Michael Krüger, der am 9. Dezember 65 Jahre alt wird, ist eine außergewöhnliche Erscheinung im Szenario der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Einerseits ist er maßgeblich an der Steuerung des Buchmarkts hinter den Kulissen beteiligt: als langjähriger literarischer Leiter, seit 1995 als geschäftsführender Gesellschafter des renommierten Münchener Hanser-Verlags, als Herausgeber der einflußreichen Literaturzeitschrift "Akzente", Mitherausgeber des Literaturjahrbuchs "Tintenfisch" und des "Jahrbuchs der Lyrik", als Übersetzer sowie als Mitglied in zahlreichen Jurys und anderen kulturpolitischen Drehscheiben.
Gleichzeitig ist er selbst ein Literat von Rang als Essayist, Erzähler und vor allem als Lyriker. Zahlreiche Literaturpreise dokumentieren die öffentliche Wertschätzung seines Werks (unter anderem Peter-Huchel-Preis 1986; Ernst-Meister-Preis 1994; Mörike-Preis 2004). Jüngst wurde Krüger darüber hinaus gleich doppelt mit einer Ehrenpromotion ausgezeichnet: 2006 von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld; 2007 von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Tübingen. Er steuert und organisiert also einen Teil des Literaturbetriebs, ist aber als Autor gleichzeitig Teil desselben. In dieser Doppelung ist Michael Krüger einzigartig.
Um so bemerkenswerter ist es, daß gerade das Werk Krügers eindeutige Belege für die Beobachtung liefert, daß sich in der Gegenwartsliteratur eine neue Unbefangenheit in der Annäherung an Religion und die Gottesfrage feststellen lässt1. Es lohnt sich, diesen Spuren nachzugehen.
Vorsichtige literarische Annäherung an Religion
Ab 1976 wagte sich Krüger an die Publikation eigener literarischer Veröffentlichungen. Zunächst wurde er als Lyriker bekannt, publizierte ab 1984 jedoch auch Prosa. Mit den Romanen oder Novellen "Der Mann im Turm" (1991), "Himmelfarb" (1993), "Die Cellospielerin" (2000), "Das falsche Haus" (2002) und schließlich "Die Turiner Komödie" (2005) machte er sich dann auch als Erzähler einen Namen.
Vor allem in seinen Lyrikbänden zeigt sich seit Beginn der 90er Jahre eine bemerkenswerte Entwicklung: War Religion zuvor kaum ein direkt benanntes Thema in Krügers Schreiben, so rückt sie nun mehr und mehr in seine erschriebenen Welten hinein, ohne freilich jemals zentrale Bedeutung zu erlangen. Vorher herrschte Skepsis, Ablehnung vor. In Figurenrede läßt er in dem 1989 erschienenen Gedichtband "Hinter der Grenze" Stimmen aus der Welt "weit hinter Prag" zu Wort kommen, die in ihre Lebenserfahrung Verse aufnehmen, in denen es heißen kann: "Die Gebete, die wir in den Himmel / rufen, kommen ungehört zurück."2 Oder: "Fühlte Gott sich nicht wohl / unter Sündern? Unsere Gebete stärken / ihn, nicht uns, wenn sie ihn erreichen." Und später im selben Gedicht: "Gott ist stark durch uns, / seine Lehre leicht, doch schwer zu leben."3
Warum aber dann ab 1990 eine andere, offenere, differenziertere Aufnahme religiöser Themen und Motive? Ein Gedicht aus dem 1998 erschienenen Band "Wettervorhersage" gibt Auskunft. In "Hotel Wandl, Wien" findet sich das Zeilenpaar: "Wir müssen uns nicht mehr der Religion / erwehren, sie greift uns nicht an."4 "Nicht mehr" - das benennt den Wandel direkt. Wo zuvor Schriftsteller und Intellektuelle zur Distanz gegenüber Religion und Kirche gezwungen waren, um nicht falsch vereinnahmt, mißverstanden oder ideologisch mißbraucht zu werden, gibt es diesen Zwang zur Absetzung seit einigen Jahren nicht mehr. Religion "greift uns nicht an"; das mag darauf hindeuten, daß die kulturelle Prägegewalt der institutionalisierten Religionen und Konfessionen abgenommen hat. Umgekehrt eröffnet sich erst so, erst jetzt jener Freiraum, der kreative Auseinandersetzung mit dem Phänomen Religion ermöglicht. "Gegen die Institution der Kirche brauchte man nicht mehr zu sein"5, so literarisch gebrochen eine Aussage des Protagonisten der Novelle "Das falsche Haus" (2002). Für Michael Krüger entfaltet sich die Wirkkraft des Christentums unabhängig von den Veränderungen der Institution Kirche weiter. In einem Radiogespräch mit Karl-Josef Kuschel aus dem Jahr 2005 bestätigt er, daß "das Christentum zwar vielleicht hinter einer Wolke verborgen" sei, "aber die Strahlungen, die es aussendet, finden sich natürlich in allen unseren Handlungen wieder"6. Entsprechend heißt es in dem Gedicht "Erziehung" (1996): "kann ich nicht glauben, / daß der zerredete Körper / der christlichen Kultur seine Seele / ausgehaucht hat"7.
Die Konsequenz in Krügers Werk seit Beginn der 90er Jahre: Fortan wird religiöses Vokabular, werden biblische und theologische Themen aufgenommen und gestaltet, sei es in den Gedichtbänden, oder sei es in seiner editorischen Tätigkeit. "Die Schriftsteller haben schon lange gewußt, daß die Bibel eigentlich alle Geschichten enthält, die sich denken lassen." Mit diesen Worten leitete Krüger einen von ihm initiierten Sammelband ein, in dem junge deutschsprachige Autoren und Autorinnen im Jahr der Bibel 2003 "biblische Geschichten neu erzählen", so sinngemäß der Untertitel des Buchs. Denn - so Krüger weiter - mit "welcher Leidenschaft, mit welcher Sprachgewalt, mit welcher Ehrfurcht" seien dort Geschichten erzählt, Urerzählungen, die beides zugleich sind: viel zu wenig gelesen und zu unbekannt und dennoch die bleibenden Grundschriften der westlichen Kulturen. Krügers Konsequenz aus dieser Spannung im Blick auf "die Bibel als literarisches Kunstwerk": es komme "darauf an, sie aus der Sprache des Alten Testaments in unsere Sprache zu übersetzen"8.
Derartige literarische Übersetzungsversuche finden sich in Michael Krügers eigenem literarischen Werk eher selten. Sein poetischer Umgang mit dem weiten Feld der Religion erfolgt anders. Einige Gedichte sollen dieses Verfahren der poetischen Gottesrede Krügers verdeutlichen. Der erste Text, so etwas wie eine programmatische Selbstbesinnung, stammt aus dem 1996 erschienenen Band "Nachts, unter Bäumen"9:
Die kleinen Verse
Die kleinen Verse, die keine Richtung kennen,
keine Tendenz, sie folgen selbstvergessen
einem Weg ins Dunkel und tauchen plötzlich
auf der Lichtung auf, verwandelt. Sie kennen
nicht den Appetit auf große Wörter, sie sagen
nicht, was Menschen tun und lassen sollen.
Und wenn von Gottes Tod die Rede ist,
vom Tod des Menschen, sind sie nicht zu hören.
Platon, Nietzsche. Alle Dichter, die mit Feuer
das Feuer bekämpfen, daß im fiebrigen Prasseln
Klang werde, höherentwickelte Form, verachten
die kleinen Verse. Sie aber leben weiter,
im Lidschlag des Auges, das sich öffnet und
schließt.
Das reimlos und freirhythmisch verfaßte Gedicht bedenkt die Rolle von Literatur, die Rolle von "kleinen Versen" in unserer Zeit. Hauptzielpunkt: Kleine Verse werden hier vorgestellt als eigenständige Geisteswesen, die sich gleich mehreren Modeströmungen in Gesellschaft und Kulturbetrieb nicht anpassen, sondern "selbstvergessen" und ohne "Richtung" ihre eigene Wirklichkeit spiegeln.
Sie verweigern sich zunächst all den "großen Wörtern", allen Versuchen, eine klar definierte Moral und vorgeschriebene Norm festzulegen. Sie verweigern aber ebenfalls die Zustimmung zum scheinbar selbstverständlichen Chor all jener Stimmen, die im Gefolge Friedrich Nietzsches den Tod Gottes proklamieren. Schließlich finden sie sich auch nicht im Bund jener politischen Lyrik und Prosa, die versucht, "Feuer mit Feuer zu bekämpfen". Nicht Moral, nicht Absage an Gott, nicht Politik - die kleinen Verse leben für sich, notwendig und selbstverständlich wie der Lidschlag des Auges. In ihnen hat auch die Rede von Gott einen bleibenden Platz - sei es auch nur indirekt, sei es auch nur in der Absage an die Rede vom Tod Gottes. Dieser kleine poetologische Text steht somit geradezu paradigmatisch für die Tradition der neuen Möglichkeiten literarischer Rede von Gott.
Wer bei Michael Krüger nach Bestätigungen kirchlich-dogmatisch definierter Glaubensaussagen sucht, wird nicht fündig. "Christliche Literatur"10 - selbst im reflektiert-kritischen Sinn - schreibt er nicht. Seine Poesie verweigert bloße Affirmation oder unnötige Wiederholung, fängt eher kleine Beobachtungen des Alltags, Momente der Begegnung, feinfühlige Wahrnehmungen von Natur und Menschen ein. In solche Gedanken fließen Aussagen über Religion wie selbstverständlich mit ein. So finden sich in dem Gedicht "Halt auf freier Strecke"11 aus dem Band "Kurz vor dem Gewitter" (2003) die folgenden Zeilen, eingefügt in Betrachtungen der angesichts eines unplanmäßigen Halts eines Zuges wahrgenommenen Landschaft und der Charakterisierung der Reaktionen von Mitreisenden:
Man kann sich gut vorstellen,
daß hier noch an Gott gedacht wird,
an den keiner mehr glauben will.
Ein Brombeergott, ein Gott der Kletten,
den keine Sünde reizen kann.
|
In der betrachteten Landschaft scheint die im Zeitgeist vorherrschende Unwilligkeit, an Gott zu glauben, noch nicht zu gelten. Der Glaube selbst wäre aber eher ein Schöpferglaube ("Brombeergott") als der christlich-dogmatisch verfaßte Glaube an den Zusammenhang von Sünde und Erlösung.
Immer wieder flicht Krüger in diesem Zusammenhang respektvoll die Erinnerung an seine Großeltern ein, die maßgeblich die evangelisch-christliche Welt seiner Kindheit bestimmt haben: "Auch nach der Enteignung wollte er unbedingt / an Gott glauben"12, heißt es so in dem Erinnerungsgedicht "Wo ich geboren wurde" von 2003 über den Großvater. Und eines der Worte, die heute so unmodern geworden sind - gleichzeitig so unverzichtbar -: "Demut", wurde "von meiner Großmutter nur sonntags benutzt" und die, "in einen Umhang aus Sackleinen gekleidet", "wußte genau, was sie tat"13 - so einige Fragmente aus dem Gedicht "Post" (2007). Auch in der Zeichnung der Großmutter des Ich-Erzählers in dem grotesk-satirischen Prosaband "Aus dem Leben eines Erfolgsschriftstellers" (2000) - alles andere als eine Autobiographie - mögen sich Erinnerungen an diese Frau literarisch niederschlagen. "Als tiefgläubige Protestantin" ertrug diese "ihr Schicksal ohne Murren", betete allabendlich inbrünstig zu Gott und klagte ihm ihr Leid. Der Erzähler kommentiert: Da "Gott ihr zwar, da war ich mir ganz sicher, zuhörte, seine Antworten aber auf sich warten ließen", übernahm sie selbst langsam aber sicher auch seinen Part und sprach mögliche Antworten mit:
"Und so ging es immer weiter, von kleinen Gebeten unterbrochen, wenn sie sich zu weit vorgewagt hatte, bis sie schließlich Gott bat, seine Hand weiterhin schützend über sie und den Großvater zu legen, wie sie ihm auch hoch und heilig versprach, seinen Namen in Ehren zu halten."
Das abschließende Gebet für ihn, den Enkel, habe ihn aber immer eher verschreckt, "weil ich immer Angst davor hatte, mit Gott persönlich in direkten Kontakt treten zu müssen"14. Unnötig, die autobiographischen Anteile abzuwägen - hier findet sich ein liebenswertes kleines Portrait einer frommen alten Frau, die in einer für sie stimmigen Gottesbeziehung lebt.
Ironische Brechungen
Daß Religion, Glaube, Gebet, die literarische Rede von Gott dabei nicht selbst verständlich sind, daß es eine Phase der Distanz, des Zweifels (den er nicht zufällig in den Titel einer seiner Gedichtsammlungen15 aufnahm) gab und gibt, daß diese Erfahrungen Spuren hinterlassen, ist dabei offensichtlich. Affirmation und Zurückweisung, Distanz und Nähe, ironisches Spiel und ernsthafte Reflexion ergänzen und bedingen einander. Das wird in einem Text16 aus dem Gedichtband "Brief nach Hause" von 1993 deutlich:
Brief
Gestern abend ging ich - bitte
frag nicht: warum? - in die Kirche
im Dorf, hockte mich bibbernd
zwischen die alten Leute
in eine der engen Bänke
und bewegte die Lippen, als hätte ich
mitzureden. Es war ganz leicht.
Schon nach dem ersten Gebet - wir
beteten auch für Dich - wuchs mir
die Maske des Guten übers Gesicht.
Vorne pickte der alte Pfarrer,
ohne eine Lösung zu fordern,
wie ein schwarzer Vogel lustlos
im Evangelium, schien aber nichts
zu finden, uns zu verführen.
Kein Leitfaden, kein Trost.
Nach einer Stunde war alles vorbei.
Draußen lag ein unerwartet helles Licht
über dem See, und ein Wind kam auf,
der mich die Unterseite der Blätter
sehen ließ.
|
Das Gedicht ist wie ein Brief an ein Du gerichtet, dem ein alltägliches Ereignis berichtet wird: der Besuch einer Kirche, die erstaunte Teilnahme an einem Gottesdienst. Überrascht berichtet der Ich-Sprecher, wie leicht ihm die unerwartete Teilnahme gefallen sei. Mit dem Mitsprechen der Gebete überzog ihn - so in ironischer Brechung genannt - "die Maske des Guten". Daß der alte, überforderte Pfarrer ihn inhaltlich nicht ansprechen, weder "Leitfaden" noch "Trost" bieten konnte, scheint nicht wesentlich ins Gewicht zu fallen. Bewirkt hat der Gottesdienstbesuch dennoch etwas: die neue Wahrnehmung der Natur, gekennzeichnet durch das "unerwartet helle Licht" und die durch den Windzug sichtbare "Unterseite der Blätter". Licht und Windhauch als religiöse Symbole deuten zumindest auf die Möglichkeit einer geistgewirkten Veränderung, die nicht allein auf natürliche Ursachen verweist. Die Mitteilung, daß auch für das angeredete Du gebetet wurde, verstärkt die religiöse Bedeutung des geschilderten Ereignisses. Dennoch kommt das Gedicht ganz ohne "Botschaft", "Moral" oder "Aussage" aus.
Ein zögerlicher Umgang mit Religion, ein Sich-Zuwenden zu religiösen Ritualen fast wider besseres Wissen oder in Verwunderung über diese Wendung wird bei Krüger mehrfach benannt. Im Roman "Die Turiner Komödie" von 2005 legt er dem Protagonisten die Überlegung in den Mund, daß er "nie verstanden habe, daß ich Gott etwas mitteilen soll, was er garantiert schon weiß. Lieber nichts sagen. Oder nur heimlich. Lieber stumm danken."17 In ähnlich ernsthaft-ironischer Brechung wie in "Brief" ist ein weiteres Gedicht18 verfaßt. Es stammt aus dem Gedichtband "Kurz vor dem Gewitter" von 2003:
Das Kreuz
In den alten Kirchen im Süden
schlage ich manchmal das Kreuz,
um das Gespräch mit dem Heiligen
zu erleichtern. Es wirkt. Ich rede
dann lange mit den salpetrigen Engeln,
die in den feuchten Ecken leben,
in einem Gemisch aus Demut
und Orthodoxie. In Barcelona,
im Dom, verließ die heilige Milena
ihr verstaubtes Fresko, eine junge Frau,
und setzte sich zu mir
auf die kalten Marmorstufen des Altars.
Wir mußten flüstern. Um uns herum
alte Damen, die statt des Rosenkranzes
ihre Einkaufsnetze hielten. Es roch
nach Minze, Weihrauch, Apfelsinen.
Milena zeigte auf einen Wanderer
auf einem dunklen Bild, der einen Blitz
anstarrte, eine zuckende Natter am Himmel.
Das wirst du sein, sagte sie, du wirst
diesen Weg gehen müssen, aber keine Angst,
ich werde hier auf dich warten.
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In diesen Versen wird eine Begegnung geschildert, ironisch distanziert und sprachlich gebrochen, aber nur so darstellbar. Der evangelischer Tradition entstammende Krüger erzählt vom Besuch einer katholischen Kirche in Barcelona. Kreuzzeichen, Geruch und Atmosphäre des Doms, das Heilige, die Heilige, die plötzlich die Gestalt einer jungen Frau annimmt, die ihm den Zukunftsweg weist - all das wird in wenigen Worten aufgerufen, um in der Schwebe zwischen Erinnerung, Begegnung und sich öffnender Vision zu verbleiben.
Reden über Religion
Vor allem in dem 1998 erschienenen Gedichtband "Wettervorhersage" finden sich zahlreiche Verweise auf Religiöses. Hier führt Krüger - unter anderem - eine in vorherigen Bänden begonnene Traditionslinie fort: Er verfaßt lyrisch verdichtete "Reden", perspektivische Gegenwartsspiegelungen aus der Sicht unterschiedlichster Zeitgenossen, etwa "des Gärtners", des "Schauspielers" oder des "Traurigen". Neben ihnen kommt - überraschend - auch Karl Marx zu Wort19, und zwar so:
Marx redet
Manchmal, wenn es im Westen aufklart,
schaue ich den glitzernden Geldflüssen zu,
die schäumend über die Ufer treten
und das eben noch dürre Land überschwemmen.
Mich amüsiert die Diktatur des Geschwätzes,
die sich als Theorie der Gesellschaft
bezahlt macht, wenn ich den Nachrichten
von unten glauben darf. Mir geht es gut.
Manchmal sehe ich Gott. Gut erholt sieht er aus.
Wir sprechen, nicht ohne Witz, und dialektisch
erstaunlich versiert, über metaphysische Fragen.
Kürzlich fragte er mich nach der Ausgabe meiner
Gesammelten Werke, weil er sie
angeblich nirgendwo auftreiben konnte.
Nicht daß ich daran glauben will, sagte er,
aber es kann ja nicht schaden.
Ich gab ihm mein Handexemplar, das letzte
der blauen Ausgabe, samt Kommentaren.
Übrigens ist er gebildeter, als ich dachte,
Theologie ödet ihn an, der Dekonstruktion
streut er Sand ins Getriebe, Psychoanalyse
hält er für Unsinn und nimmt sie nicht
in den Mund. Erstaunlich sind seine Vorurteile.
Nietzsche zum Beispiel verzeiht er jede
noch so törichte Wendung, Hegel dagegen kann
er nicht leiden. Von seinem Projekt spricht er aus Schüchternheit nie.
Bitte, sagte er kürzlich nach einem langen Blick
auf die Erde, bitte halten Sie sich bereit.
Was für eine kühne spielerische Vision! Marx im Himmel blickt auf die Erde herab und plaudert über das, was er sieht: Geldflüsse bewässern das zuvor unfruchtbare Land, und statt der Diktatur des Proletariats herrscht die "Diktatur des Geschwätzes". Der Hauptteil der fiktionalen marxschen Rede aber gilt Gott, den er ja "manchmal" sieht. Von wegen "tot" - "gut erholt sieht er aus", was auf eine zurückliegende Krise deutet, die nun aber überwunden ist. Liest seine, die marxschen Werke, weil die zumindest "nichts schaden" können, weist Theologie als öde, Dekonstruktion als sinnlos und Psychoanalyse als unsinnig zurück. Schätzt Nietzsche allen Provokationen zum Trotz, mag aber Hegel nicht. Ist schüchtern. Hat aber "sein Projekt", das unbeschrieben bleibt (die Heilsgeschichte?). Zur Umsetzung dieses Projekts scheint Gott jedoch - vom Treiben auf der Erde enttäuscht - die Hilfe ausgerechnet von ihm, Karl Marx, zu benötigen: "Halten Sie sich bereit." Marx als "Engel" im göttlichen Auftrag unterwegs, um dessen Projekt umzusetzen? - Diese zum Schmunzeln anregende Vision wird am Ende nur angedeutet.
Während "Gott" hier spielerisch-visionär als literarische Gestalt fungieren kann, bleiben im Werk von Michael Krüger erneut Gegenzüge möglich. Denn auch die Rede vom abwesenden Gott hat sich nicht einfach verabschiedet. Im selben Gedichtband findet sich der Text "Im Gebirg". In die Betrachtung der abendlichen Berge mischen sich theologische Reflexionen. "Zu lang hat Gott / auf einen Erben gewartet ... Jetzt ist er gegangen. / Seine Spuren verwirren sich / mit denen der Tiere, / so daß wir den Eingang / nicht finden zu seinem Reich."20
Ein weiterer Text von Michael Krüger aus diesem Band und der gleichen Reihe der "Reden" nimmt diesen Gedanken der Abwesenheit Gottes, des Abschieds Gottes auf. Hier äußert sich ein "evangelischer Pfarrer"21:
Rede des ev. Pfarrers
(lacht:)
Ach, wissen Sie,
auch ohne ihn
haben wir viel zu tun.
Manche in der Gemeinde
haben ihn schon vergessen.
Anderen fehlt er. Sehr.
War es besser mit ihm?
Der Trost drang tiefer,
und die Scham darüber,
geboren zu sein, ließ sich leichter
verbergen.
|
Das monologische Gedicht setzt eine dialogische Struktur voraus. Die knappe Szenerie des Textes läßt auf die zuvor gestellte Frage eines Dialogpartners schließen, wie etwa: "Herr Pfarrer, was machen Sie eigentlich noch in der Kirche? Gott ist doch längst tot! Die Idee Gott überholt!" Oder so ähnlich. Das in der zweiten Zeile angedeutete Lachen des Pfarrers entpuppt sich so als Lachen der Verlegenheit angesichts der nur erschließbaren vorausgegangenen Frage. Zunächst scheint er in seiner Entgegnung auch eher auszuweichen: Der Gemeindebetrieb läuft weiter, auch ohne "ihn", den hier programmatisch direkt unbenannten, im Kontext jedoch klar erkennbaren Gott - so scheint der Pfarrer überraschenderweise zuzugeben. Es gibt viel zu tun: die liturgische Routine, die sozialen Verpflichtungen, die Aktivitäten unterschiedlichster Gruppierungen. Tatsächlich ist Gott so für viele nicht einmal mehr als Erinnerung präsent.
Die zentrale Zeile des Gedichts findet sich in der Mitte: Manchen fehlt "er". Dann, durch die Setzung zwischen zwei Punkte herausgehoben, das Wort: "Sehr". Jetzt ändert sich der Ton, wird todernst, eingeleitet durch die wohl an sich selbst gerichtete Rückfrage: "War es besser mit ihm?" Zwei Aussagen markieren den Unterschied zwischen einem "Leben mit Gott" und einem "Leben ohne ihn". Es ist interessant, welche gewählt sind. Zunächst: "Der Trost drang tiefer" - ohne Gott ist die Welt trostloser, ist der vormals ritualisierte Umgang mit Leid und Trauer schwieriger geworden. Dann, schwerer verständlich: Die "Scham darüber, geboren zu sein, ließ sich leichter verbergen". Das Schlußwort "verbergen" liest sich leicht wie "ertragen", ist aber so noch abgründiger. Was könnte damit gemeint sein?
Liegt hier ein Reflex der lutherischen Rechtfertigungslehre vor, nach der jeder Mensch vor Gott durch seine Geburt als Sünder dasteht, ganz und gar angewiesen auf Gottes gnädiges Erbarmen? Das würde erklären, warum der Sprecher des Textes ein evangelischer Pfarrer ist. Oder liegt in dieser Geburtsscham ein Bewußtsein für strukturelle Sünde vor, der zufolge wir Westeuropäer - nolens volens - tief eingebunden sind in Schuldverstrickungen unserer Gesellschaft? In jedem Fall wird deutlich, daß nach Meinung des Pfarrers ein Leben mit Gott in diesen beiden Aspekten leichter und besser war. Von Gott selbst ist hier nur noch "im Zeichen seiner Abwesenheit"22 die Rede. Dennoch steht am Ende - zwischen den Zeilen und in der Figurenrede des Gedichtsprechers - die Sehnsucht im Zentrum, der nur noch als abwesend erfahrbare Gott möge doch existieren. Die "größere Sehnsucht" - sie wird hier nur ex negativo benannt.
Verweise auf den Schöpfer
Zu den genannten Facetten des literarischen Umgangs mit Religion und Gottesfrage tritt ein weiterer Fluchtpunkt der Poesie Krügers. Eines seiner zentralen Themen ist die Beobachtung und die sprachliche Transformation der Natur. Immer wieder, nicht nur in den Titeln seiner Gedichtbände, geht es um Bäume, um den Himmel als Grundmetapher, um Gewitter. Im poetischen Umgang mit Natur und Schöpfung legt sich der Brückenschlag nahe zum Schöpfer selbst. Gelegentlich wird dieser Gedanke direkt thematisiert. Vom "Brombeergott" war oben bereits die Rede. Im Gedicht "Korsisches Gebet" (2003) scheut sich Krüger nicht, in Figurenrede der angesichts lebensvernichtender Dürre um Regen bittenden korsischen Bauern einen Gebetstext zu schreiben: "Herr, laß es regnen."23
In anderen Texten wird der Schöpfer ironisch direkt benannt. So am Ende eines Gedichts aus dem neuesten Band, einer Reflexion über einen trüb-regnerischen Tag, der mit dem Dreizeiler schließt: "Irgendwo las ich, Gott sei, an seinem Reichtum gemessen, / ein Geizhals. Das stimmt, einen Sonnenstrahl / hätte er spendieren können, einen einzigen."24 Deutlich wird dieses poetische Verfahren der ironischernsthaften Verweise auf den Schöpfer in folgendem Gedicht aus dem Jahr 2001, verfaßt als poetischer Kommentar des Dichters zu einem Bild des Malers Quint Buchholz, auf dem eine schemenhafte Gestalt einen Kinderwagen vor sich herschiebt und, den Kopf im Nacken, den sternlosen Himmel betrachtet25:
Das Inventar des Himmels ist leer,
die Sterne kassiert.
Ich wollte dem Kind eine Sternschnuppe
zeigen, das schönste geräuschlose Spiel,
das ein müder Gott sich erfand.
Vielleicht brauchen wir nichts zu wünschen?
Vielleicht leben wir schon im Paradies?
|
Ein eindrückliches Bild: Sternschnuppen als "das schönste geräuschlose Spiel", das ein "müder Gott sich erfand"!
Ein zweiter Text aus demselben Band. Sechs schattenhafte Gestalten hocken in stilisierter Landschaftsweite. Im Dunkel über ihnen der Mond, gerade so, als berühre er eine das Bild teilende Stromleitung. Krügers "Bedichtung":
Natürlich kann man sich
den Schöpfer des Universums
als einen Gaukler denken.
Alles verrücktes Spiel,
Ausdruck beginnender Müdigkeit.
Nur manchmal, wenn wir
am Abend, einer Gewohnheit folgend,
uns auf der Wiese versammeln,
um die Nacht still zu begrüßen
sind wir vor Staunen sprachlos:
Um uns zu foppen, zeigt er uns
Proben seines großen Talents.
Schöpfung und Schöpfer werden so humorvoll und unaufdringlich in die lyrischen Naturschilderungen eingebaut. In der Preisrede zur Verleihung des Peter-Huchel-Preises 1986 an Michael Krüger konnte der Laudator, Adolf Muschg, so in aller Vorsicht einen Gedanken formulieren, der sich eigentlich erst in den folgenden Bänden des Dichters als sinnvoll erweisen sollte: "Es wäre vielleicht nicht ganz falsch, Michael Krüger einen gut getarnten Mystiker zu nennen."27 Gewiß, es gibt völlig andere Bereiche, Themen und Schwerpunkte des literarischen Schaffens dieses Dichters. Im Umgang mit Natur und Schöpfung, im behutsam-ironischen Verweis auf Gott, in der literarischen kreativen Integration von religiösem Brauchtum und Gebet, von Kreuz und Kirche zeigt sich jedoch eine poetische Qualität, die man durchaus als "mystisch" bezeichnen kann.
"Gott" mag so eines jener Worte sein, das ganz bewußt zu jenem Inventar gehört, das Michael Krüger als schützenswert erachtet, allen Zeittrends zum Trotz. Im Abschlußgedicht28 des bis dato letzten Bandes "Unter freiem Himmel" gibt er in erneut ironischer und gerade darin sehr ernsthafter poetischer Stilisierung Auskunft über sein Selbstverständnis als Dichter:
Post
... teilen wir Ihnen mit - hochachtungsvoll?
Nein, mit freundlichen Grüßen - daß bestimmte
Worte (siehe Rückseite) zurückgegeben werden müssen.
Ich trug sie zusammen, die Leihgaben
aus alten Büchern, milde und strenge Boten
einer Zeit, als das Universum der Stille
von ihnen besiedelt wurde. Wer weiß,
aus welcher Gegend sie kamen,
jedenfalls fanden sie uns. Und blieben.
... Nein, ich gebe sie nicht zurück. Am Abend
werde ich sie unter den Disteln vergraben,
wo sie keiner vermutet. Es geht darum,
eine Botschaft zu hinterlassen, die keiner
versteht.
Stimmen der Zeit (2008) 831-842