Das Zweite Vatikanische Konzil hat im Anschluß an die Enzyklika "Pacem in terris" (39-45) von Papst Johannes XXIII. eine Theologie der Zeichen der Zeit entwickelt1. Es verstand darunter das Bemühen des Volkes Gottes, "in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind"2. Unter den Ereignissen, die auf die Absicht Gottes hindeuten können, erwähnte das Konzil vor allem die große Dynamik der modernen Gesellschaft mit ihren Gefahren und Versprechungen, das Zusammenwachsen der Völker und die Begegnung der Konfessionen und Religionen. Es deutete diese Zeichen der Zeit einerseits im Licht der biblischen Botschaft und anderseits im Licht des eigenen Lebens der Kirche, die selber "Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" (LG 1) ist. Besondere Ereignisse im Leben der Kirche werden deshalb auch zu besonderen Zeichen, an denen die Gläubigen die Absichten Gottes für die jeweilige Gegenwart erahnen und näher erspüren können. In diesem Sinn war das Zweite Vatikanum selber nicht nur eine Instanz mit Autorität, sondern ein zeichenhaftes Ereignis, bei dem sich die Kirche zum ersten Mal auch empirisch sichtbar als Weltkirche in einer dynamischen Zeit darstellte.
Im Anschluß an dieses zeichenhafte Geschehen bemühten sich die Päpste bewußt, weitere Zeichen zu setzen. So traf sich schon während des Konzils Papst Paul VI. mit dem Patriarchen Athenagoras I. in Jerusalem (5. Januar 1964), um den im Jahr 1051 ausgesprochenen wechselseitigen Bannfluch zu lösen und der ökumenischen Bewegung auf diese Weise einen neuen Impuls und eine neue Zielrichtung zu geben. Besonders wegweisend im komplexen Gebiet der Gewalt und des Konfliktes zwischen Religionen wurde das Treffen von Assisi, zu dem Papst Johannes Paul II. für den 27. Oktober 1986 Vertreter aller großen Weltreligionen unter dem Thema "Zusammensein, um zu beten"3 eingeladen hatte4. Er wollte auf diese Weise dem Glauben an die Einheit aller Menschen im Heilsplan Jesu Christi und dem Auftrag aller Religionen, für den Frieden zu wirken, einen sichtbaren Ausdruck geben. Er war von der Überzeugung geleitet, daß wahrer Friede kein Menschenwerk sein kann, sondern von Gott zu erflehen ist5 und daß die verschiedenen Religionen im Gebet um diesen Frieden einander am nächsten kommen6. Dieselbe Überzeugung brachte Johannes Paul II. bei seinen Reisen nach Jerusalem und in muslimische Länder zum Ausdruck, die gerade deshalb - trotz politischer Schwierigkeiten - auch viel Zustimmung fanden.
Zeichen der Zeit können aber auch Ereignisse sein, die allen Menschen guten Willens, wie Johannes XXIII. sie in seiner Enzyklika Pacem in terris angesprochen hat, zeigen, wie der wahre Friede nicht geschaffen werden kann. Ein solches negatives Zeichen dürfte der 11. September 2001 mit seinen Terroranschlägen in den USA gewesen sein. Diese negativen Zeichen bedürfen aber ebenfalls einer sorgfältigen Deutung und Entschlüsselung, damit sie nicht bloß Anlaß zu ablehnenden Reaktionen und kurzfristigen Vergeltungen sind. Da der Terror von Muslimen verübt wurde, die sich dabei - wenn auch weitgehend zu Unrecht7 - auf ihre Religion berufen, fordert uns dieses Ereignis auf, die tieferen Schwierigkeiten in der Begegnung zwischen der liberalen westlichen Gesellschaft und der islamischen Welt auszuloten und uns zu fragen, wie diese schrittweise überwunden werden können.
Unterschiedliche Welten
Um einen generellen Konflikt mit dem Islam zu vermeiden, unterschied die von den USA angeführte weltweite Allianz gegen den Terror8 zwischen der großen Mehrheit gemäßigter Muslime und der kleinen Gruppe terroristischer Fundamentalisten. Realpolitisch gesehen dürfte diese Unterscheidung zwischen guten und bösen Muslimen für den Augenblick klug gewesen sein, und sie ist, was direkt den Terror betrifft, auch richtig. Dennoch birgt sie längerfristig die Gefahr in sich, ein fundamentales Problem, nämlich den Gegensatz zweier Gesellschaftskonzepte, zu überspielen. Die liberale westliche Gesellschaft möchte Religion und Politik trennen und alle Glaubensüberzeugungen in den privaten Raum zurückdrängen, während der Islam sich nicht bloß als individuelle Glaubenshaltung, sondern als Lebensordnung versteht, die auch den öffentlichen Bereich bestimmen soll.
Entscheidend für den Islam in seinem traditionellen Verständnis ist die Einteilung der gesamten Welt in zwei Bereiche. Die eigene Welt ist das Haus des Friedens (dar al salam oder dar al islam), während die gesamte nicht-islamische Welt als Haus des Krieges (dar al harb) angesehen wird, wobei mit harb der gottlose Krieg gemeint ist, den die Ungläubigen gegeneinander oder gegen den Islam führen. Die Welt der Ungläubigen ist aus dieser Sicht voller Gewalt, während in der Gemeinschaft der Muslime (umma) der Friede dadurch herrschen soll, daß die öffentliche Ordnung von den Geboten Gottes bestimmt wird. Diese Friedensordnung muß ausgebreitet werden - und zwar durch den djihad. Damit ist zunächst jede Anstrengung gemeint, die den Islam fördert und ihm neue Gläubige zuführt. Der djihad kann aber auch den eigentlichen Krieg (qital) gegen die Ungläubigen einschließen:
"Das Endziel ist erreicht, wenn alle Gebiete der Nicht-Muslime zu Gebieten des Islams geworden sind und wenn der Unglaube endgültig ausgerottet worden ist."9
Zum Krieg (qital) sind die Muslime verpflichtet, wenn es darum geht, den Einflußbereich des Islams zu erhalten, denn ein Gebiet, das einmal muslimisch geworden ist, darf nicht mehr aufgegeben werden. Die Unterlegenen müssen sich zwar nicht bekehren, denn der Glaube beruht auf freier Annahme, sie müssen sich aber mit einem Status als "Schutzbefohlene" (dhimmi) und als Bürger zweiter Klasse innerhalb der muslimischen Gesellschaft zufriedengeben10.
Von diesem Hintergrund her wird rasch einsichtig, daß die Begegnung der muslimischen Welt mit dem westlichen Gesellschaftsverständnis nicht problemlos verlaufen kann. Die Säkularisierung der Türkei nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg schuf ein Trauma, das durch das weitere Vordringen westlicher Ideen bei der Bildung von Nationalstaaten in den muslimischen Ländern noch verstärkt wurde. Dies führte 1928 durch Hassan al-Banna (1906-1949) zum Entstehen der Muslimbrüder, die das Ziel verfolgen, die westlichen Einflüsse zu bekämpfen und eine globale islamische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen11.
Diese Bewegung zeichnete sich zunächst durch ein starkes soziales Engagement und durch eine erzieherische Tätigkeit aus, und sie engagierte sich auch schon seit der arabischen Rebellion (1936-1939) in der Palästinafrage. Sie radikalisierte sich aber, als sie nach ersten großen Erfolgen in islamischen Ländern selber unterdrückt wurde, wie etwa 1954 durch Gamal Abdel-Nasser in Ägypten. Unter den damals Verhafteten war Sayyid Qutb12, der im Jahr 1966 hingerichtet wurde und dessen Schriften den Beginn des neuen "Islamismus"13 markieren, der als Reaktion auf die westliche Säkularisierung des Staates die totale Einheit von Religion und Politik fordert. Der wirtschaftliche und technische Erfolg des Westens, der harte Konflikt zwischen Palästinensern und Israel, die korrupten Regime und die große Armut in muslimischen Ländern und der Sieg von Ayatollah Khomeini über den westlich ausgerichteten Schah im Iran (1979) gaben diesem Fundamentalismus weiteren Auftrieb, und die verschiedenen Richtungen, die zu ihm gehören, "scheinen immer deutlicher die Oberhand in der islamischen Welt zu gewinnen"14.
In seinen radikaleren Ablegern führte der Islamismus auch zu einem neuen Verständnis des traditionellen djihad. Danach ist für die Durchsetzung einer wahren islamischen Ordnung auch der Einsatz von Gewalt ein gottgewolltes Mittel, und bei einer allgemeinen Bedrohung des Islams durch eine gottlose Welt ist selbst Terror erlaubt15. Dies führte in den letzten Jahrzehnten zu vielen Attentaten, in deren Linie sich auch Osama bin Laden16 und die Attentäter von New York einreihen, obwohl diese letzteren zugleich neue Schritte setzen. Schon vor dem 11. September 2001 versuchte bin Laden, Terroranschläge gegen Zivilpersonen durch den Hinweis auf ähnliche Taten der Amerikaner zu rechtfertigen, und die Selbstmordattentäter gegen Amerika scheinen einer unislamischen Märtyrervorstellung gefolgt zu sein17.
Der islamische Fundamentalismus ist kein Zufallsprodukt, sondern die naheliegende Folge der Konfrontation der muslimischen Welt mit der äußerlich erfolgreicheren westlichen Zivilisation. Diese letztere ist zwar tolerant gegenüber all jenen Menschen, die ihren Glauben als persönliche und private Angelegenheit betrachten, sie steht aber in einem klaren Gegensatz zu einer öffentlichen Ordnung, die sich - wie die vorkonziliar-katholische oder die islamische - als gottgegeben ausgibt. Dieser Gegensatz wurde bisher durch zwei Faktoren verschleiert: durch eine widersprüchliche Politik und durch die spontane Anziehungskraft des westlichen Systems. Manche islamischen Länder - allen voran Saudiarabien - arbeiten aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Westen zusammen, sind im eigenen Land aber total undemokratisch, verfolgen die Muslimbrüder und ähnliche Organisationen, setzten aber gleichzeitig eine religiöse Ordnung mit Machtmitteln durch und verletzten systematisch die Menschenrechte. Aus wirtschaftlichen Interessen läßt der Westen diesen Widerspruch zu, und er beruft sich auf die Menschenrechte nur dort, wo es seinen Interessen entspricht. Auch nach dem 11. September 2001 baute er seine Allianz gegen den Terror bewußt auf diesem Widerspruch auf.
Der zweite Faktor, der zur Verschleierung beiträgt, besteht in der Anziehungskraft des westlichen Systems, das seinen globalen Anspruch längst nicht immer mit direkter Macht durchsetzen muß. Dank der Symbiose von Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft werden ständig neue Güter produziert, die eine anziehende und verführerische Wirkung auf die Menschen aller Kulturkreise - auch auf Muslime - ausüben. Selbst wenn die Frage der Macht bei der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen immer eine Rolle spielt, kann sie dennoch über weite Strecken im Hintergrund bleiben. Der Siegeszug des westlichen Systems geht, indem auch seine Feinde es nachzuahmen versuchen18, wie von selber weiter, ohne daß es offen als imperialistisch auftreten muß. Krisenzeiten verraten aber, daß letztlich doch militärische Macht eine entscheidende Rolle spielt. Schon vor der neuen politischen Konstellation durch die Terrorattentate hat Thomas Friedman, Berater der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright, am 28. März 1999 in der "New York Times" festgehalten:
"Die unsichtbare Hand des Marktes wird nie ohne eine unsichtbare Faust funktionieren. McDonald's kann nicht ohne den F-15-Konstrukteur McDonell Douglas florieren. Und die unsichtbare Faust, die dafür sorgt, daß die Welt für Silicon Valley Technologien sicher ist, heißt Heer, Luftwaffe, Marine und Marineinfanterie der USA."19
Diese unsichtbare Faust ist heute stärker als je zuvor, und sie ist auch recht sichtbar geworden. Ein offener Krieg gegen sie ist für muslimische Länder außerhalb jeder politischen Realität. So scheint nur die Alternative zu bleiben: Akzeptanz der westlichen Dominanz20, wie dies die meisten muslimischen Regime tun, oder Kampf als unsichtbarer Feind mittels Terror. Die Spannung ist auf alle Fälle so groß, daß auf unmittelbar politischer Ebene kein Weg zu einer allseits gerechten Ordnung und zu einem echten und dauerhaften Frieden sich abzeichnet. Dieser kann, wie Johannes Paul II. immer wieder betont, letztlich nur erbetet werden. Dennoch ruft die "Not des Friedens" auch alle zum Handeln auf.
Spannungen innerhalb der westlichen Welt
Der aufgezeigte Unterschied zwischen dem islamischen und dem westlichen Verständnis einer öffentlichen Ordnung mag den Eindruck wecken, wir hätten es mit einem totalen Gegensatz zu tun. Dem ist aber nicht so, denn nicht nur die islamische, sondern auch die westliche Zivilisation kennt in sich tiefe Spannungen, ja Gegensätze. Viele Christen, die an Gott und an eine Offenbarung glauben, leben in der westlichen Welt, die dennoch ohne Gott funktioniert. Dies heißt nicht, daß die Leugnung Gottes für die moderne Gesellschaft konstitutiv wäre. Entscheidend ist vielmehr, daß sie weitgehend durch anonyme Mechanismen gesteuert wird. Zu diesen gehören der Markt mit seiner unsichtbaren Hand als Lenkerin einer arbeitsteiligen Gesellschaft, die Demokratie mit dem Prinzip der geheimen Wahl der Regierenden auf begrenzte Zeit und das naturwissenschaftlich-technische Denken und Forschen, das sich nur ans Berechenbare und Funktionierende hält, von allen konkreten Subjekten mit ihren Hoffnungen und Ängsten aber abstrahiert. Für das instrumentelle und zweckrationale Denken, das all diese Bereiche durchwaltet, stellt sich die Frage nach Gott nicht. Dennoch kommt es ohne einen bestimmten Glauben nicht aus, denn es muß von der Hoffnung und Zuversicht getragen sein, daß die anonymen Mechanismen die menschliche Gesellschaft schrittweise zum Besseren führen. Deswegen tendiert die moderne anonyme Welt auch dazu, neu-heidnische religiöse Züge anzunehmen21.
Ist der Glaube an eine ständige und dauerhafte Verbesserung der Welt aber berechtigt? Er stützt sich zunächst darauf, daß durch die neuen Methoden tatsächlich eine Zusammenarbeit zwischen den Menschen erreicht wurde, die zu wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Erfolgen führte, wie sie die Menschheit bisher nie gekannt hat. Der Fortschrittsglaube baut ferner auf die Evolutionslehre, die in ihren heute vorherrschenden Varianten behauptet, die Welt habe sich nur durch anonyme Mechanismen zum Komplexeren und Höheren entwickelt. Gegen einen blinden Fortschrittsglauben spricht aber auch vieles, denn die westliche Welt verbucht nicht nur Erfolge; sie hat auch Gefahren geschaffen, wie sie die Menschheit bisher nie gekannt hat. Die wachsende Spaltung zwischen Armen und Reichen bei einer gleichzeitigen Betonung der Gleichheit aller Menschen schafft unerträgliche Spannungen. Massenvernichtungswaffen können ein bisher nie gekanntes Unheil anrichten. Die Ausbeutung der Natur und die Veränderung der Umwelt drohen die Grundlage, auf der das menschliche Leben ruht, zu zerstören.
Obwohl die westliche Gesellschaft aus der christlichen Welt heraus entstanden ist22, wird der naive Fortschrittsglaube vom christlichen Glauben sehr kritisch beurteilt, denn er weiß um die große Bedeutung der biblischen Gerichtsthematik. Er ist überzeugt, daß eine Welt, die nicht auf Gott baut, sich letztlich selber richtet23. Im Erforschen der Zeichen der Zeit entdeckt der christliche Glaube auch neue Parallelen zwischen der apokalyptischen Thematik in der Bibel und den modernen
Möglichkeiten einer Selbstvernichtung der Menschheit24. Er steht deshalb in Auseinandersetzung mit dominanten Tendenzen in der modernen westlichen Welt.
In diesem Kontext erhalten die Terrorattentate vom 11. September 2001 zusammen mit dem schon lange andauernden Konflikt um Jerusalem und Palästina vielfache Bedeutung. Sie verstärken einerseits die Befürchtung, daß es zu einem andauernden Konflikt zwischen weiten Teilen des Islams und der westlichen Welt kommen könnte. Anderseits rufen sie uns auf, die Probleme in der eigenen Gesellschaft tiefer zu sehen. Schließlich laden sie uns Christen in der westlichen Welt dringend ein, eine Brückenfunktion zu übernehmen, um in einem herausfordernden Dialog nach beiden Seiten die Gefahr einer andauernden und sich aufschaukelnden Konfrontation zu vermeiden.
Dialog zwischen Christen und Muslimen
Der Dialog muß auf verschiedenen Ebenen geführt werden25, wobei es immer wieder Gemeinsamkeiten26 und Unterschiede gibt:
1. Christen treffen sich mit Muslimen in der Überzeugung, daß Gott die Welt geschaffen hat, sich den Menschen offenbart und daß der letzte Sinn des Lebens uns erst nach dem Tod im ewigen Leben voll erschlossen wird. Christen und Muslime vertrauen deshalb letztlich nicht auf anonyme Mechanismen, sondern sie sehen eine gemeinsame Aufgabe darin, die Welt durch bewußten Einsatz so zu gestalten, daß sie soweit wie möglich dem Willen Gottes entspricht. Über die instrumentelle und zweckrationale Vernunft hinaus verteidigen sie eine Vernunft, die für das tiefere Geheimnis des menschlichen Lebens und für ein letztes Ziel offen ist, und sie sind überzeugt, daß die menschliche Geschichte letztlich unter dem Gericht Gottes steht. Diesem als Person verstandenen Gott vertrauen sie sich im Gebet an.
2. Da die anonymen Mechanismen der modernen Gesellschaft nicht ausdrücklich widergöttlich sind, sondern von der Gottesfrage nur abstrahieren, muten die Christen den Muslimen zu, daß auch sie bereit werden, unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen ihren Glauben zu leben. Die demokratisch-rechtsstaatliche Gesellschaftsordnung hat sich als notwendig erwiesen, damit Menschen unterschiedlicher Überzeugungen einigermaßen friedlich zusammenleben können. Sich in eine solche Ordnung einzufügen, ist heute angesichts der wachsenden Verflechtung aller Völker notwendig. Dies verlangt aber von den Muslimen ein starkes Umdenken27, wofür es jedoch in ihrer eigenen Tradition gewisse Ansätze gibt. Gerade moderne Islamisten betonen ja, daß die islamische Ordnung, wie sie diese sich vorstellen, mit Ausnahme der kurzen Zeit von Mohammed und seiner ersten Gefährten nie real existiert hat28. In der Geschichte aller islamischen Länder gab es immer gewisse Unterschiede zwischen dem religiösen und dem politischen Bereich. Solche Ansätze sind heute weiter auszubauen. Bereits jetzt leben Millionen von Muslimen in Staaten mit westlich-demokratischer Ordnung, und man würde ihnen wohl Unrecht tun mit der Behauptung, sie seinen schlechtere Muslime. Für sie sind aber neue Perspektiven notwendig, wie sie etwa Smail Balic in seinem Buch "Islam für Europa" dargelegt hat29. Er versteht die säkulare Gesellschaft als Herausforderung, aber auch als Chance für den Islam. Christen sollten europäische Muslime in diesem Sinn stärken und ihnen helfen und Mut machen, ihren Glauben auch in einer für sie zunächst fremden Welt zu leben30. Diese sollten ihrerseits dahin wirken, daß Überlegungen, wie Balic sie vorträgt, auch in Ländern mit muslimischer Mehrheit immer mehr Anklang finden. Dazu bietet auch der gegenwärtige iranische Staatspräsident Seyed M. Khatami wichtige Überlegungen31.
3. Das Akzeptieren des liberalen und demokratischen Staates bedeutet keineswegs, daß der Glaube, wie der Liberalismus es will, ganz zu privatisieren ist. Die katholische Kirche hat nach einem langen und mühsamen Prozeß beim Zweiten Vatikanum zu einem klaren Ja zum demokratischen Staat und zu der Religionsfreiheit gefunden. Dennoch erhebt sie weiterhin einen öffentlichen Anspruch, dessen Akzeptanz allerdings von der freien Annahme durch eine Mehrheit von Bürgern abhängt. Zwar tendierten liberalistische Strömungen in der Theologie der letzten Jahrzehnte dahin, den christlichen Glauben stark den "Normen" der Moderne unterzuordnen und auch die Wahrheitsfrage von Mehrheitsmeinungen abhängig zu machen. Doch dies ist ein Irrweg. Eine lebenskräftige christliche Theologie muß, wie das Beispiel der Propheten und Jesu Christi zeigen, Widerstand leisten können und sich auf eine Glaubensgemeinschaft mit klaren Überzeugungen stützen32. Die liberalistischen Tendenzen in der westlichen Theologie erschweren es auch dem Islam, sich in der modernen Welt zurechtzufinden, weil sie ständig den Verdacht wecken, die Akzeptanz des liberalen Staates bedeute zugleich die Preisgabe des eigenen Glaubens. Deshalb dürfte nur eine christliche Theologie, die klar am Glauben an eine göttliche Offenbarung festhält und zugleich die rechtsstaatliche Demokratie akzeptiert, in der Auseinandersetzung zwischen dem Islam und der westlichen Welt hilfreich vermitteln können.
4. Das gemeinsame öffentliche Auftreten von Christen und Muslimen gegenüber starken negativen Tendenzen in der modernen Welt ist auch für die westliche Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Wenn nur eine religiöse Gemeinschaft sich in der Öffentlichkeit meldet, steht sie leicht im Verdacht, nur ihre Privatinteressen zu vertreten. Gemeinsam können sie aber individualistischen und egoistischen Strömungen überzeugender entgegentreten. Gemeinsam läßt sich die einseitige Dominanz der instrumentellen und zweckrationalen Vernunft klarer kritisieren. Gemeinsam kann der Aufteilung der Welt in Habende und Nichthabende wirkkräftiger entgegengewirkt werden, und gemeinsam können jene Tendenzen vielleicht korrigiert werden, die sonst zum Selbstgericht der weltweiten menschlichen Gesellschaft führen.
5. Durch den Terror vom 11. September 2001 und durch viele frühere Attentate wurde die Frage der Gewalt ins Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt. Sie ist auch zentral für jeden interreligiösen Dialog, der dem Frieden dienen will. Zwar wird kein Staat ohne die Unterscheidung von legaler und krimineller Gewalt und ohne einen minimalen Einsatz von legaler Gewalt existieren können. Durch die Akzeptanz einer staatlichen Ordnung, die von der religiösen unterschieden ist, werden die religiösen Gemeinschaften aber von der Sorge, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung direkt verantwortlich zu sein, befreit. Sie können deshalb in ihrem Bereich eindeutiger zur Frage der Gewalt Stellung beziehen.
Was man dem Christentum in seiner langen Geschichte am meisten zum Vorwurf macht, hängt mit der Gewaltproblematik zusammen, und diese war ihrerseits stark durch die Sorge um die öffentliche Ordnung bedingt. Durch die klarere Unterscheidung zwischen Kirche und Staat, wie sie bereits im Neuen Testament und in der frühen Kirche vorgegeben war und wie sie sich in der Auseinandersetzung mit dem demokratischen Staat erneut aufgedrängt hat, können Mißverständnisse heute leichter ausgeräumt und Fehlverhalten eingestanden werden. Die katholische Kirche hat dies im Jubiläumsjahr 2000 in einem öffentlichen Akt der Buße getan (12. März 2000), bei dem sie Fehler der Vergangenheit vor der Welt bekannt und in einem Gebet zu Gott um Vergebung gebeten hat33. Durch dieses öffentliche Zeichen vollzog sie eine "Reinigung des Gedächtnisses", wie dies Johannes Paul II. ausdrücklich angezielt hatte34, und sie bekundete so vor der ganzen Welt, wie sie sich selber verstehen will, was sie als ihre wahre Tradition festhält und wovon sie sich als Abirrungen von ihrem eigenen Glauben trennt.
Ist ein ähnlicher Akt der Buße auch dem Islam zuzumuten? Für ihn stellt sich die Frage zunächst anders, denn in seinen normativen Schriften finden sich keine Aussagen, die mit der Forderung nach Gewaltfreiheit in der Bergpredigt und mit dem Verhalten Jesu angesichts drohender Gewalt direkt verglichen werden könnten. Mohammed hat vielmehr selber kleine Kriege geführt, und der Islam hat sich in seiner frühen Phase vor allem im Zusammenhang mit militärischen Expansionen rasch ausgebreitet. Dennoch muß die Frage der Gewalt im Dialog klar angesprochen werden. Dabei können zunächst pragmatische Argumente eine Rolle spielen. Die militärische Überlegenheit der westlichen Welt ist heute so groß, daß auf absehbare Zeit durch offene Konfrontation für die islamischen Länder nichts zu erreichen ist. Mit Terror kann man zwar dem Gegner Wunden zufügen, durch die Reaktionen kommen aber die muslimischen Länder selber unter Druck und haben entsprechend zu leiden. Die vielen Attentate, die mit dem Islam in Zusammenhang gebracht werden, schaden ihm ferner in der weltweiten öffentlichen Meinung sehr und bringen ihn um seine Glaubwürdigkeit. Da aber auch der Islam letztlich auf die Freiheit des Glaubens setzt, muß ihm diese Glaubwürdigkeit ein Anliegen sein, und er muß zeigen, wie er sich das Zusammenleben mit Menschen anderer religiöser Überzeugungen auf gleichberechtigter Ebene vorstellt. Können der Friede und die Gerechtigkeit, die innerhalb des "Hauses des Friedens" (dar al salam) herrschen sollen, nicht auch einen Beitrag leisten zum Zusammenleben im "Haus des Krieges" (dar al harb)? Dies sind schwierige Themen, die in einem kommenden Dialog schrittweise aufzuarbeiten sind und die auch die Frage des Kreuzes einschließen müssen, das der Koran bei seiner Rezeption der Gestalt Jesu als Prophet deutlich ausklammert.
6. Der Islam versteht die Worte, die an Mohammed ergangen sind, als endgültige Rezeption und Reinigung jener Offenbarungen, die vorher bereits Abraham, Moses, die Propheten und Jesus erhalten haben. Auch das Christentum sieht in Jesus Christus die endgültige Rezeption der religiösen Erfahrungen Israels und darin die endgültige Offenbarung Gottes. Beide Ansprüche auf Endgültigkeit stehen einander konfliktartig gegenüber. Gerade im Austragen dieses Konfliktes haben sich aber die jeweiligen Offenbarungsverständnisse tiefer zu bewähren. Zunächst kann davon ausgegangen werden, daß beide Ansprüche sich wenigstens teilweise auf eine gemeinsame frühere Geschichte beziehen, und insofern, wenn auch auf unterschiedliche Weise, an die Geschichte verwiesen sind. Letztlich geht es aber um die richtige Unterscheidung zwischen der Schöpfung und dem Schöpfer. Wie für den Islam der Koran zugleich geschaffen und ungeschaffen ist, so ist für das Christentum Jesus Christus zugleich Gott und Geschöpf. Die schrittweise Aufarbeitung dieser Probleme ist von zentraler Bedeutung. Wenn sie einigermaßen gelingt, dann kann auch der Anspruch auf Offenbarung, den beide Religionen in einer Welt erheben, die für göttliche Offenbarungen kaum mehr Ohren hat, wieder glaubwürdiger werden.
Der Dialog dient so nicht nur dem Frieden auf Erden. Er kann den Islam und das Christentum zugleich veranlassen, den tiefsten Anspruch in der jeweils eigenen Religion radikaler zu entdecken.
Stimmen der Zeit (2002) 597-588