Stimme" der Engel. Es ist faszinierend, wie Milosz mit Hilfe eines alten biblischen Bildes zu neuer Sprachqualität bzw. Metaphorik findet, die ihm wichtige metaphysische Aussagen über die Berührungen des "anderen Raumes" erlaubt.
Die Epiphanien ermöglichen als Antizipation des Lebensganzen Zukunftsorientierung. Ja, sie verpflichten sogar dazu, die Gegenwart auf das Ganze hin zu gestalten. Die Verpflichtung setzt aber die Befähigung voraus. Diese Dimension in Milosz' Epiphanien läßt sich an zwei Texten zeigen, die er im Abstand von 30 Jahren geschrieben hat: "Gabe" (1971) aus dem Band "Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang" und "Obudzony" ("Aufgeweckt") aus dem Werk "To" (2001). Hier gibt Milosz Einblick in die innere, auf die Ephiphanieerfahrungen zurückgehende Verwandlung in seinem eigenen Leben. Es sind Begebenheiten in Natur und Alltag, doch scheint ihre Quelle außerhalb dieser Welt zu liegen. So in die "Gabe"18:
Der Tag war so glücklich.
Der Nebel fiel früh herab,
ich hatte im Garten zu schaffen.
Die Kolibris rasteten an der Blüte des Kaprifoliums.
Es gab in der Welt kein Ding, das ich hätte haben wollen.
Ich kannte niemanden, den ich beneiden müßte.
Was Böses geschehen war, hab ich vergessen.
Ich schämte mich nicht zu denken, ich sei, wer ich bin.
Ich spürte keinerlei Schmerz im Leibe.
Aufgerichtet sah ich das blaue Meer und die Segel.
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Milosz erfährt während der Arbeit im Garten eine Ruhe, die ihn zutiefst erfüllt, und diese Verwandlung ist für ihn ein Geschenk. Er beschreibt sie wie eine Heilung, die er erlebte. Er spricht nicht nur vom unerwarteten Zur-Ruhe-Kommen ungesunden Begehrens, sondern auch von der Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit. Diese innere Verwandlung vollendet sich in einer neuen Perspektive. Der mit sich selbst versöhnte Autor blickt zuversichtlich in die Zukunft ("Aufgerichtet sah ich das blaue Meer und die Segel").
Deutet dieses kontemplative Da-Sein in der Natur, das zu einer so tiefgreifenden Verwandlung befähigt, nicht auf eine andere Wirklichkeit hin? Die Frage läßt sich anhand der "Gabe" noch nicht definitiv beantworten, doch erlaubt das spätere Gedicht "Aufgeweckt", das gleichfalls ein unerwartetes Glücksgefühl zum Thema hat, eine Erklärung, und in ihr steht der "andere Raum" im Vordergrund. Auch hier entspringt das Glück des vom nächtlichen Schlaf erwachten Autors dem plötzlichen Versöhntwerden mit der eigenen Vergangenheit. Die belastende Erinnerung wurde jedoch nicht einfach weggewischt. Während die "Gabe" vom heilsamen Vergessen des Bösen in der eigenen Vergangenheit spricht, geht es in "Aufgeweckt" um einen tieferen Wandel, in dem die schwierigen Erfahrungen als notwendiger Bestandteil des Lebensganzen gewertet erscheinen:
"In vorgerücktem Alter, gesundheitlich angeschlagen, wachte ich mitten in der Nacht auf und in diesem Augenblick habe ich es erfahren. Es war ein überdimensionales, allumfassendes Glück, von dem ich im bisherigen Leben nur Bruchstücke erfahren durfte. Ich wußte keinen Grund für dieses Glück. Weder das Bewußtsein des Vergangenen, noch der mich quälende Kummer wurden weggewischt. Aber plötzlich war mir klar: Sie sind ein notwendiger Teil des Lebensganzen. Es war so, als hätte ich eine beruhigende Stimme gehört: 'Mach' dir keine Sorgen. Alles geschah, so wie es vorgesehen war. Du hast getan, was von dir erwartet wurde. Und du brauchst nicht mehr an die vergangenen Dinge zu denken'. Ich wurde in eine Stimmung versetzt, die man als Ruhe beim Abschließen einer Rechnung bezeichnen könnte. Auch der Gedanke an den Tod war da. Ich empfand das Glück auf dieser Seite als Ankündigung des Gleichen auf der anderen Seite. Es war mir klar, daß ich eine unerwartete Gabe bekam und wußte den Grund nicht, warum ich diese Gnade empfing."19
Aus dem Ja zu sich selbst und zur eigenen Geschichte resultiert der zuversichtliche Blick in die Zukunft. Dabei geht es aber nicht um irgendeine Zukunft. Vielmehr beschreibt Milosz hier die unerwartet geschenkte Glückserfahrung aufgrund ihrer Tiefe als Ankündigung der Vollendung im "anderen Raum".
Der "andere Raum" und die aufsteigenden Zweifel
Die Tatsache, daß die Epiphanien unverfügbare Antizipationen des "anderen Raumes" sind, erklärt, warum sich auch Zweifel melden. So in dem Gedicht "Sinn" (1988) aus dem Band "Weiteres Umfeld"20:
Wenn ich sterbe, sehe ich das Unterfutter der Welt.
Die andere Seite, hinter dem Vogel, dem Berg und dem Untergang der Sonne.
Sie rufen danach, die wahre Bedeutung zu entziffern.
Was nicht gestimmt hat, wird stimmen.
Was unbegreiflich, wird begriffen.
Und wenn es kein Unterfutter der Welt gibt?
Wenn die Drossel auf dem Zweig überhaupt kein Zeichen ist,
Nur eine Drossel auf dem Zweig, wenn Tag und Nacht
Aufeinander folgen, ohne einen Sinn zu beachten,
Und es nichts auf der Erde gibt außer der Erde?
Wäre es so, dann bleibt immerhin
Das Wort, das einmal vom unbeständigen Mund geweckte,
Der unermüdliche Botschafter, läuft und läuft,
Zu den interplanetarischen Feldern, zu den Galaxien,
Und protestiert, ruft, schreit.
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Die aufsteigenden Zweifel faßt Milosz in der Frage zusammen: "Und wenn es kein Unterfutter der Welt gibt?" Anders als in späteren Texten läßt er die Antwort offen und verweist auf ein Wort, das, "von unbeständigem Mund geweckt", zu den Galaxien schreien würde. Dieses Wort könnte als Schriftwort verstanden werden. Als solches könnte es ein Protest gegen Verhaltensmuster sein, die dem positivistischen Grundsatz folgen, es gebe nichts auf Erden außer der Erde. Vielleicht kommt dieser Protest aus der Sehnsucht nach dem "anderen Raum", der im Vorgriff schon erfahren wurde und sich nicht mehr aus dem Gedächtnis tilgen läßt? Auch das Poem "Ksiadz Seweryn" ("Der Pfarrer Severin") thematisiert den Zweifel, bewältigt ihn aber anders. Milosz greift darin zu einer besonderen literarischen Technik: Er spricht in der Rolle des Priesters. Dadurch gewinnen seine Fragen nach dem anderen Raum und die dort angemeldeten Zweifel an Gewicht. Das Zeugnis der Vertrautheit mit dem Schöpfer ("Ich spürte deinen warmen Atem auf meinem Nacken und Rücken" / "Du selber hast uns auf dein Bild hin geschaffen"21) hebt brennende Fragen nach dem Sinn des Leidens ("Ich kann es kaum glauben, daß du es gewollt hast"22) und nach dem anderen Raum nicht auf ("Und wenn all das nur unser Traum sei?" 23). Der Text kann als Gebet bzw. als Gewissenserforschung eines Menschen angesehen werden, der - ohne die belastenden Fragen zu verschweigen - nach Halt und Geborgenheit im Leben sucht. Der alternde Verfasser scheint nicht so sehr nach Antwort auf die ihn lebenslang begleitenden Fragen zu suchen, sondern nach Hoffnung, um die ganzheitliche Schau nicht zu verlieren. Die Frage: "Ich begreife nicht, wie du eine Welt schaffen konntest / Die der Mensch zutiefst fremd und erbarmunglos empfindet"24 hindert ihn nicht an der Einsicht, daß Gott Wege wählt, die dem Wohl des Menschen dienen, aber sein Begreifen übersteigen25. So geht die Enttäuschung über in ein Bittgebet: Möge sich der leidende Rabbi, der Gott als Vater offenbart hat, für ihn einsetzen und ihn dorthin führen, "wo nur das göttliche Licht wohnt" 26. Zu solchem Vertrauen hatte Milosz im Gedicht "Sinn" noch nicht gefunden.
Am Ende von "Entweder - Oder" löst Milosz den Zweifel, ob es den "anderen Raum" gibt oder nicht, mit einem Vorschlag27:
Möge das Los nach dem Tod uns nicht ängstigen,
Und wir hier auf Erden nach Erlösung suchen
Gutes nach Maß, das uns zusteht, erweisen
Und Böses den anderen verzeihen. Amen.
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Die Botschaft ist unzweideutig. Das Wohlwollen anderen gegenüber beruhigt die Sorge, wie man in den "anderen Raum" gelangt. Die wohlwollende Gesinnung und ein offenes Herz für andere gewähren uns eine außerintellektuelle Sicherheit. Immer wieder äußert er in diesem Werk die Überzeugung, daß uns unsere Jenseits- Sehnsucht nicht vom Diesseits entfremden, sondern ganz im Gegenteil sich an der Befähigung zur Ja-Haltung "hier auf Erden" bewähren soll.
"Der andere Raum" ist uns im Vorgriff zugänglich, aber er erschließt sich nicht, wenn wir "gerade in die Sonne sehn", sondern mit dem "Blick aufs Gras gesenkt die Strahlen sehn, wie sie die Erde bricht". Dieser Vorgriff bedarf eines besonderen Lichtes und einer besonderen Weltwahrnehmung. Beides ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Gabe. Nicht wenige Gedichte Milosz' haben deswegen Bitt- bzw. Gebetscharakter. In ihnen wendet sich Milosz direkt an den Schöpfer: mit existentiellen Fragen, mit Bitten, nicht selten mit Enttäuschungen. In den Bänden "To" und "Der andere Raum" legt er eine Lebensbilanz vor, in der er offen über den nahenden Tod spricht und sich der göttlichen Vorsehung anvertraut.
Verwandlung der Wahrnehmung im Gebet
Vor 20 Jahren schrieb Milosz in dem Band "Die unfaßbare Erde" ein Gedicht mit dem Titel "Vom Gebet"28, das sein Verständnis von den Epiphanien des "anderen Raumes" nochmals beleuchten kann:
Du fragst, wie beten zu einem, der nicht da ist.
Ich weiß nur, daß das Gebet eine Brücke baut aus Samt,
Die wir begehen, hüpfend wie auf einem Sprungbrett,
Über die farbigen Landschaften in höchster Goldprobe,
Verwandelt durch ein magisches Innehalten der Sonne.
Diese Brücke führt zum Ufer der Umkehr hin,
Wo alles schon umgekehrt und wo das Wort "ist"
Den kaum zu ahnenden Sinn enthüllt.
Merke, ich sage "wir". Jeder fühlt dort einzeln
Mitleid mit den anderen, den in Körper verstrickten,
Und weiß, selbst wenn es das andre Ufer nicht gäbe,
Sie würden die Brücke über der Erde genauso betreten.
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Der Autor vergleicht das Beten mit einem Brückenbau. Es soll eine Brücke aus Samt sein. Betend begehen wir diese Brücke, "hüpfend wie auf einem Sprungbrett". Wir merken, daß wir uns über die Landschaften erheben und nehmen sie verwandelt "durch ein magisches Innehalten der Sonne" wahr. Die Verwandlung betrifft die Landschaften, aber auch unsere Wahrnehmung. Das geschieht im Gebet dank Entfernung und Distanz ("hüpfen ... über Landschaften")29. Das Gebet führt aber auch zum "Ufer der Umkehr hin", wobei Milosz wohl den "anderen Raum" im Blick hat. Der "andere Raum" ist im Vorgriff zugänglich, erfordert aber eine radikale Veränderung unserer Wahrnehmung. Auch die Behauptung, im Gebet enthülle das Wort "'ist' den kaum zu ahnenden Sinn", legt die radikale Wahrnehmungsänderung nahe.
Milosz zeigt sich überzeugt: Gäbe es "das andere Ufer" nicht, "würden (wir) die Brücke über der Erde genauso betreten". Diese paradoxe Aussage bekräftigt den Eingangssatz ("Du fragst, wie beten zu einem, der nicht da ist"), daß sich uns der "andere Raum", zu dem wir im Gebet Zugang suchen, entzieht. Aber die Entschlossenheit, mit der wir die Gebetsbrücke betreten - und dies ohne die Garantie des anderen Ufers -, beweist, daß uns ein Vorwissen über das andere Ufer geschenkt ist.
Stimmen der Zeit (2003) 260-276