Die Frage: Deutschland - Missionsland? provoziert. Große Verwunderung wird zusätzlich die Tatsache wecken, daß dieses Wort vor über 50 Jahren gesprochen wurde. Bereits am 22. Oktober 1941 sagte Alfred Delp SJ bei einem Vortrag in Fulda: "Wir sind Missionsland geworden. Diese Erkenntnis muß vollzogen werden. Die Umwelt und die bestimmenden Faktoren alles Lebens sind unchristlich." 1 Als Delp um die Jahreswende 1944/45 im Gefängnis Berlin-Tegel über den modernen Menschen "im Angesicht des Todes" reflektierte, meinte er, dieser sei "in eine Verfassung des Lebens geraten, in der er Gottes unfähig ist". Die Organe, Gott wahrzunehmen, seien verkümmert2. Wenige Jahre später sprach der Mitarbeiter der Päpstlichen Mission in Kronberg im Taunus, Ivo A. Zeiger SJ, auf dem ersten Katholikentag nach dem Zweiten Weltkrieg am 2. September 1948 im Dom zu Mainz über die "religiös-sittliche Lage und die Aufgabe der deutschen Katholiken". Er kam zu diesem Ergebnis: "Ja, Deutschland ist Missionsland geworden. Denn auch unsere noch scheinbar geborgenen Katholiken sind ungeborgen, sie sind in die Gefährdung geworfen." 3 Das Wort wurde damals zum Ärgernis; es wurde als pessimistisch, als resignativ, als eine Herabsetzung der deutschen Katholiken empfunden.
Inzwischen wird die Frage neu gestellt; denn die Moderne brachte nicht nur die Option für einen individualisierten Glauben und die Herauslösung des Menschen aus den überkommenen Sozialmilieus mit sich. Sie führte auch zu einer tiefgreifenden Veränderung in der kirchlichen Praxis. Nicht ohne Grund spricht man vom "Glauben ohne Kirche" (Der Spiegel 52/1997) und erkennt die "Kirche im Gegenwind" (Michael N. Ebertz). Daß Deutschland ein Missionsland geworden ist, kann heute keiner mehr bestreiten. Um die neue religiöse Situation zu deuten, soll dreifach gefragt werden: nach den Chancen und Risiken des sozialen Wandels, nach den heutigen Methoden der Glaubensvermittlung, nach den Charakteristiken einer missionarischen Gemeinde und einer missionarischen Kirche.
Chancen und Risiken eines sozialen Wandels
Aufgrund von Umfragen und von Ergebnissen der Religionsstatistik fixieren sich viele Christen auf die Tatsache: Die Dinge sind nicht mehr so wie "früher", mit der Folge, daß sich in der Kirche Frust und Resignation breitmachen. Wäre es nicht möglich, wie bei einem jeden tiefgehenden sozialen Wandel - um einen solchen handelt es sich bei diesem religiösen Umbruch - Gewinn und Verlust, Innovation und Traditionsaufgabe zugleich zu sehen? Wenn Christen ihre Aufmerksamkeit nur auf den Verlust richten, statt den Blick dem Neuen und allem, was Zukunft eröffnet, zuzuwenden, demotivieren sie sich selbst. Es ist notwendig, gegen diesen Zeittrend anzugehen und zuerst das Positive, das gültige Neue und die Innovationen in der Rückschau auf die Kirche nach 1945 in den Blick zu nehmen. Was hat sich Bemerkenswertes getan?
1. Die neue Verantwortlichkeit der Laien in den Pfarrgemeinden ist nicht mehr zu übersehen. Da wären nicht nur die Räte zu nennen, sondern auch die Mitarbeit in vielen Verbänden und gemeindlichen Gruppen, und im Gottesdienst die Lektorinnen und Lektoren und die Kommunionhelfer. Fortschreitend nehmen auch die Frauen den ihnen gebührenden Platz in den Gemeinden ein. In einer deutschen Diözese sind bereits 40 Prozent der Mitglieder in den Pfarrgemeinderäten Frauen. Die Laien verantworten auch die vielfältigsten Tätigkeiten, Aufgaben und Aktionen in den Pfarreien. In einem Prospekt einer Münchener Pfarrei waren neulich etwa 30 Gruppen und Aktivitäten zu zählen, von der Nachbarschaftshilfe über einen Musikkreis bis zur Arbeitsgruppe "Partnergemeinde in Bolivien".
Vergleicht man diese Entwicklungen mit der deutschen Kirche nach dem Kriegsende, dann sind dies durchweg erfreuliche Neuerungen. Es vollzieht sich jene Entklerikalisierung, in der aus einer versorgten Pfarrei allmählich eine sich selbst engagierende Pfarrei wird. Die Stunde der Laien fördert zugleich einen tieferen Weltbezug der christlichen Gemeinden. Erfüllt hat sich darin die Option der Würzburger Synode, wenn sie 1973 ausführte: "In den letzten Jahren sind viele Impulse in den Gemeinden wirksam geworden. Häufiger als bisher sind Christen zur Übernahme einer Aufgabe in der Kirche bereit. Die Reform der Liturgie, die Einrichtung der Pfarrgemeinderäte, die Einführung neuer pastoraler Dienste haben Möglichkeiten geschaffen, die von den meisten Christen lebhaft begrüßt werden." 4 Inzwischen haben diese Dienste noch weiter zugenommen.
2. Die zeitgemäße Einführung der Kinder in die Sakramente, also die Erstkommunion- und Firmkatechese, liegt weithin in den Händen der Laien, der sogenannten Tisch- oder Gruppenmütter oder -väter. In manchen Gemeinden haben junge Eltern inzwischen auch die Taufkatechese übernommen. Ähnliches geschieht zuweilen bereits auch bei der Ehekatechese.
Die sakramentale Glaubenspraxis kehrt wieder dorthin zurück, von wo sie ausging: in die Familie. Es sei an die Hausgemeinden, an das Brotbrechen in den Häusern zur Zeit der Urkirche (Apg 2, 43-47) erinnert. Ähnliche Verantwortlichkeit der Laien sollte noch mehr bei der Krankenkommunion möglich sein. Familienmitglieder bringen nach dem Sonntagsgottesdienst die Eucharistie dem kranken Familienmitglied mit nach Hause. Wenn sich eine neue sakramentale Erziehung entfalten soll, kann diese nur mit und in der Familie, anhand des Glaubenszeugnisses von Vätern und Müttern geschehen, wobei nicht zu vergessen ist: Diese christliche Glaubenspraxis würde rückwirkend auch die Familie selbst stabilisieren. Auch diese Entwicklung fand die ungeteilte Zustimmung der Würzburger Synode, wenn sie sagte: "Für die Hinführung der Kinder zur Eucharistie empfiehlt sich die Vorbereitung der Kinder in kleinen Gruppen, die von Eltern oder anderen geeigneten Erwachsenen betreut werden. Der Seelsorger muß dafür sorgen, daß sie auf ihre Aufgabe sorgfältig vorbereitet werden. Immer ist die Mitarbeit der Eltern von großer Bedeutung." 5
Daß als Sonderfall eine Jugendgruppe einen ungetauften Freund auf den Weg des Katechumenats begleitet und dann mit dem Neugetauften seine Taufnacht begeistert mitfeiert, könnte ein Modell für vergleichbare Fälle und Feste werden, die sich gewiß angesichts der religiösen Situation in der ehemaligen DDR mehren werden.
3. Die Vielzahl spiritueller Gruppierungen und Bewegungen tragen zu einem pluriformen Erscheinungsbild der Gemeinden bei. Diese neuen Gruppen sollen nur genannt werden, ohne daß ihre Programme vorgestellt und bewertet werden können: Cursillo, Foculare, Equipe Notre Dame, Stefanusgemeinschaft, Legio Mariae, Schönstattgemeinde, Neukatechumenat, Franziskanische Gemeinschaft, Charismatische Gemeindeerneuerung. Vielfältige spirituelle Aufbrüche gelangen durch die Gruppen in das Leben der Gemeinden, die gewiß nicht die großen Massen erreichen, aber dennoch spirituelle Kerne mit einer Laienspiritualität in der Gesellschaft und in der Kirche bilden. Daß sich in diesen Gruppierungen auch bedenkliche Polarisierungen zwischen konservativen und progressiven Positionen abspielen, macht die Schattenseite dieser an sich begrüßenswerten Entwicklung aus.
In diesem Kontext sei nicht vergessen: In den letzten Jahren hat die Exerzitienarbeit neue Gestalt und neues Gewicht erhalten: Die Ausbildung von Laien zu Exerzitienbegleitern und -begleiterinnen, die Einzelexerzitien, die dreißigtägigen Exerzitien, die Exerzitien im Alltag. In diesen Angeboten handelt es sich um authentische ignatianische Exerzitien und nicht um irgendwelche fromme Zeiten. Insgesamt greift die Besinnung auf eine christliche Spiritualität um sich, die erfreulicherweise den Kontakt zur sozialen und politischen Wirklichkeit nicht aufgegeben hat.
4. Viele diakonische Werke werden von den Gemeinden getragen, von Patenschaften mit der Dritten Welt über die Betreuung alter Menschen in Seniorenheimen oder Kranker in den Kliniken bis zur Nachbarschaftshilfe für junge Mütter und für alleinstehende ältere Menschen. Auch bei diesen diakonischen Diensten überschreiten die Gemeinden ihre Grenzen und fühlen sich etwa für arme und bedrängte Menschen in Polen, Serbien oder Jugoslawien verantwortlich, oft in beachtlichen Privatinitiativen. Daß die Diakonie ein Wesensbestandteil einer christlichen Gemeinde darstellt, wird darin wie selbstverständlich greifbar; daß diese Dienste oft ökumenisch verantwortet werden (wie auch die Bahnhofsmissionen) ist ein hoffnungsvolles Zeichen.
5. Die ökumenische Zusammenarbeit wächst stetig. Entsprechend dem Wort Jesu, daß seine Gemeinde eine sei, finden die getrennten Kirchen immer mehr zusammen, im gemeinsamen (Wort-)Gottesdienst, in Bildungsveranstaltungen, in sozialen und politischen Aktionen. Inzwischen gibt es die Möglichkeit zu einer ökumenisch verantworteten Trauung. Dies sind Erfolge, die angesichts der jahrhundertelangen gegenseitigen Abschottung undenkbar gewesen wären. Mag es zuweilen auch wieder zu Irritationen und Entfremdungen kommen: Die Richtung in dieser erfreulichen Entwicklung stimmt; denn die Kirchen finden - zumal auf der Ebene der Gemeinden - allmählich zusammen, selbst wenn Ökumene nicht das große Thema in der kirchlichen Öffentlichkeit sein mag.
6. Viele Impulse der kirchlichen Jugendarbeit greifen in das Leben der ganzen Kirche ein. Über die Jugend der Kirche wird oft nur hart geurteilt und geschimpft. Dennoch sind ihre Verdienst um die Gestalt der deutschen Kirche nicht geringzuschätzen. Im liturgischen Bereich förderte sie das neue Liedgut, entwickelte Frühschichten, Spätschichten, den "Ökumenischen Jugendkreuzweg"6. Sie brachte auf die Tagesordnung der deutschen Katholiken die aktuellen Themen Friede, soziale Gerechtigkeit, Umwelt (vgl. Katholikentag in Düsseldorf). Themen, in denen sich auch der "Konziliare Prozeß" niederschlug und deren Wichtigkeit erst später allen einleuchtete. Als Musterbeispiel für das Engagement des BDKJ darf die alljährliche Sternsingeraktion genannt werden: eine geglückte Verbindung von Gebet, Information, Spiel der Drei Könige und einem Sammelergebnis von über 50 Millionen DM. Inzwischen kann diese Aktion als neues Brauchtum aus der deutschen Kirche nicht mehr weggedacht werden, vom feierlichen Eröffnungsgottesdienst und den aktuellen Berichten im Fernsehen bis zum Empfang beim Bundeskanzler. Natürlich gibt es auch in der kirchlichen Jugendarbeit immer wieder Schwierigkeiten. Aber wenn junge Menschen nicht mehr Unruhe stiften, warum beschweren sich dann die Erwachsenen, daß sich in der Kirche nichts verändert?
Zu diesen exemplarischen Entwicklungen wäre es ohne das Zweite Vatikanische Konzil und ohne die Würzburger Synode nicht gekommen. Durch diese beiden großen spirituellen Ereignisse in diesem Jahrhundert kam die deutsche Kirche auf einen neuen Weg. Dieser Weg gäbe zugleich eine erste Antwort auf die Frage: Deutschland - Missionsland? Die deutsche Kirche ist dabei, sich vielfältig umzugestalten und zu reformieren, um den Fragen der heutigen Zeit mit neuen Antworten und Formen zu entsprechen. Die Pastoralsynoden, Foren und Gespräche unterstreichen dies zusätzlich. Die Reform kann nicht mehr übersehen werden. 7
Trotz dieser betont positiven Sicht der Entwicklungen in der deutschen Kirche, die auf ein engagiertes Christentum hinauslaufen, muß man einräumen, daß es diesen Neuaufbrüchen nicht gelungen ist, die negativen Folgen tiefgehender gesellschaftlicher Entwicklungen und des sozialen Wandels aufzuhalten oder auszugleichen. Die Modernisierung zeitigt ihre Früchte
8.
Es ergibt sich das folgende Bild: Der regelmäßige sonntägliche Kirchgang der Katholiken liegt bei etwa 18 Prozent aller Katholiken. Ein Gebetsleben wird bei unter zehn Prozent der katholischen Familien gepflegt. Die religiöse Erziehung spielt demnach eine eher geringe Rolle. Der Empfang der Sakramente - vor allem des Sakraments der Versöhnung und der Ehe - hat abgenommen oder wird umgedeutet. Vor allem aber hat sich das christliche Leben sowohl aus seiner Rückbindung an die Institution Kirche gelöst als auch von ethischen und sozialen christlichen Normen weithin freigemacht.
Durch die Wiedervereinigung des Jahres 1989 hat sich diese religiöse Situation zusätzlich tief verändert. Unter den 17 Millionen Deutschen aus der ehemaligen DDR sind, hochgegriffen, noch etwa zwei Millionen engagierte evangelische Christen und 600 000 praktizierende Katholiken zu finden. Etwa 68 Prozent der 16jährigen Schüler sind nicht getauft. Auch diese Zahlen sind ein Ergebnis des realen Sozialismus, der in seinem Wesen atheistisch und in seiner Form totalitär war; er hat ein modernes Heidentum hervorgebracht.
Zur gleichen Zeit traten in Deutschland (1992) fast 200 000 Katholiken aus ihrer Kirche aus. Wenn auch nicht an erster Stelle die Kirchensteuer als Ursache genannt wird, so stimmen die eigentlichen Motive nachdenklich: Entfremdung von der Kirche wegen autoritärer Strukturen, die Ärgernisse der heutigen oder gestrigen Kirchengeschichte, der Mangel an Trost und Heimat in den Gemeinden. Bei den Umfragen werden als Kritikpunkte auch die altbekannten Themen genannt: die Einstellung zu Sexualität und Empfängnisverhütung, der Zölibat, der Ausschluß wiederverheirateter Geschiedener von den Sakramenten9.
Diese Themen benennen nur im einzelnen, was die Religionssoziologie als Ursache des sozialen Wandels entdeckt hat: die Individualisierung und Pluralisierung, die dann auch zur Entzauberung der Welt, zu subjektiven Normen der Selbstverwirklichung und der Selbstbehauptung, zur Befreiung aus kirchlichen Institutionen und ethischen Vorgaben, mit einem Wort: in eine um sich greifende Modernisierung geführt hat. Anders gesagt: Die bisherige Volkskirche und das, was man den "Katholizismus" als gesellschaftliche Form des katholischen Christentums zwischen 1850 und 1950 in Deutschland bezeichnete, nimmt ein Ende10. Auch diese Entwicklungen wird man annehmen müssen.
Wenn man die Gesamtbilanz ziehen will, wird man - falls man gerecht ist sagen müssen: Es hat sich viel Neues getan. Je mehr Christen über diese Entwicklungen beglückt sein werden, um so eher werden sie auch Antworten auf unbewältigte Herausforderungen finden. Diese Antworten können gewiß nicht die des letzten Jahrhunderts sein: die Ausgrenzung und das Getto. Je mehr die Christen den Mut haben, diese Herausforderungen zu sehen und zu hören, um so mehr werden sie sich auf einen Weg machen, gemeinsam Antworten zu finden im Sinn einer neuen Reform der Kirche für das dritte Jahrtausend.
Situative Glaubensvermittlung
Die entscheidende Frage in einem "Missionsland" heißt: Wie kann die Vermittlung des Glaubens bzw. eine religiöse Erziehung gelingen, die immer in die gesamtgesellschaftliche Situation eingebunden ist und auf keinen Fall als eine rein binnenkirchliche Angelegenheit gelten darf? Je mehr diese gesellschaftliche Situation mit den Zielen und Methoden des Glaubens und seiner Vermittlung übereinstimmt, um so einfacher und sicherer wird sich auch die Weitergabe des Glaubens gestalten.
Im Blick in die Kirchengeschichte lassen sich mit dem Bielefelder Soziologen Franz Xaver Kaufmann11 drei Methoden ausmachen, die kurz charakterisiert werden sollen: die sozial-kulturelle, die pädagogische und die missionarische Methode. Diese drei Methoden können der Klärung der heutigen Herausforderungen dienen.
1. Die sozial-kulturelle Vermittlung des Glaubens ereignet sich in einem sozialen Milieu, das in seinen alltäglichen Abläufen die Praxis des Glaubens unabwendbar einübt, ja geradezu zum Glauben nötigt. Indem ein Kind und ein Jugendlicher das Leben seiner Eltern, seines Dorfes, seiner Nachbarschaft, seiner Kleinstadt mitlebt, werden ihm zugleich die wesentlichen Riten, Werte und Begriffe des christlichen Glaubens mitgegeben; es werden ihm Verhaltensweisen (Werte) eingeübt, deren Erfüllung durch Anerkennung belohnt und deren Nichteinhaltung durch Diskriminierung bestraft wird.
In dieser Situation stellt die Berufung auf die Tradition das eine Element dieser Erziehung dar, die Forderung nach Gehorsam das andere. Während die Tradition die Kontinuität mit der gemeinsamen Vergangenheit sicherstellt, wird die Zukunft im Gehorsam zu gewährleisten versucht. Beides war für die Sicherung der Identität der Gemeinschaft ebenso wichtig wie für die Identität der jeweiligen Person. Eine Ausrichtung, vielleicht in mancher Hinsicht auch eine Hinrichtung, wie christliche Biographien12 durch ihren Protest in der Ablösung aufweisen.
Eine so in sich geschlossene, auf die intakte Familie und auf die behütende Gemeinde gestützte Vermittlung gab es zumindest seit der Entwicklung der staatlichen Schule nicht mehr vollständig. Im übrigen hatte sich bereits die Berufsausbildung aus der Familie herausgelöst, weil zuvor schon die Fabrikation und Produktion aus dem "Haus" ausgewandert waren - und zu diesem "Haus" zählten wohlgemerkt neben den Kindern auch die Knechte und Dienstmägde. Auch dabei wirkt sich die Industrialisierung als entscheidender Impuls der Veränderung aus.
2. Die pädagogische Vermittlung des Glaubens entwickelte sich mit der Entstehung der staatlichen Schule, die teilweise von der religiösen Schule (Klosterschule) abstammte. Es entstanden eigene Räume der Glaubensvermittlung vom Kindergarten über die kirchliche Jugendarbeit bis zur Studentenseelsorge - und es bewährten sich eigens qualifizierte Vermittler des Glaubens, von der Kindergärtnerin über den Jugendkaplan bis zum Studentenpfarrer. Diese pädagogische Vermittlung des Glaubens besaß ihre eigenen Institutionen und Methoden, und sie gewann um so mehr an Profil, je mehr die Umwelt antikatholisch war. Infolgedessen wurde dann eine konfessionsspezifische Gläubigkeit vermittelt, die kontroverstheologisch - nicht ökumenisch - und gettoartig - nicht missionarisch - in einer großen Spannung zur übrigen Gesellschaft lebte. Die Familie war in diesem Netzwerk zwar eine geheime Allianz mit der Kirche eingegangen, stellte aber nicht mehr den einzigen Ort der Glaubensvermittlung dar. Solange die Bekenntnisschule bestand, war durch dieses weithin homogene, kirchlich verantwortete Erziehungsfeld eine religiöse Erziehung und in ihr die Vermittlung des christlichen Glaubens möglich. Inwieweit sich allerdings nur eine äußere Anpassung an gesellschaftliche Maßstäbe abspielte, ohne daß eine innerliche Aneignung der christlichen Wahrheit gelang, ist eine schwierige Frage.
In den letzten Jahren hat sich in diesen überkommenen Lernorten des Glaubens vieles geändert. Die Bekenntnisschule, für die P. Rupert Mayer in den Jahren 1936 und 1937 in München13 gegen die Nationalsozialisten einen harten Kampf führte, ist inzwischen der Gemeinschaftsschule gewichen. Die entscheidenden Mitarbeiter in der kirchlichen Jugendarbeit sind professionalisierte Sozialarbeiter und Jugendpfleger, aber nicht mehr Kapläne. Die Leiterinnen der Kindergärten sind durchweg keine Ordensfrauen mehr, sondern ausgebildete Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen.
Diese Entwicklungen haben nicht nur das Erscheinungsbild der Institutionen verändert; sie haben auch zur Ausprägung einer neuen Gestalt der zumal psychologisch verantworteten Vermittlung des Glaubens beigetragen. Man mag das alles beklagen, aber diese Veränderungen waren auch deshalb schon notwendig, weil die Welt und die Geschichte, für die ein Kind und ein Jugendlicher zu erziehen waren, durch eine pluralistische Gesellschaft bestimmt waren. In ihr hätte ein junger Mensch durch Anpassung und Gehorsam nicht überleben können. Er hätte seinen Standort nicht finden können. Allein durch eine je neu verantwortete Entscheidung aus dem Glauben kann er sein christliches Leben leben. Auf dieses konkrete christliche Leben hin war die Vermittlung des Glaubens nun pädagogisch geplant, neuerdings mit der Zielvorstellung einer flexiblen Identität.
3. Die missionarische Vermittlung des Glaubens nimmt zur Kenntnis, daß die Situation durch eine pluralistische Gesellschaft und einen weltanschaulich neutralen Staat bestimmt wird, die beide auch von der Säkularisierung des modernen Menschen geprägt werden. Dies fördert aufs erste nicht den Glauben, sondern eher den Glaubenszweifel, nicht die Integration in die Kirchengemeinde, sondern die Emanzipation aus ihr, nicht die Übernahme von kirchlich anerkannten Glaubenssätzen, sondern die Selektion aus vielen Weltbildern (Bastelexistenz heißt das heute). Auf die bisherigen institutionellen Vorgaben für die Vermittlung des Glaubens kann sich die amtliche Kirche weniger als früher verlassen.
Daher muß es zu einer missionarischen Vermittlung des Glaubens kommen. Dabei sind Kinder und Jugendliche ebenso wie die Erwachsenen im Blick. Die Grundbegriffe heißen nicht mehr Tradition und Gehorsam, sondern erfahrungsbezogene Identität und Entscheidung aus Freiheit. Gefragt sind daher in der Kirche soziale Räume, in denen die authentischen Erfahrungen des Christlichen gemacht werden können und in denen der moderne Mensch die Gewißheit hat, daß seine ihm teure Freiheit geschätzt und geschützt wird, daß seine eigenen Entscheidungen nicht nur beachtet, sondern hochgeachtet werden. Im Blick auf solche Räume läßt sich folgern, daß auch die Familie in ihren Grunderfahrungen unersetzbar ist. Aufgrund einer Untersuchung von Allensbach über die "Weitergabe des Glaubens"14 wissen wir, daß christliche Erziehung am ehesten gelingt, wenn die Familie (und Ehe) in sich stabil ist, wenn die Eltern in ihren Glaubensüberzeugungen und Werteinstellungen einer Meinung sind, wenn die Familie in ein weites Bezugsfeld von Freunden, anderen Familien, Jugendgruppen eingebettet ist und einen guten Kontakt zur Pfarrgemeinde hat. Familie ist und bleibt auch heute als religiös prägender Lebensbereich unersetzbar.
In einer missionarischen Situation verschieben sich allerdings die Akzente in den anderen Lebensfeldern und Lernorten des Glaubens. Dazu einige Beispiele: Kirchliche Jugendarbeit wird nicht überflüssig, ebensowenig wie die anderen Institutionen. Frage nur ist: Wie läßt sich Jugendarbeit als Begegnungsraum mit Nichtchristen, also mit Jugendlichen, die nie dem christlichen Glauben und der Kirche begegnet sind, und zugleich als Lebensraum für junge Christen gestalten? Diese Doppelorientierung stand bereits im Hintergrund des Würzburger Synodenbeschlusses "Ziele und Aufgaben kirchlicher Jugendarbeit"(1975) 15. Er hatte einen diakonischen Ansatz. Ähnliche Überlegungen wären erneut für den Religionsunterricht in der Schule anzustellen. Nur in den seltensten Fällen kann er auf eine langjährige religiöse Sozialisation in der Familie zurückgreifen. Gerade deshalb muß er alles daransetzen, um die Sinnfrage junger Menschen zu thematisieren und um die Gottesfrage offenzuhalten, wie das im übrigen die Würzburger Synode für den Religionsunterricht16 bereits forderte.
Missionarische Haltungen verwirklichen sich in Begegnungsfeldern, sind eher inklusiv als exklusiv, lassen sich eher auf eine "dialogische Orthodoxie" (Walter Kasper) ein, als daß sie mit der Kontrolle des Glaubenswissens und der Lebenspraxis auf die Herausbildung einer idealen Gemeinde der "Gerechten und Reinen" Wert legten. Endlich sind die Fragen an eine glaubwürdige Erfahrung von Christen nicht ablösbar vom Zeugnis, vom Vorbild aller Christen. Damit heißt das Problem: Wo läßt sich die Erfahrung machen, daß es Menschen gibt, denen nach christlichen Grundsätzen, gemäß dem Lebenswissen Jesu, ihr Leben gelingt?
Bei diesem missionarischen Modell fällt auf, wie sehr es mit den Grundprinzipien einer heutigen Erziehungswissenschaft übereinstimmt: mit der Erziehung zu Selbständigkeit und Identität, zu Eigenentscheidung und Freiheitsbewußtsein, zu Kommunikation und Kreativität. Nicht nur im theoretischen Appell an solche Einstellungen und Verhaltensweisen kann eine missionarische Vermittlung des Glaubens gelingen, sondern allein in der alltäglichen, menschenfreundlichen Erfahrung eines christlichen Glaubens.
Diese drei Modelle sind immer auf eine konkrete gesellschaftliche Situation zurückbezogen, in der sich die Kirche jeweils befindet. Natürlich wurden sie idealtypisch herausgearbeitet. Sie existieren konkret nur als Mischformen. Gerade deshalb gilt es anzuerkennen, daß wir uns heute im Übergang von einer volkskirchlichen zu einer nachvolkskirchlichen Situation17, befinden - wobei Unterschiede je nach Regionen nicht zu übersehen sind - und daß zunehmend die pädagogische Vermittlung des Glaubens einer missionarischen weichen wird.
Charakteristiken einer missionarischen Gemeinde
Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit der Transformation der Volkskirche in eine missionarische Gemeindekirche. Die Zeichen der Zeit fordern sie heraus, nämlich die Sinnlosigkeitserfahrungen des modernen Menschen, die vagabundierende Religiosität, der Zerfall institutioneller Bindungen, der zeitgenössische Grundkonflikt zwischen Individualisierung und Solidarität und der nicht geringzuschätzende moderne Hedonismus: Spaß als sittliche Kategorie. Die Gestalt einer Kirche, die die Nöte des Menschen wahrnimmt und als Herausforderungen annimmt, wurde grundsätzlich bereits im Zweiten Vatikanischen Konzil und in der Würzburger Synode entworfen. Folgende Charakteristiken sollen zumindest angedeutet werden.
1. Der Dienst der Begegnung. Daß eine missionarische Kirche von Menschen in Dienst genommen wird, ist unbestreitbar. Es handelt sich aber um den Dienst der Begegnung. Diese Formulierung hebt den personalen Charakter des Dienstes heraus: Es geht um Beziehung. Diese Beziehung wird heute nicht nur von den Menschen gesucht; sie macht zudem theologisch die Grundstruktur des christlichen Glaubens aus; denn er ist Beziehung zwischen dem in Jesus Christus menschgewordenen Gott und dem einmaligen Menschen. Infolgedessen realisiert Kirche dann ihren eigentlichen Auftrag, wenn sie sich in die Beziehung begibt, Beziehung ermöglicht und Beziehungsfähigkeit vermittelt. Kirche ist die Leibhaftigkeit des in Jesus Christus begegnenden Gottes, des Gottes in leibhaftiger Beziehung. Solche Beziehung meint den konkreten Menschen und nicht die Formalität einer Glaubensverwaltung. Die Würzburger Synode sprach von einem "personalen Angebot"18, das in der kirchlichen Jugendarbeit vor jedem Sachangebot zu stehen hat, und das ein fortwirkendes Zeugnis der Menschwerdung Gottes ist.
Allerdings wirft sich das Problem auf, wie alle Details, die in unserer heutigen Gesellschaft strukturell, implizit oder anonym christlich sind und weithin als Argument gegen den Sinn von Christentum und Kirche verwendet werden, wieder in ihren Grund und Ursprung zurückfinden können. Gewiß nicht dadurch, daß man alles und jedes für die Kirche reklamiert; eher schon dadurch, daß die Menschenfreundlichkeit einer beziehungsfähigen Kirche jene Übereinstimmung entdecken läßt, die zwischen dem (anonymen) christlichen Geist und der kirchlichen Form obwaltet.
Solche Dienste der Begegnung leistet die Kirche an vielen Orten, etwa in der Freizeit- und Tourismuspastoral (z. B. Kur- oder Flughafenseelsorge). Exemplarisch werden sie greifbar in den Angeboten der katholischen Akademien, die - über die Erwachsenenbildung hinaus - sich als Foren der Auseinandersetzung und der Meinungsbildung erleben lassen und Sonntag für Sonntag von vielen umgetriebenen Zeitgenossen aufgesucht werden. Dort wird Begegnung als das erfahren, was sie in ihrem Wesen eigentlich ist: Eröffnung für Wahrheit und Freiheit. Damit werden aber auch jene Prinzipien sichtbar, die in anderen Lebensfeldern einer missionarischen Kirche zu gelten hätten, auch in den Ortsgemeinden.
Am Ende stellen sich diese Fragen: Wie begegnet Gemeinde heute dem modernen Menschen? Unter welchen Bedingungen könnten diese notwendigen Begegnungen wieder, oftmals erstmals oder erneut, gelingen? Lädt die Gemeinde ein, besser noch: ist sie einladend? Was prägt das Image einer Gemeinde?
2. Der Respekt vor der Freiheit. Das Selbstverständnis des modernen Menschen läßt sich auf die Begriffe Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung bringen. In ihnen kommt die bereits genannte Individualisierung zum Tragen. Der moderne Mensch fordert, daß man seinen Freiheitsanspruch voll respektiert. Er möchte selbst über die Form seiner Glaubenspraxis und den Inhalt seiner persönlichen Gläubigkeit entscheiden. Damit stellen sich Fragen nach Zeit (und Sinn) von Kindertaufe, Firmung, Eheschließung usw. Diese Fragen möchte der heutige Mensch besprechen können, bevor er sich entscheidet, und er möchte in seinem Streben nach Unabhängigkeit, Kreativität und Eigensinn akzeptiert sein. Wenn Identität schon immer wesentlich zum Glauben gehörte, muß Kirche dieses Begehren nach subjektiver Redlichkeit annehmen, in der Hoffnung, daß dann am Ende der persönlichen Glaubengeschichte der Gott des je eigenen Lebens zu stehen kommt. Unmittelbar daraus ergibt sich die Forderung nach Dialog, Bereitschaft zum Zuhören, Mitverantwortung und Mitentscheidung, Transparenz der Entscheidungen und Strukturen. Auch bei dieser Entwicklung sind Schattenseiten auszumachen. Eine ist die Versuchung der Idylle, in die hinein der einzelne fromme Christ sich aus der sozialen und politischen Welt verabschiedet hat. Trifft aber das "Rottenburger Axiom" zu: "Je mystischer Christen sind, desto politischer werden sie sein"19, dann muß sich dieser personale Glaube wieder in den Dienst an den (armen) Menschen weggeben, in allen jenen Werken der leiblichen und geistigen Barmherzigkeit, wie sie die Frömmigkeitsgeschichte des Christentums kennt.
Eine zweite Schattenseite ist die Gefahr, daß die vielen einzelnen in ihrer Freiheit nicht mehr zusammenfinden. Solidarität wäre der eine Aspekt, Einheit der andere. Kirchliche Gemeinschaft kann auch dadurch zustande kommen, daß in der Verschiedenheit der Erfahrungen, Glaubenswege und Charismen dennoch der Kern des einen Auftrags, der einen Sendung, der einen Gnade Christi zu entdecken ist. Wirkt in allen der gleiche Geist, dann muß er in der Gemeinsamkeit erfahrbar werden. Einheit meint dann allerdings nicht Uniformität, sondern Einheit in der Vielfalt. Diese plurale Lebensform werden Gemeinden und Christen noch lernen müssen - zumal sie eine zutiefst ökumenische Aufgabe darstellt. Die Toleranz könnte dabei zur zeitgemäßen Form christlicher Wahrheitsliebe werden. Die immer wieder eingeforderte Geschwisterlichkeit von Kirche würde gewiß das bislang offensichtlich Mißglückte ermöglichen, nämlich Selbstbehauptung und Solidarität miteinander zu verbinden20, immer im Respekt vor der Freiheit des einzelnen. Daß ein solches Freiheitsbewußtsein bei jungen Menschen hochgeschätzt wird, ist allgemein bekannt, und daß Erziehung zu Identität und Ichbewußtsein unmittelbar mit Freiheit verbunden ist, liegt auf der Hand.
Diese Fragen bleiben: Wird es der Kirche gelingen, die Freiheit des Menschen nicht nur zu bejahen, sondern sogar aus dem christlichen Glauben heraus zu begründen? Macht den Christen die christliche Freiheit zur Solidarität frei? Haben Christen gelernt, Irritationen, Spannungen und Konflikte auf die Dauer christlich zu ertragen und auszutragen?
3. Die Erfahrung des gemeinsamen Weges. Gegen die Statik und Beharrlichkeit einer Volkskirche steht eigentlich die Tatsache, daß die jüdisch-christliche Religion wesentlich von der Erfahrung des Weges geprägt ist. Grundlegend für das Judentum war der Exodus, der von Gott geführte Auszug Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten. Ebenso grundlegend für das Christentum wurde der Weg der beiden Jünger nach Emmaus, der gemeinsame Weg der Erfahrung österlicher Befreiung (Lk 24, 13-35). Es muß auffallen, daß in der Kirchengeschichte des letzten Jahrhunderts dieser Weggedanke eher verlorenging, obgleich doch Christus von sich als dem "Weg" gesprochen hat (Joh 14, 6) und obgleich die Christen laut Apg 11, 26 zuerst die Leute des "neuen Weges" hießen.
Heute wird zumal in der Religionspädagogik der Glaube wieder als Wegerfahrung erkannt. Jede Lebensgeschichte eines Menschen enthält ihre Begegnungen mit Gott, ist ein Drama, eine Komödie, ein Trauerspiel, auch mit Gott und vor Gott. Was sich als Einsicht hier anbietet, setzte sich für eine missionarische Kirche in beiden Optionen des Handelns um: Geduld und Hoffnung. Geduld, weil auch die kleinste Annäherung an eine Glaubensentscheidung wichtig und unersetzbar ist; Hoffnung, weil am Ende Gott immer wieder siegreich über menschliche Endlichkeit als unendliche Fülle aufgeht. Was hier in Bildern gesagt wurde, setzte die Religionspädagogik in der "Gradualität" um: das schrittweise Eingehen in den Glauben und die Weggefährtenschaft, in der Christen sich mit Jugendlichen auf einen unübersehbaren und oft schwer kalkulierbaren Weg machen, einen Weg in die größere Wahrheit und Liebe, die am Ende von allen gesucht werden: von den Jungen und den Alten.
Die Probleme ergeben sich aus der "Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen" (W. Pinder). Diese Generationenprobleme bringen aber mehr als nur Konflikte. Sie eröffnen auch die Chance zur Entdeckung längst vergessener christlicher Wahrheiten und zum Aufbrechen erstarrter Formen.
In diesem Zusammenhang fällt der Blick noch einmal auf die Familie; denn Eltern sind ja ihr ganzes Leben lang mit ihren Kindern unterwegs. Dazu schreibt Franz Xaver Kaufmann: "Da Familien heute tendenziell überlastete Sozialgebilde geworden sind und die früher die Sozialisation mittragenden konfessionellen Milieus an Dichte stark verloren haben, ist eine Zunahme religiöser Indifferenz zu vermuten: Wertübernahme in der Sozialisation geschieht im wesentlichen durch Identifikation, und da die Eltern im Regelfall die stärksten Identifikationspersonen sind, muß ihre Unfähigkeit oder Unwilligkeit zur Übernahme der religiösen Erziehungsverantwortung zu einer nachhaltigen Schwächung der Tradierung des Christentums führen." 21 Kaufmann nennt eine bittere Einsicht. Sie kann die missionarische Kirche nur dazu ermutigen, Ehe und Familie als Feld eines besonderen Dienstes zu entdecken, der zum einen zwischenmenschliche Beziehungen stabilisieren könnte, damit sich also die heutigen hohen Erwartungen an Partnerschaft und Familie erfüllten, und der zum anderen einen sozialen und dichten Raum der Vermittlung des Glaubens aufbauen könnte.
In diesem missionarischen Modell von Kirche geht es schließlich um nichts anderes als um Evangelisierung, um eine glaubwürdige Bezeugung einer Botschaft, aus der heraus sich leben läßt, weil sie Leben und Tod, Welt und Menschheit deutet und diesem allen einen Sinn gibt. Es geht um eine neue Kirche, von der man oft nur träumen kann; denn sie steht im Fluchtpunkt vieler menschlicher Bedürfnisse und Erwartungen.
Diese Fragen bleiben: Lassen sich die Generationen in den Gemeinden auf ein offenes Gespräch und eine herzliche Zusammenarbeit ein oder verteidigen sie nur ihre (je zeitbedingten) Positionen und Ansichten? Lassen sich auch heute die gemeinsamen Wege nach Emmaus entdecken und miteinander gehen?
4. Die geschwisterliche Gemeinde. Eine der entscheidenden Aussagen des Zweiten Vatikanums ist die von der Gleichheit aller Christen. Diese sehr formale Aussage wird ansprechender formuliert im Begriff der "geschwisterlichen Kirche". Aus dieser Vorgabe resultieren Konsequenzen für die Struktur der Gemeinden, für das Verständnis des geistlichen Amtes, für den (bürokratischen) Innenraum der Kirche. Hier wäre ausführlich vom Amtsverständnis und vom Priestermangel, vom römischen Zentralismus, von der Gemeindeleitung, von der Stellung der Frau in der Kirche zu reden, Probleme, die leider oft eher im Schlagschatten der Angst als im Licht einer geist-vollen Zuversicht liegen und deshalb der Diskussion entzogen werden. Doch es sollen zwei andere Aspekte betrachtet werden.
Diese missionarische Gemeinde wird von ihrem Wesen her ökumenisch sein müssen. Die Überwindung des Skandals der Trennung der Kirche bleibt eine permanente Aufgabe. Das Zeugnis des Miteinanderglaubens hat einen missionarischen Charakter. Das Einüben solcher Einheit vollzieht sich in einer echten Zusammenarbeit: auf den sozialen Feldern, in der Bildungsarbeit und der Jugendarbeit. Dabei wird allerdings auch bewußt werden, daß das Miteinanderarbeiten nur das eine sein kann, daß aber der Weg zum Miteinanderleben noch weit ist; denn je mehr sich die Konfessionen gegenseitig kennenlernen, um so mehr nehmen sie auch die Unterschiede im Glaubensgut und in der Glaubenspraxis wahr. Die 400 Jahre der getrennten Glaubenswege haben ihre je eigenen Formen hervorgebracht. Wann wird es gelingen, daß ein jeder die konfessionsspezifische Glaubenspraxis - auch für sich selbst - als eine Bereicherung erkennen kann?
Das andere, was diese Gemeinde als missionarische ausweist, ist ihre gesellschaftliche, soziale und politische Verantwortlichkeit in Gesellschaft und Welt. Damit wird nicht für Parteipolitik optiert. Aber es werfen sich Fragen auf, die jede Gemeinde betreffen: der Kinderhort und der Kindergarten, gerade im Hinblick auf alleinerziehende und berufstätige Mütter und Väter; die Jugend im Pfarrgebiet unter den Themen: Drogen, Partykeller, Treffpunkte; die alten Menschen (Seniorenbüros, Seniorentreffpunkte); die Betreuung der Kranken und Sterbenden (Hospizbewegung); die Probleme um Straßenverkehr und Umwelt. Je mehr die Kirche auf diese Weise selbstlos in der Gesellschaft anwesend und aktiv ist, um so mehr kann sie wieder in Beziehung zu den ihr entfremdeten Menschen kommen. Das neue Image, das sie gewinnt, wird Barrieren aus Vorurteilen und Ängsten abbauen.
Sobald die Kirche, die Gemeinden, die einzelnen Christen die Situation des Missionslands Deutschland voll realisiert haben, werden sie aufhören, mit ihren Problemen - sei es eine Laieninstruktion, sei es der Konflikt um Ministrantinnen - um sich selbst zu kreisen; denn die Gottesfrage des heutigen Menschen, die von der Sinnfrage nicht ablösbar scheint, läßt solche Probleme als zweitrangig erkennen. Mission ereignet sich - wie die Kirchengeschichte beweisen kann - immer im mutigen Überschreiten von Grenzen. Dieses Mal stehen nicht geographische Grenzen, hohe Gebirgszüge oder weite Meere im Weg, sondern theologische Fixiertheiten, die offensichtlich nicht befragt werden dürfen. Eine missionarische Kirche müßte den Mut haben, im Vertrauen auf die Zusage Jesu (Mt 28, 20), auch diese Grenzen zu überschreiten, auf den modernen Menschen zu.
Stimmen der Zeit (1998) 399-412