Im Jahr 1971 veröffentlichten das Ökumenische Patriarchat in Konstantinopel und das vatikanische Einheitssekretariat gemeinsam einen Band mit dem Titel „Tomos Agapis“, der 1978 auch in deutscher Sprache publiziert wurde1. Den Inhalt verrät eher der Untertitel: „Dokumentation zum Dialog der Liebe zwischen dem Hl. Stuhl und dem ökumenischen Patriarchat 1958-1976“2. Eigentlich war „Tomos Agapis“ bereits besetzt, denn 1698 hatte der in der orthodoxen Welt hochgeschätzte Patriarch von Jerusalem, Dositheos, unter diesem Titel eine massive Polemik gegen die lateinischen Ketzereien geschrieben. Nun wurden unter demselben Buchtitel die Dokumente veröffentlicht, die in den Jahren zwischen der Wahl von Papst Johannes XXIII. und dem Abschluß des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Erklärung beider Kirchen führten, daß der Bann von 1054 dem Vergessen anheimgegeben werden solle.
Die Ereignisse von 1054
1. Die historische Einordnung. Der Bann von 1054 war durch erhebliche Erschütterungen sowohl in der westlichen als auch in der östlichen Christenheit bedingt: Im Westen war seit 1049 Leo IX. Papst. Er wollte die Kirche nach innen und außen im Sinn der cluniazensischen Bewegung reformieren und kämpfte dabei besonders gegen die Simonie, den Kauf geistlicher Würden, und den Nikolaitismus, die Priesterehe. Das Primatsbewußtsein war dabei höchst lebendig, richtete sich aber vor allem auf das Verhältnis zu den weltlichen Fürsten, insbesondere zum Kaiser, war also nicht einfach identisch mit den Primatsansprüchen, wie sie im Ersten Vatikanum definiert wurden.
Das Verhältnis zwischen der lateinischen und der griechischen Christenheit war seit dem Anfang des 11. Jahrhunderts angespannt, der Name des Papstes war aus den Diptychen, den Fürbittenlisten der griechischen Liturgie gestrichen. Eine konkrete Herausforderung für beide Seiten stellten die Ereignisse in Süditalien dar, wo die Normannen Kirchen und Klöster plünderten. Der Papst rief zu einem Befreiungskrieg gegen die Normannen auf, obwohl das Gebiet unter orthodoxer Jurisdiktion stand. Er führte eine Heeresmacht nach Süden, wurde im Jahr 1043 vernichtend geschlagen und geriet selbst für neun Monate in normannische Gefangenschaft.
Im Osten gab es erhebliche Spannungen zwischen dem Kaiser und dem Patriarchen. Michael Kerullarios (1043-1058) war eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte der Patriarchen von Konstantinopel. Er erhob massive politische Ansprüche, die mit den Befugnissen des Kaisers kollidierten. So soll er die sogenannte Konstantinische Schenkung auf seinen Bischofsstuhl bezogen und daraus quasikaiserliche Rechte abgeleitet haben. Ein Konflikt mit dem eher schwachen Kaiser Konstantin IX. (1042-1055) konnte nicht ausbleiben. Während der Kaiser versuchte, durch Verständigung mit dem Papst den Herausforderungen in Süditalien zu begegnen, begann der Patriarch, vor allem um den Kaiser zu treffen, einen „Feldzug zur Diskriminierung der lateinischen Kirche“3. Es kam in Konstantinopel zu unwürdigen Auftritten gegen die Lateiner, die das Klima massiv belasteten.
Im Gegenzug wandte sich der Kaiser an den Papst mit dem Wunsch nach Kirchenfrieden als Bedingung einer politischen Union. Leo IX. sandte eine Delegation nach Konstantinopel, an deren Spitze der schroffe Kardinal Humbert von Silva Candida stand. Sie wurde vom Kaiser ehrenvoll empfangen, der Besuch beim Patriarchen war dagegen, wie nicht anders zu erwarten, höchst frostig. Der Patriarch hat in vehementer Polemik gegen den Kaiser und die westliche Kirche die Stimmung angeheizt; die Legaten beschlossen daraufhin, unter Protest abzureisen. Dabei hat Kardinal Humbert am 17. Juli 1054 in einem feierlichen Akt eine Bannbulle gegen den Patriarchen und seine Helfer auf dem Altar der Hagia Sophia niedergelegt. Anschließend verabschiedete sich die Delegation in aller Freundschaft vom Kaiser und machte sich auf die Rückreise. Es ist unsicher, ob der Kaiser bei diesem Abschiedsbesuch den Inhalt der Bannbulle bereits kannte. Eine Woche später, am 24. Juli 1054, versammelte der Patriarch eine Synode, die nun ihrerseits den Kirchenbann gegen die lateinischen Legaten und ihre Hintermänner verkündete. Diese beiden Bannsprüche bilden das „Schisma“ von 1054.
2. Wer wurde gebannt? Die Bannflüche vom Juli 1054 haben eine Geschichte aus sich entlassen, die weit über das hinausgeht, was die beiden Kirchenführer jeweils im Blick hatten. Das Anathem der römischen Delegation galt Michael Kerullarios sowie Erzbischof Leon von Ochrid und Konstantin-Nikephoros, dem Kanzler des Patriarchen. Darüber hinaus wurden gebannt „all die, welche ihnen in den erwähnten Irrtümern und kühnen Anmaßungen folgen“4. Offensichtlich sollte damit nicht die östliche Christenheit als Ganze getroffen werden, denn im gleichen Dekret wird davon gesprochen, daß „das glorreiche Kaiserpaar, der Klerus und das Volk dieser Stadt Konstantinopel ... sehr christlich und rechtgläubig“ seien. Es ging der lateinischen Delegation offensichtlich darum, den Riß zwischen dem Kaiser und dem Patriarchen zu vertiefen. In der Antwort des Patriarchen und der Synode vom 24. Juli wurden mit dem Bann belegt „dieses gottlose Schriftstück“ sowie „jene, die es veröffentlicht und geschrieben oder auf irgendeine Weise ihre Zustimmung dazu gegeben oder es ermutigt hatten“ und alle, „die den orthodoxen Glauben schmähten“5. Auch diese Formulierung richtet sich gegen konkrete Personen6. Sie galt nicht dem Papst, der andernfalls hätte erwähnt werden müssen. Zudem war Papst Leo IX. bereits vor der gegenseitigen Bannverfügung verstorben. Damit stellt sich zudem die Frage, ob das Dekret Humberts nicht von vornherein seiner rechtlichen Basis entbehrte, weil seine Vollmacht mit dem Tod des Papstes erloschen war.
3. Was wurde verurteilt? Verurteilt wurden im Dekret des Humbert alle, die bestimmten Irrlehren anhingen oder Mißbräuche pflegten: Simonisten, die die Gabe Gottes verkaufen; Valesier, die ihre Gäste zu Eunuchen und dann zu Klerikern machen; Arianer, die Lateiner wiedertaufen; Donatisten, die behaupten, das Opfer Christi und die Taufe seien außer in der orthodoxen Kirche untergegangen; Nikolaiten, die die Priesterehe gestatten; Severianer, die das Gesetz des Mose ablehnen; Pneumatomachen, die das Filioque aus dem Credo getilgt haben; Manichäer, die behaupten, das gesäuerte Brot sei beseelt; die Nazarener, die Kinder vor dem achten Tag nicht taufen. Der östlichen Christenheit wird angelastet, daß sich ihre Diener Bart und Haare wachsen lassen, daß der Bischof von Konstantinopel den Titel eines ökumenischen Patriarchen beansprucht. In der Zurückweisung der Beschuldigung, die westlichen Kirchen seien „Azymiten“, weil sie bei der Eucharistie ungesäuertes Brot („Azymen“) verwenden, werden alle, die die römische Kirche und ihr Meßopfer angreifen, als „prozymitische Häretiker“ verurteilt.
Von Seiten des Patriarchats von Konstantinopel werden allgemein jene gebannt, „die den orthodoxen Glauben schmähten“, also die Verfasser der Bannbulle und jene, die die genannten Angriffe auf die orthodoxe Lehre und Praxis teilen. Konkrete häretische Positionen werden nicht genannt. Im Zentrum der Polemik des Michael Kerullarios standen der Gebrauch der Azymen in der lateinischen Kirche sowie das Samstagfasten. Es ging also primär um abweichende Riten.
4. Die unmittelbaren Folgen des Banns. Dem Patriarchen kam die Verschärfung des Konflikts mit Rom gelegten. Er spitzte die Kontroverse weiter zu, indem er behauptete, die lateinischen Delegaten „legten auf dem Altar in der Großkirche Gottes ein Schriftstück nieder, mit dem sie Uns (gemeint ist der Patriarch), nein vielmehr die orthodoxe Kirche Gottes und alle Orthodoxen, die von jenen gottlosen Dogmen nicht verführt wurden, ... mit der Exkommunikation belegten“7. Trotzdem nahm das Kirchenvolk von diesen Bannsprüchen kaum Kenntnis, die byzantinische Geschichtsschreibung sah in ihnen keine Kirchentrennung8. Auch die Kirchen des Ostens folgten der Politik des ökumenischen Patriarchen keineswegs vorbehaltlos. Vor allem der Patriarch Petros III. von Antiochien war nicht geneigt, auf die Linie des Kerullarios einzuschwenken9. Es gab auch weiterhin Heiligentranslationen, und selbst die Eucharistiegemeinschaft war nicht tangiert, wie Berichte von Pilgern belegen, die vom Westen über Konstantinopel ins Heilige Land reisten. Die Theologen hatten wenig Lust, dogmatische Differenzen hochzuspielen. Man beschränkte sich zumeist auf eine Rüge gegenüber den Besonderheiten der westlichen Kirchen, schrieb diese der sprachlichen Insuffizienz der Lateiner zu, ohne daraus kirchentrennende dogmatische Differenzen herzuleiten. Das Filioque - die westliche Einfügung in das Credo, daß der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn ausgeht -, das die spätere Diskussion dominieren sollte, spielte im 11. Jahrhundert noch kaum eine Rolle.
Auch im Westen hat man sich zunächst nicht auf die Ereignisse von 1054 bezogen, wenn man über das Verhältnis zur griechischen Kirche nachdachte. Wann und wodurch es zum Schisma zwischen Ost und West gekommen war, blieb zumindest bis zur Plünderung Konstantinopels durch das Kreuzfahrerheer 1204 eine offene Frage10.
II. „Dem Vergessen anheimfallen lassen“
1. Die Vorgeschichte. Das Mißtrauen zwischen den Kirchen blieb, jedenfalls auf offizieller Ebene, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, weithin unverändert. Eine erste Initiative zu einer Verbesserung des Klimas ging von Patriarch Athenagoras I. aus, der anläßlich der Erkrankung und des Todes von Papst Pius XII. sowie der Wahl von Johannes XXIII. im Oktober 1958 kondolierte bzw. gratulierte. Allerdings geschah das nicht direkt, sondern über Pressemitteilungen, die allerdings in Rom mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen wurden. Seitens des Vatikans wurde das Eis in der Weihnachtsbotschaft von Johannes XXIII. im Dezember 1958 gebrochen. Hier finden sich bemerkenswerte Äußerungen über die Verpflichtung zur Einigung der Christenheit, wobei die orthodoxen Kirchen besonders hervorgehoben wurden. Die Zeichen gegenseitiger Wertschätzung mehrten sich in den folgenden Monaten. Bald wurden direkte Botschaften und Briefe ausgetauscht, im Dezember 1961 dann auch Geschenke übermittelt.
Eine neue Dimension bekamen die Kontakte mit der Ankündigung eines ökumenischen Konzils. Das stellte die Orthodoxie vor eine erhebliche Herausforderung: Auf der einen Seite begrüßte man, daß sich Rom nach seiner Konzentration auf den Primat wieder dem Gedanken der Konziliarität öffnete, anderseits implizierte die Ankündigung eines ökumenischen Konzils den Anspruch Roms, die Kirche Jesu Christi ökumenisch umfassend zu realisieren. Daß die Frage der Einheit der Christenheit im Konzil eine gewichtige Rolle spielen sollte, wurde durch die Schaffung des „Sekretariats zur Förderung der Einheit unter den Christen“ deutlich.
Patriarch Athenagoras lud 1961 zu einer panorthodoxen Konferenz nach Rhodos ein. Dort sollte die Antwort auf die Konzilsankündigung formuliert und die Vorbereitung einer panorthodoxen Synode in Angriff genommen werden. Auf die Einladung des Papstes, Beobachter zum Konzil zu senden, reagierten die orthodoxen Kirchen zurückhaltend. Nach Rücksprache mit anderen orthodoxen Kirchen bezeichnete die Patriarchalsynode von Konstantinopel „die Entsendung von orthodoxen Beobachtern zum Konzil als nicht möglich“ (TA 22). Überraschenderweise sandte dann jedoch das Moskauer Patriarchat bereits zur ersten Sitzungsperiode zwei Beobachter, die buchstäblich in letzter Minute im Vatikan eintrafen11.
Die zweite panorthodoxe Konferenz im September 1962 in Rhodos befaßte sich ausschließlich mit den Beziehungen zur katholischen Kirche. Die Mehrzahl der Delegierten äußerte zwar Bedenken gegen die Entsendung von Beobachtern, dennoch wurde, nachdem Moskau bereits Fakten geschaffen hatte, die Entscheidung den autokephalen orthodoxen Kirchen überlassen. Gleichzeitig wurde Rom vorgeschlagen, einen „Dialog auf gleicher Ebene“12 aufzunehmen. Die dritte panorthodoxe Konferenz im November 1964 - wiederum in Rhodos - beschloß, vor der Aufnahme eines Dialogs solle man zunächst die Ergebnisse des Konzils abwarten sowie weiterhin klären, was man unter der Formulierung „auf gleicher Ebene“ verstehe. Jedenfalls müsse dieser Dialog eine breite innerorthodoxe Vorbereitung finden. Gleichzeitig sandte nun auch das ökumenische Patriarchat offizielle Beobachter zum Konzil.
Einen Durchbruch stellte das Treffen von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras in Jerusalem dar. Der Papst teilte zunächst in der Konzilsaula mit, er wolle im Januar 1964 eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternehmen. Zwei Tage später griff Patriarch Athenagoras diesen Gedanken auf und schlug ein Treffen der Oberhäupter der drei Konfessionen in Jerusalem vor (TA 36). Faktisch kam es am 5. und 6. Januar 1964 zur Begegnung auf dem Ölberg, der ersten zwischen Papst und ökumenischem Patriarchen seit mehr als einem halben Jahrtausend. Die Begegnung war von symbolischen Gesten bestimmt. Zunächst traf der Papst den Patriarchen von Jerusalem, Benedictos, um die Bedeutung der Ortskirche zu unterstreichen. Dann folgte der Bruderkuß zwischen Papst und Patriarch. Der Papst überreichte als Geschenk einen Meßkelch, der die Anerkennung des Amtes der orthodoxen Kirche symbolisieren sollte.
Im Westen wurde diese Begegnung allgemein mit großer Zustimmung aufgenommen, die meisten orthodoxen Kirchen haben sich ebenfalls zustimmend geäußert. Entschiedenen Einspruch legten dagegen der Erzbischof von Athen sowie einige Klöster des Athos ein, die den Namen des Patriarchen aus ihren Diptychen strichen und damit die Kirchengemeinschaft mit Konstantinopel symbolisch beendeten. Sie beriefen sich auf apostolische Kanones, die jedes Gebet mit Schismatikern und Häretikern unter der Strafe des Banns verbieten. Von Mönchen des Athos, aber auch von einigen griechischen Theologen, vor allem der Athener Fakultät, wurde der Ökumenismus als „Panhäresie“ verurteilt.
2. Die Tilgung des Bannes. Zu dem, was als Aufhebung des Banns in die Diskussion eingegangen ist, kam die erste Anregung von Patriarch Athenagoras. Dessen Abgesandter, der Metropolit Meliton, überbrachte im Februar 1965 die Ergebnisse der dritten panorthodoxen Konferenz nach Rom, zusammen mit dem Angebot, einen „Dialog der Liebe“ aufzunehmen. Als ersten Schritt schlug der Metropolit mündlich vor, die Vorfälle des Jahres 1054 zu bereinigen. Das Einheitssekretariat griff diese Idee auf und empfahl seinerseits, durch eine gemischte Kommission aus je vier Mitgliedern, die bereits im November dieses Jahres 1965 tagen sollte, vorbereitende historische Untersuchungen durchführen zu lassen. Der Plan fand die Zustimmung des Patriarchats. Am 21. November trafen die römischen Kommissionsmitglieder unter der Leitung von Bischof Johannes Willebrands im Phanar ein. Gemeinsam analysierte man die Ereignisse des Jahres 1054 und entwarf einen Text, der den Kirchen zur Zustimmung unterbreitet wurde. Es wurde vereinbart, daß in gesonderten Akten beide Kirchen jeweils für sich das Bedauern über die Vorkommnisse des Jahres 1054 äußern und ihren Willen zu einer Wiederherstellung der Einheit bekunden sollten. Bereits zwei Wochen später, am 7. Dezember 1965, in der letzten öffentlichen Sitzung des Zweiten Vatikanums, erklärten das Konzil und zeitgleich das Patriarchat in der St. Georgskirche im Phanar, „daß sie die beleidigende Worte, grundlosen Vorwürfe und verwerflichen Handlungen bedauern, die die traurigen Ereignisse dieser Epoche auf beiden Seiten geprägt und begleitet haben; daß sie ebenfalls die Exkommunikationssentenzen, die auf sie gefolgt sind, und deren Erinnerung einer Annäherung in der Liebe bis heute hindernd im Wege stehen, bedauern, aus dem Gedächtnis und der Mitte der Kirche tilgen und dem Vergessen anheimfallen lassen; daß sie endlich die ärgerlichen Präzedenzfälle und die weiteren Vorkommnisse beklagen, die unter dem Einfluß verschiedener Faktoren, unter anderem des gegenseitigen Verständnismangels und Mißtrauens, schließlich zum tatsächlichen Bruch der kirchlichen Gemeinschaft geführt haben“ (TA 127).
Auf dem Konzil wurde dieser Versöhnungsgestus mit großem Jubel aufgenommen. Auch in den orthodoxen Kirchen überwog große Zustimmung. Der russische Metropolit Nikodim, Leiter des Außenamts der russischen Kirche, war eigens nach Rom gereist und gratulierte. Allerdings wurde dabei aber auch deutlich, daß es sich um einen Akt von Konstantinopel als Ortskirche gegenüber der Kirche von Rom handelte, daß also nicht die Gesamtheit der orthodoxen Kirche sprach.
3. Kirchenoffizielle Deutungen. Zum rechten Verständnis des Versöhnungsaktes vom 7. Dezember 1965 müssen einige weitere Ereignisse mitbedacht werden, bei denen im Wort und vor allem in symbolhaftem Gestus das Verhältnis beider Kirchen, wie es sich nun darstellte, verdeutlicht wurde. Zunächst wurde bereits in der gemeinsamen Erklärung selbst gesagt, „daß diese Geste der Gerechtigkeit und der wechselseitigen Vergebung nicht hinreichen kann, um den alten und neuen Differenzen, die zwischen der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche bestehen, ein Ende zu setzen“ (TA 127). Es wurde also im Text selbst bereits vermerkt, daß dieses „Dem-Vergessen-Anheimfallen-Lassen“ nicht identisch sei mit Kirchengemeinschaft, auch nicht mit der Aufnahme der Eucharistiegemeinschaft. Das Angebot des Konzils, in gewissem, wenn auch eng umgrenztem Rahmen eine Eucharistiegemeinschaft mit den orthodoxen Kirchen aufzunehmen, wurde vom Patriarchen selbst in einem Rundschreiben an die orthodoxen Kirchen zurückgewiesen13.
1967 erfolgten die gegenseitigen Besuche von Papst und Patriarch. Bei einem gemeinsamen Gottesdienst in der Kirche des Phanar überreichte Athenagoras dem Papst ein Omophorion, eine Bischofsstola als Zeichen seines hierarchischen Rangs. Es war die Antwort auf den Kelch, den der Papst dem Patriarchen in Jerusalem geschenkt hatte. Gleichzeitig erschallte in der Kirche der Ruf Axios, also die Zustimmung des Volkes zu Ordination und Konsekration. In dem Breve „Anno ineunte“ vom 25. Juli 1967 bezeichnete der Papst beide Kirchen als „Schwesterkirchen“: „Nun schenkt uns nach langen Meinungsverschiedenheiten und Zwistigkeiten Gott die Gnade, daß unsere Kirchen sich wiederum als Schwesterkirchen erkennen, trotz der Schwierigkeiten, die in früherer Zeit zwischen uns entstanden sind“. Es gilt, die „bereits bestehende, wenn auch noch unvollkommene Gemeinschaft zu fördern und in die Tat umzusetzen“. Gleichzeitig regte der Papst „aufrichtige theologische Gespräche, die durch die Bruderliebe ermöglicht werden“ an, wobei die biblische Mahnung zu gelten habe, daß man „keine weitere Last auferlegt ... als die notwendigen Dinge“ (TA 176).
Im gleichen Jahr erwiderte Athenagoras am 26. Oktober den Besuch des Papstes. Er war der erste Patriarch von Konstantinopel, der nach Rom kam. Auch hier fanden gemeinsame Gottesdienste statt. Der Patriarch nahm die Anregung des Papstes zum Dialog, wenn auch mit einiger Zurückhaltung, auf. Wir werden „eingeladen, den Dialog der Liebe fortzusetzen und zu intensivieren, so daß wir ihn zu einem vortheologischen Ereignis machen“ (TA 189). Es wurde deutlich, daß ein offizieller theologischer Dialog noch einer längeren Vorbereitung und insbesondere einer Abstimmung der orthodoxen Kirchen untereinander bedurfte. Der „Dialog der Liebe“ sollte den Boden bereiten für den „Dialog der Wahrheit“, bei dem dann auch die theologischen Differenzen zur Sprache kommen sollten.
Letztes größeres Zeichen war das Zehn-Jahres-Jubiläum der Bannaufhebung, das am 14. Dezember 1975 gleichzeitig in der Sixtinischen Kapelle in Rom und in der Georgskirche im Phanar gefeiert wurde. Dabei erfolgten der Kniefall und der Fußkuß des Papstes für Metropolit Meliton, ein Akt von hoher Aussagekraft angesichts der Tatsache, daß der Fußkuß Zeichen für die Anerkennung der päpstlichen Würde war. In einer Pressemitteilung des Patriarchats heißt es: „Mit einstimmigem Beschluß aller orthodoxen Kirchen wurde eine panorthodoxe Kommission zur Vorbereitung des theologischen Dialogs mit der katholischen Kirche eingesetzt“ (TA 285). Gleichzeitig wurde die katholische Kommission für diesen Dialog ernannt. Papst Paul VI. betonte in seiner Ansprache, „daß die katholische und die orthodoxe Kirche durch eine so tiefe Gemeinschaft vereint sind, daß nur wenig fehlt, um die Fülle zu erreichen, die eine gemeinsame Feier der Eucharistie des Herrn erlaubt“ (TA 288). Die Worte des Papstes klingen fast drängend:
Wir sollten „imstande sein, bei der Ermittlung der Divergenzen und Schwierigkeiten, die unsere Kirchen noch trennen, gemeinsam voranzuschreiten und schließlich in einer gläubigen Reflexion und in Willfährigkeit gegenüber den Antrieben des Geistes über sie hinwegzukommen. Möge uns Gott so gewähren, bei der Respektierung einer legitimen Verschiedenheit in Liturgie, Spiritualität, Kirchenrecht und Theologie die volle Einheit zwischen unseren Kirchen dauerhaft und sicher aufzubauen“ (TA 288).
Es scheint, daß der Papst davon überzeugt war, daß die theologischen Differenzen sich in einem Rahmen bewegen, der innerhalb einer Kirche legitimerweise anerkannt und toleriert werden kann. Unterschiedliche Traditionen und Überlieferungen bis hin zum Problem des Filioque, das 1054 nur eine Nebenrolle gespielt hatte, erachtete der Papst nicht für kirchentrennend. Hinsichtlich des Primatsanspruchs scheint er bereit gewesen zu sein, sich damit zufrieden zu geben, wenn der Osten die westliche Entwicklung bis hin zum Ersten Vatikanum nicht als Glaubensabfall interpretieren würde, selbst wenn er daraus keine kanonischen Konsequenzen für sich übernehmen würde.
Wenn man den Zeitraum betrachtet, innerhalb dessen diese Ereignisse stattgefunden haben - von der Wahl Papst Johannes XXIII. im Oktober 1958 bis zur Erklärung über die Exkommunikationen im Jahr 1965 -, wird man diese Entwicklung nicht anders denn als stürmisch bezeichnen müssen.
III. Zur Interpretation der Tilgung der Bannsprüche
Die Deutungen des Versöhnungsaktes von 1965 differieren erheblich. Einerseits wird behauptet, es habe kein rechtlich verbindlicher Akt stattgefunden, der Begriff „dem Vergessen anheimfallen lassen“ sei kanonisch nicht definiert und damit unerheblich. Es handle sich lediglich, so ein Kommentar in der Ökumenischen Rundschau von 1966, um eine „Verwandlung des ,Großen Banns‘ in einen ,Kleinen Bann‘. . . . Die West- und Ostkirche sind wechselseitig nicht mehr ,vitanda‘ sondern ,tolerata‘ - nicht mehr füreinander zu ,meiden‘, sondern sie werden ,ertragen‘“14. Dagegen sprach Friedrich Heiler von einer „Aufhebung der seit Jahrhunderten gegeneinander ständig wiederholten Anathematismen“. Bischof Rudolf Graber von Regensburg, damals Referent für die Ostkirchen in der deutschen Bischofskonferenz, sprach in einem Gedächtnisgottesdienst für Patriarch Athenagoras davon, „daß das Verhältnis von Rom zu Byzanz so ist wie vor 1054, daß also die Kirche nicht gespalten, sondern eine ist.“ 15 Verbreitet findet man die Aussage, „ein (psychologisches) Haupthindernis, das der Wiederherstellung der Communio im Weg stand, ist nunmehr ausgeräumt und die Hoffnung auf Beseitigung auch der theologischen Differenzen ist realistischer geworden“16. Allgemein wird festgehalten: Der gleichzeitige Akt in Rom und im Phanar war „ein wichtiges Ereignis in der Geschichte beider Kirchen, dessen Tragweite einstweilen noch nicht abzusehen ist“17.
Aber man stellt auch fest, daß die im Tomos Agapis festgehaltenen Dokumente eine gewisse Melancholie verbreiten. Zwischen 1959 und 1965 folgte nach einem zögernden Beginn ein dramatisches Ansteigen der Nähe und der Hoffnung, aber der Prozeß überschreitet dann doch eine bestimmte Schwelle nicht, und spätere Texte sind Zeugnisse eines Abklingens, das nicht alle Hoffnung aufgibt, aber sie doch sehr bescheiden werden läßt. Heute, fast 40 Jahre nach diesen Ereignissen, findet sich verschiedentlich im Westen, verbreiteter noch im orthodoxen Raum die Tendenz, die Bedeutung der Tilgung des Bannes herunterzuspielen und das Wort „Aufhebung“ nur noch in Anführungszeichen zu setzen, es gleichsam als eine von westlichem Wunschdenken geprägte Überinterpretation zu qualifizieren18.
IV. Ökumenische Erschließung
Bei dem Versuch, die Ereignisse von 1965 zu interpretieren, empfiehlt es sich, die Ausführungen der Kardinäle Augustin Bea19 und Joseph Ratzinger20 aufzugreifen. Die Äußerungen von Letzterem stammen noch aus seiner Zeit als Professor in Regensburg, sie wurden aber inhaltlich deckungsgleich von ihm auch noch als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre veröffentlicht, tragen also, ebenso wie die Aussagen von Kardinal Bea, offiziösen Charakter.
1. Der Begriff „Aufhebung“. Im Text vom 7. Dezember 1965 werden die Begriffe „Aufhebung“ oder „Rücknahme“ des Bannes nicht verwendet. Verschiedentlich wird daraus gefolgert, daß der Bann rechtlich weiter bestehe, daß nur eine schmerzliche Erinnerung getilgt und unberechtigte Vorwürfe zurückgenommen wurden.
Nach katholischem Verständnis ist der Kirchenbann eine Beugestrafe; das heißt, er kann immer nur gegen bestimmte Personen verhängt werden, um sie zur Umkehr zu bewegen, nie gegen eine Gemeinschaft. Die Schwere dieser Strafe läßt es nicht zu, daß persönlich Unschuldige mit diesem härtesten Mittel der Kirchenzucht belegt werden. Grundsätzlich erlischt der Bann mit dem Tod des Straffälligen, allenfalls können Wirkungen bleiben etwa für den Entzug des kirchlichen Begräbnisses21. Zudem gilt: Strafsentenzen sind eng auszulegen. Wenn es im Dekret von Kardinal Humbert heißt, es seien alle betroffen, „welche ihnen in den erwähnten Irrtümern und kühnen Anmaßungen folgen“, können nur jene gemeint sein, die sich tatsächlich der Verfehlungen schuldig gemacht haben, die 1054 gegen Michael Kerullarius erhoben wurden: Simonisten, Valesier, Arianer, Donatisten und Manichäer in der in diesem Dekret vorgenommenen - weithin sinnlosen - Umschreibung. Es ist offensichtlich, daß dies nicht die orthodoxen Kirchen trifft. In der Gegenexkommunikation des Patriarchen werden gebannt, die die lateinische Exkommunikationsbulle verfaßten, die „auf irgendeine Weise ihre Zustimmung dazu gegeben“ hatten, sowie jene, „die den orthodoxen Glauben schmähten“22.
Während in den Ostkirchen die Interpretation des Kerullarios weiterhin dominierte, die Lateiner hätten 1054 die orthodoxen Kirchen gebannt, wird diese Auffassung im Westen zumeist nicht geteilt. Demnach galt der Bann Einzelpersonen. Nachdem diese aber längst verstorben waren, bestand auch der Bann nicht mehr, sodaß 1965 eine Aufhebung oder eine Rücknahme im rechtlichen Sinn nicht zur Diskussion standen. Aus der Kommission, die im November 1965 die Erklärung vom 7. Dezember ausarbeitete, wurde bekannt, daß einen ganzen Tag lang darüber verhandelt wurde, was mit dem nicht mehr bestehenden Bann geschehen solle, bis man die Kompromißformulierung fand, man solle ihn „dem Vergessen anheimfallen lassen“23. Diese Worte stammen aus der orthodoxen Bußliturgie, wo sie die Tilgung und Vergebung der Schuld verkünden. In einem offiziösen Kommentar im „Osservatore Romano“ vom 12. Dezember 1965 interpretierte Michele Maccarone, der Mitglied dieser Kommission war:
„Es handelte sich nicht darum - wie viele es gedeutet und wiederholt haben -, den Hauptbeteiligten an den Ereignissen von 1054 den Prozeß zu machen noch sich als Richter und Ankläger oder Verteidiger der einen oder anderen Seite aufzuspielen ... Man wollte die beiden Urteilssprüche nicht auf ihren Wert prüfen. Deshalb sprach man nicht von Zurücknahme. Genauso hütete man sich, von ihrem Widerruf oder von ihrer Annullierung zu sprechen, Ausdrücke, die noch immer in Kraft stehende Sanktionen voraussetzen“.
Nach westlicher Überzeugung besagt das „aus dem Gedächtnis tilgen“ jedenfalls nicht weniger als Aufhebung. Die Aufhebung im rechtlichen Sinn war längst erfolgt, jetzt sollten auch die Konsequenzen des Banns überwunden werden. Nur so ist es zu verstehen, daß Papst Paul VI. bei der Zehnjahresfeier 1975 ganz unbefangen auf den „feierlichen heiligen Akt der Aufhebung der alten Bannsprüche“ (TA 288) zurückblickte. Auch Patriarch Athenagoras dürfte es nicht völlig anders interpretiert haben, wenn er bereits 1965 von der „Wiederherstellung“ der Liebe sprach und dabei den theologisch gefüllten Begriff „Apokatastasis“ verwendete.
2. Der Dialog der Liebe. Die Beziehungen zwischen dem Phanar und dem Vatikan sind nach der ersten Kontaktaufnahme schnell über bloße Höflichkeitsbezeugungen hinausgewachsen. Dabei werden zwei Stufen unterschieden: Der „Dialog der Liebe“ und der „Dialog der Wahrheit“. Bis 1975 führte man den „Dialog der Liebe“; die Fortschritte waren hier teils atemberaubend. Der seither stattfindende theologische Dialog ist wesentlich mühsamer und mit vielen Enttäuschungen und massiven Rückschlägen befrachtet. An dieser Stelle gilt es zurückzufragen: Kann man so zwischen Theologie und Liebe unterscheiden, zwischen Dogma, Kult und Recht einerseits und der Liebe anderseits? Die Liebe, von der hier gesprochen wird, hat zweifellos ekklesialen und nicht nur humanitären Rang. Es wäre höchst bedenklich, wenn aus der Liebe der Glaube ausgeklammert bliebe und aus der Theologie die Liebe. Gerade in der westlichen Theologie ist in der Diskussion um die Rechtfertigung die Einheit von Glaube und Liebe neu deutlich geworden. Wenn zwischen Ost und West die „Apokatastasis“ der Liebe angestrebt wird, ist das nicht nur eine private, eine humanitäre Sympathieäußerung, sondern es geht, wie Joseph Ratzinger urteilt, um eine ekklesiale Liebe, um eine Versöhnung von Bischofssitzen, von Kirche zur Kirche. Das ist noch nicht Kommuniongemeinschaft, aber es trägt eine Dynamik in sich, die Kirchen verbindet. Der „Dialog der Liebe“ und seine Erfolge können für das theologische Gespräch nicht irrelevant sein.
3. Versöhnen und Verzeihen. Die Formulierung „dem Vergessen anheimfallen lassen“, aus der orthodoxen Bußliturgie übernommen, ist bestimmt durch den paulinischen Satz: „Ich vergesse, was hinter mir liegt.“ Es geht darum, das kirchliche Gedächtnis zu reinigen, gegenseitig Schuld zu vergeben und damit eine neue Zukunft zu erschließen. Das Symbol der Trennung wird zerstört, an seine Stelle soll das Symbol der Umarmung treten. Das beiderseitige Anathem von 1054 gehört nicht mehr zum amtlichen Bestand der Kirche, es ist durch das Gedächtnis der Versöhnung ersetzt. Für jeden Lehrer der Theologie und für jeden Prediger ist diese Erneuerung des Gedächtnisses Pflicht. Geschichte ist nicht nur die Sammlung von unveränderlichen Fakten, die Erinnerung geht in das Faktum selbst mit ein. Wenn jetzt an die Ereignisse von 1054 gedacht wird, geschieht dies nicht mehr unter dem Aspekt gegenseitiger ungerechter Vorwürfe, schroffer Beleidigungen und Mißverständnisse, sondern unter dem Vorzeichen der Vergebung. Es ändert die Situation grundlegend, ob man auf einen Streit zurückblickt, um Materialien für bittere Vorwürfe zu sammeln, oder ob durch Versöhnung die Kontroverse zu einer Basis für eine neue Gemeinsamkeit geworden ist. Versöhnung macht die Geschichte neu, auch die von 1054.
4. Die ekklesiologische Relevanz. Handelnde Subjekte waren 1965 der Patriarch von Konstantinopel mit seiner Synode sowie der Papst für den Geltungsbereich seiner Jurisdiktion. Hier zeigt sich ein gewisses Ungleichgewicht: Während der Papst für die römisch-katholische Kirche spricht, kann der Patriarch mit seiner Synode zunächst nur für seine Ortskirche entscheiden. Im Hintergrund steht die zwischen Ost und West immer noch kontroverse Verhältnisbestimmung von Ortskirchen und Universalkirche. Doch schon Metropolit Meliton verwies auf die Bedeutung der Banntilgung für die ganze Orthodoxie, als er sagte, „daß, wie damals die negativen Folgen weithin eine Sache des orthodoxen Ostens geworden ist, so auch jetzt die positiven Konsequenzen seine gemeinsame Sache werden wird“ (TA 122). In dem Maß, als die Ereignisse von 1054 über die Kirche von Konstantinopel hinaus bedeutsam wurden, sollte auch das gereinigte Gedächtnis das Verhältnis der gesamten Orthodoxie zum Westen neu ausrichten. Nicht zufällig war die russische Kirche durch Metropolit Nikodim als Vertreter des Patriarchen von Moskau vertreten und gratulierte.
Als Nahziel wird in den offiziellen Stellungnahmen immer wieder die Aufnahme der eucharistischen Gemeinschaft genannt. Am 7. Dezember 1965 haben Papst und Patriarch Telegramme ausgetauscht, in denen sie jeweils den Wunsch nach der gemeinsamen Kommunion zum Ausdruck brachten. Anläßlich des vierten Jahrestags der Unterzeichnung formulierte Athenagoras in einem Telegramm an den Papst:
„Jetzt werden wir gerufen, vorwärts zu schreiten. Es ist die Stunde des christlichen Mutes. Da wir nun einander lieben, sollten wir unseren gemeinsamen alten Glauben bekennen, gemeinsam zur Herrlichkeit des gemeinsamen Opferaltars voranschreiten, damit wir den Willen des Herrn erfüllen“ (TA 277).
Der Papst antwortete, er sei „entschlossen, in klugem Wagemut weiterzugehen und alles, was in unserer Macht steht, zu tun, auf daß der Tag kommt, an dem wir miteinander zum Altare des Herrn hinaufsteigen können“ (TA 279). Mut, kühne Klugheit und Ungeduld waren 1969 noch prägende Begriffe. Dabei stand diese Annäherung im Rahmen der Verantwortung für die Welt von heute. Bereits zum ersten Jahrestag der Bannaufhebung schrieb Athenagoras:
„Der zeitgenössische Mensch und die Welt ertragen nicht mehr den Luxus der Trennung aus Gründen weltlicher Kalkulationen und Zurückhaltungen und der bequemen und endlosen akademischen Diskussionen. Sie haben das Bedürfnis nach einer Antwort. Und diese lautet: Schnelle Erscheinung des einen Christus durch seine eine Kirche“ (TA 142).
Die Einheit der Christenheit steht im Dienst der Glaubwürdigkeit ihrer Botschaft.
5. Das Primatsproblem. Es ist selbstverständlich, daß in all diesen Äußerungen sowohl der Papst als auch der Patriarch im Rahmen ihrer jeweiligen theologischen und kirchenrechtlichen Vorgaben blieben, daß weder der Papst die Dogmen des Ersten Vatikanums in Frage stellte, noch der Patriarch sie anerkannte. Unter dieser Voraussetzung versuchten sie, einander so nahe zu kommen wie möglich, indem sie sich auf das zurückbesannen, was in der frühen Kirche gemeinsam gelebt und geglaubt worden war. Der Patriarch begrüßte den Papst im Phanar mit den Worten:
„Wir haben in unserer Mitte, gegen jede menschliche Erwartung, den Bischof von Rom, den Ersten von uns, der Ehre nach, ,den Vorgesetzten der Liebe’“ (TA 173).
Er griff damit ein Zitat aus den Ignatiusbriefen auf, das für das römische Primatsbewußtsein von hoher Bedeutung ist. Selbstverständlich ist darin kein Jurisdiktionsprimat anerkannt. Dennoch stellte Joseph Ratzinger die Frage, ob nicht dieses archaische Bekenntnis des frühen zweiten Jahrhunderts „als eine dem Kern der Sache genügende Sicht der Stellung Roms in der Kirche gewertet werden könnte“25. Noch als Präfekt der Glaubenskongregation hielt er daran fest:
„Rom muß vom Osten nicht mehr an Primatslehre fordern, als auch im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt wurde“26.
In dieser Problematik sind sicher noch viele Detailfragen offen, die sich als dornig erweisen dürften; aber bisher wurde kaum versucht, die hier angedeuteten Möglichkeiten auszuloten oder gar sie in die Praxis umzusetzen. Neue Belastungen haben inzwischen den „Dialog der Wahrheit“ weithin zum Erliegen gebracht, und Mißtrauen hat selbst die Früchte des „Dialogs der Liebe“ wieder in Frage gestellt27. Die Erinnerung an die Versöhnung von 1965 könnte dem Gespräch mit der Orthodoxie neue, dringend benötige Impulse verleihen, denn gerade überwundener Streit vermag Gemeinschaft zu tragen.
Stimmen der Zeit (2004) 435-447