Am 3. Oktober 2000 wird der zehnte Jahrestag der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands als Staatsfeiertag und mit repräsentativen Veranstaltungen begangen. Eine auffällige Häufung "runder" Gedenktage kommt damit an ihr vorläufiges Ende.
Innerhalb eines Zeitraums von kaum mehr als zwei Jahren haben wir uns zuerst an die Währungsreform vom 20. Juni 1948 erinnert: die Geburtsstunde der D- Mark und der Beginn einer beispiellosen wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte. Im Mai 1999 folgte die feierliche Erinnerung an die inzwischen ebenfalls ein halbes Jahrhundert zurückliegende Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die Verabschiedung des Grundgesetzes, das dann mehr als vier Jahrzehnte lang die Verfassung nur eines Teils Deutschlands sein konnte und doch das Festhalten an der Aufforderung, "die Einheit zu vollenden", gewährleistet und gefördert hat manchen Zweiflern, Kleingläubigen und Schwarmgeistern zum Trotz.
Vor einem knappen Jahr war das Datum des 9. November Anlaß, die zehnte Wiederkehr des Tages zu feiern, an dem sich 1989 in Berlin und dann auch in ganz Deutschland jene Mauer wieder geöffnet hat, die zuvor fast drei Jahrzehnte lang die Teilung Deutschlands scheinbar unwiderruflich einbetoniert hatte. "Eines der unmenschlichsten Bauwerke der Geschichte"1 war damals dem übermächtigen Streben der Menschen nach Freiheit doch noch zum Opfer gefallen. Gleichwohl ließ der 9. November auch erneut an das Eingespanntsein zwischen Freude und Trauer denken, das uns einen reflektierten Umgang mit unserer Geschichte immer wieder abnötigt und zugleich ermöglicht.
Der zehnte Jahrestag der ersten und zugleich letzten freien Wahlen zur DDR- Volkskammer vom 18. März 1990 liegt nun ein halbes, der des Inkrafttretens des Staatsvertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, der die D- Mark auch in der DDR zur offiziellen Währung machte, ein Vierteljahr zurück.
Den Höhe- und zugleich den vorläufigen Endpunkt jenes sich mit atemberaubender Schnelligkeit vollziehenden Prozesses hat dann aber das Inkrafttreten des Einigungsvertrages2 gebildet, mit dem am 3. Oktober 1990 der Beitritt der gerade eben wieder neu geschaffenen Länder der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes rechtlich wirksam und so die staatliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt worden ist. Vom Fall der Mauer an hatte dieser Prozeß binnen einer knappen Jahresfrist zur Verwirklichung des Grundziels der deutschen Nachkriegspolitik geführt, das zuvor 40 Jahre lang kaum anders denn als Hoffnungsposten hatte geführt werden können und von manchen sogar schon aufgegeben worden war.
Nun aber hatte die frei gewählte Volkskammer zunächst für den Beitritt zur Bundesrepublik und dann - mit ihrer Zustimmung zum Einigungsvertrag - endgültig für die friedliche Selbstauflösung der DDR votiert. Was für die meisten der Schritt in die "Einheit in Freiheit", "eine Stunde großer Freude", "das Ende mancher Illusionen" und "ein Abschied ohne Tränen" war3, bedeutete anderen schon damals "nichts weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik"4. Besonders oft ist in jenen Tagen aber zitiert worden, daß "nun zusammenwächst, was zusammengehört"5 und daß "sich zu vereinen, teilen lernen heißt"6. Seitdem haben sich diese beide Aussagen freilich auch als eine Art programmatischer Prophetie sui generis erwiesen: Was ist seitdem zusammengewachsen, und was ist seitdem gelernt worden?
Zweifellos haben die Deutschen damals das Ereignis der Wiedervereinigung mit nur wenigen Ausnahmen gemeinsam und in einer eigentümlich bewegten Hochstimmung als die großartige Erfüllung einer zuvor oft schon vergeblich erschienenen Hoffnung gefeiert. Wie aber wird jenes Ereignis, das wir vor zehn Jahren so emphatisch und nicht selten mit Tränen in den Augen bejubelt haben, nun heute gedeutet und bewertet werden? Wie werden wir jetzt in der Rückschau mit unseren Erfahrungen aus der Zwischenzeit umgehen? Was von der Freude jener Tage wäre eigentlich auch heute noch gerechtfertigt, und was von ihr wird sich als wirklich dauerhaft bewähren? Oder wird es sich eher als symptomatisch erweisen, daß es nach diesem vorläufig letzten der bedeutsamen Erinnerungstage der vergangenen zwei Jahre nun auf absehbare Zeit nichts Vergleichbares mehr zu feiern geben wird?
Ereignis und Instrument - Zusammenhang und Unterscheidung
In der allgemeinen Erinnerung an den 3. Oktober 1990 verschmelzen das erreichte Ziel und der Weg zu ihm hin oft zu einer nicht mehr näher differenzierten Einheit. Der breite Konsens, mit dem das besonders auch die emotionalen Empfindungen anrührende Ereignis der Wiederherstellung der staatlichen Einheit selbst begrüßt wurde, sollte aber die Tatsache nicht völlig verdecken, daß das ihr dienende und sie ermöglichende juristische Instrument, der Einigungsvertrag, schon bei seiner Verabschiedung nicht ohne Gegenstimmen war und auch bis heute geblieben ist. Während sich das Ereignis tief in das Bewußtsein des ganzen Volkes eingraben und ein ungeahntes Gefühlspotential freisetzen konnte, blieb das Instrument auf ein beträchtliches Maß an sachlich-rationaler Aufnahmebereitschaft und intellektueller Anstrengung angewiesen. Die jeweiligen Akzeptanzbedingungen waren jedenfalls sehr verschieden.
Nun macht es aber natürlich gerade die eigentliche politische Qualität des ganzen Vorgangs aus, daß beide, das Ereignis und das Instrument, in der Tat untrennbar zusammenhängen. Keines von beiden kann unabhängig vom anderen erklärt und verstanden werden. Einer sachgemäßen Deutung des Ganzen steht also nicht nur die triviale Tatsache entgegen, daß die Standortgebundenheit der jeweiligen Betrachter immer wieder erkennbar durchbricht; auch unser eigenes Votum wird naturgemäß von subjektiven Eindrücken und Erfahrungen nicht frei sein. Der Versuch, das ganze Geflecht der Urteile und Vorurteile, der Meinungen und Spekulationen und auch der - unbewußten oder bewußten - Fehlinformationen noch zu durchschauen, wird zusätzlich dadurch erschwert, daß nicht selten einzelne Aussagen unversehens von der sachrationalen in die emotionale Ebene hinüberspringen oder beide Ebenen scheinbar unentwirrbar miteinander vermischen.
Gerade deshalb muß das, was untrennbar zusammenhängt und dennoch nicht identisch ist, immer wieder gedanklich und begrifflich unterschieden werden. Im folgenden wird dabei das im allgemeinen Bewußtsein weniger gegenwärtige Instrument, der Einigungsvertrag, immer dann den ersten Ansatzpunkt bilden, wenn es auf diese Unterscheidung von Instrument und Ereignis besonders ankommt.
Zunächst sollen freilich die wichtigsten Stationen jenes Gesamtprozesses in Erinnerung gerufen werden, an dessen Ende schließlich das Ereignis der Wiedervereinigung gestanden hat. Einige von ihnen haben zentrale Bedeutung auch für das Verständnis des Einigungsvertrages, dessen eigentümliche Rechtsnatur im Anschluß daran mit den wichtigsten Eckpunkten seines Regelungsbestandes dargestellt werden soll.
Stationen der Vorgeschichte
Vom Ende her betrachtet ist die Linie dieser markanten Stationen mindestens bis zum Tag des Mauerfalls sehr präzise zurückverfolgbar. Allem Anschein nach liegt es nahe, dabei eine Art von Kausalzusammenhang zu unterstellen: Keines der in Frage stehenden Ereignisse scheint ohne Rückbezug auf das ihm vorausliegende erklärbar zu sein, und jedes von ihnen scheint sich gewissermaßen als "conditio sine qua non" für den dann folgenden Abschnitt der Entwicklung zu erweisen. Das aber gibt nun guten Grund, bei der Suche nach ihren Anfängen nicht vorschnell innezuhalten, auch wenn die Direktheit der Zusammenhänge mit größerem zeitlichen Abstand geringer werden mag.
Es ist also durchaus sinnvoll, die Vorgeschichte von Wiedervereinigung und Einigungsvertrag mindestens über ein volles Jahrzehnt hinweg zurückzuverfolgen und vor allem in den Aktionen der polnischen Solidarno??-Bewegung eine erste Wurzel des Prozesses zu sehen, der schließlich mit der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu seinem Ende kommt. Die Entschlossenheit der amerikanischen Präsidenten Reagan und Bush, die bipolare Konfrontation mit der Sowjetunion erfolgreich durchzustehen und im Gefolge davon die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses auch in der Bundesrepublik gehören ebenso zu diesen Wurzeln wie die Offenheit des neuen Generalsekretärs der KPdSU, Gorbatschow, für veränderte Perspektiven und seine Bemühungen, daraus mutige Konsequenzen zu ziehen.
Die rapide fortschreitende internationale Isolierung des SED-Regimes ermutigt und verstärkt die innere Opposition, die sich in den verschiedenen Zweigen der Bürgerrechtsbewegung und in vielen Aktionen wie insbesondere den Friedensgebeten immer deutlicher manifestiert, während die Indolenz Honeckers und seiner Führungsriege den Druck auf die Bevölkerung der DDR laufend erhöht und deren Fluchtbereitschaft fördert. Die Entscheidung der ungarischen Regierung zur Öffnung ihrer Grenzen nach Österreich ist stets schon als eine zentrale Wegmarke der Entwicklung gewürdigt worden. Während so immer mehr Menschen die DDR verlassen, verstärken die Dagebliebenen ihrerseits von Woche zu Woche den Druck auf die Regierenden. Die Montagsdemonstrationen werden zunehmend zu einem "Aufstand der Massen", der sich freilich nicht nur durch den unüberhörbaren Ruf nach Reformen und der Abschaffung des SED-Regimes, sondern auch durch das historisch einmalige Beharren auf der strikten Gewaltlosigkeit auszeichnet. Der Ruf "Keine Gewalt!" hält sich auch durch, als sich - zu diesem Zeitpunkt jedenfalls noch ungewollt - nach der Presseerklärung Schabowskis am Abend des 9. November 1989 die Mauer öffnet.
Als Bundeskanzler Helmut Kohl am folgenden Tag dem Generalsekretär der KPdSU am Telefon versichert, es werde in Deutschland nichts geschehen, was die Sicherheit der sowjetischen Truppen gefährde, reicht sein Wort: Auch von seiten der Besatzungsmacht bleibt die Gewalt aus. Der 10-Punkte-Plan Kohls vom 28. November 1989 stößt die Entwicklung hin zur Einheit neu an, obgleich er nach kurzer Zeit bereits von ihr überholt wird. In der DDR zwingt der Zentrale Runde Tisch die provisorische Regierung unter Modrow immer mehr in die Defensive, auch wenn seine Mitglieder überwiegend noch dazu neigen, an der Eigenständigkeit der DDR festzuhalten. Das Ergebnis der ersten freien Volkskammerwahl vom 18. März 1990 ebnet dann endgültig den Weg zu Verhandlungen über einen Vertrag zwischen beiden deutschen Staaten, der die Bedingungen für einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland einvernehmlich regeln soll. Blickt man speziell auf die Geschichte dieses Einigungsvertrages, so bezeichnet exakt dieses Wahlergebnis den Beginn der Entwicklung, an deren Ende am 3. Oktober 1990 das Inkrafttreten des Vertrages und der erste Tag der deutschen Einheit stehen wird.
Das Spezifikum politischen Handelns
Für das volle Verständnis dieses historischen Ablaufs wird nun aber eine zusätzliche Überlegung bedeutsam. Sie gilt der genuinen politischen Dimension dieses Prozesses, an dem sich das Spezifikum politischen Handelns in geradezu exemplarischer Weise aufzeigen läßt. Dieses ist vor allem durch die Notwendigkeit gekennzeichnet, in der je gegebenen Situation oft unter Zeitdruck im Zweifel nicht mehr rücknehmbare Entscheidungen treffen zu müssen, und zwar auf der Grundlage noch unvollständiger Informationen und doch zugleich mit verbindlicher Wirkung für ein gesellschaftliches Ganzes7.
In jeder Situation des vorhin angedeuteten Prozesses haben die Akteure jeweils auch noch - mindestens - eine andere Option offen gehabt als die, für die sie sich entschieden haben. Der von ihnen getroffenen Entscheidung kam dann jedoch in der jeweils nachfolgenden Situation regelmäßig die Qualität einer "conditio sine qua non" zu, ohne daß damit die Notwendigkeit einer neuen Entscheidung verkürzt oder aufgehoben worden wäre. Insgesamt vermittelt sich so der Eindruck, daß sich die neuen Optionen und die neue Chance der Wahl zwischen ihnen stets - jedenfalls auch - so und gerade so eröffnet haben, weil in der je vorangegangenen Situation die - vom Ende her gesehen - "richtige" Entscheidung getroffen worden ist.
Angesichts dieser Abläufe könnte es nun durchaus naheliegen, an das Vorliegen einer Art von kausalem Zusammenhang zu denken. Aber die Schlußfolgerung, daß hier ein im Grund determinierter, schicksalhafter Prozeß mit fast naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit abgelaufen sei, würde nicht nur die Tatsache ignorieren, daß in jeder der genannten Situationen Menschen gehandelt und schwierige Entscheidungen getroffen haben. Sie würde vor allem die erstaunliche Folgerichtigkeit verkennen, mit der die jeweiligen Akteure ungeachtet aller oft notvollen Knappheit an Zeit und Informationen nicht nur gehandelt und entschieden, sondern eben - offensichtlich hochrational und instinktsicher zugleich - auch "richtig" gehandelt und entschieden haben: das Ziel zwar vor Augen, ohne jedoch den Weg dorthin schon zu kennen.
Diesen Befund als das - politiktheoretisch betrachtet - besonders Bemerkenswerte an der gesamten Entwicklung hin zur Wiedervereinigung ausdrücklich festzuhalten, erscheint nach wie vor wichtig. Er trifft auch auf die Wahl zur Volkskammer der DDR vom 18. März 1990 zu. Die - in dieser Funktion ja wenig geübten - Wählerinnen und Wähler sind nun die Agierenden, und sie sind es, die jetzt in Freiheit die eigentlich ausschlaggebende Entscheidung treffen. Daß die "Allianz für Deutschland", zu der sich die CDU einschließlich der bisherigen Ost- CDU, die Deutsche Soziale Union und der aus der Bürgerrechtsbewegung entstandene Demokratische Aufbruch zusammengeschlossen haben, mit 48 Prozent der Stimmen eindeutig siegt, widerlegt die Erwartungen der allermeisten Auguren und Beobachter und enttäuscht manche Akteure heftig.
Angesichts der noch weithin im Umbruch befindlichen und entsprechend unstrukturierten Gemengelage von Parteien, Bürgerrechtsgruppierungen und Vereinigungen, die zudem in den verschiedensten Bündnissen zusammengeschlossen waren, vermitteln die prozentualen Stimmanteile des Wahlresultats aber nur eher vordergründige Einsichten8. Das zentrale Ergebnis ist die Tatsache, daß die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler angesichts der im Wahlkampf immer deutlicher gewordenen großen Alternativen kaum mehr anders denn als ein eindeutiges Votum zugunsten eines zügigen Beitritts der DDR zur Bundesrepublik im Sinn von Art. 23 des Grundgesetzes interpretiert werden kann. Die Anhänger einer - erst späteren - Vereinigung der beiden Staaten auf der Basis einer dafür noch zu schaffenden neuen Verfassung nach Art. 146 GG waren dagegen gemeinsam mit denen klar in der Minderheit geblieben, die sogar den dauerhaften Fortbestand der DDR gewollt hatten.
Die verfassungsrechtliche Ausgangslage
Das Grundgesetz hatte auf das Thema der Wiederherstellung der deutschen Einheit seit 1949 unverändert an drei Stellen Bezug genommen. Die Präambel hatte den Willen bekräftigt, "die nationale und staatliche Einheit zu wahren", und das "gesamte deutsche Volk" aufgefordert, "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". In Art. 23 Abs. 2 hatte das Grundgesetz nach einer Aufzählung der alten Bundesländer lapidar bestimmt, daß es "in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt in Kraft zu setzen" sei. Und sein Schlußartikel 146 GG hatte - scheinbar in einem gewissen Spannungsverhältnis dazu - festgelegt, daß "dieses Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tage" verliere, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist".
An der Schwelle des revolutionären Umbruchs im Spätherbst des Jahres 1989 war gerade diese Bestimmung, die bis dahin eher ein Schattendasein geführt hatte, plötzlich in Wissenschaft, Publizistik und Politik zu einem heftig umkämpften Thema geworden. Zuerst vertraten ihre Anhänger mit durchaus differierenden Motiven die These, daß Art. 146 GG als Weg zur Wiedervereinigung gegenüber einem Beitritt der DDR nach Art. 23 GG den Vorzug verdiene. Je mehr sich die tatsächliche Entwicklung dann aber doch der Inanspruchnahme von Art. 23 GG zuneigte, weil dieser Weg schneller und unkomplizierter zum Ziel zu führen versprach, behaupteten die Verfechter von Art. 146 GG bald immer lautstärker, daß die Wiederherstellung der deutschen Einheit nach dem Willen des Grundgesetzes gerade nur auf dem Weg über die Schaffung einer neuen Verfassung erfolgen dürfe.
Im Zusammenhang mit dieser "Wegedebatte" wurde Art. 146 GG aber plötzlich auch als Bestätigung für den vorgeblich dauerhaften "provisorischen" Charakter des Grundgesetzes wiederentdeckt und zum Anlaß für die Erneuerung einer Debatte genommen, die über Jahrzehnte hinweg als ausgestanden gegolten hatte. Daß das Grundgesetz 1949 seine neue Ordnung dem staatlichen Leben "für
eine Übergangszeit" gegeben hatte, war verständlicherweise lange Zeit kaum noch thematisiert worden, weil mit dieser Formulierung in der Präambel ja ein zeitlicher, nicht dagegen ein inhaltlich-materialer Vorbehalt markiert worden war9. Von Legitimationsdefiziten des Grundgesetzes war deshalb kaum noch die Rede gewesen, und in jedem Fall galten sie als längst geheilt10. Nun aber stützt diese Provisoriumsthese nicht nur die Forderung nach einer neuen, die Gültigkeit des Grundgesetzes aufhebenden Verfassung, sondern führt im Verlauf der weiteren Diskussion über die Erfordernisse einer Grundrechtsreform auch zu ihrer verfassungsrechtlichen Perpetuierung. Es ist später eines der- in fragwürdiger Weise kompromißbehafteten - Teilergebnisse der Verhandlungen über den Einigungsvertrag, daß Art. 146 in verändertem Wortlaut im Grundgesetz erhalten geblieben ist.
Zuvor freilich bildet sich als Folge des Wahlergebnisses vom 18. März die neue, demokratisch gewählte Regierung der DDR. An ihrer Spitze steht Lothar de Maiziere als Ministerpräsident. Die Arbeit am Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, die der Bevölkerung der DDR schon vorab die D-Mark bringen soll, kommt gut voran, obwohl in der Bundesrepublik noch heftig um das anzuwendende Umtauschverhältnis diskutiert wird. Bei seiner Unterzeichnung am 18. Mai 1990 spricht dann de Maiziere davon, daß vor dem - nach Lage der Dinge kaum mehr vermeidbaren - Beitritt nach Art. 23 GG11 noch zwischen beiden Staaten über die dazu erforderlichen Vereinbarungen zu verhandeln sei12. Darüber beginnen unverzüglich Vorgespräche, und am 6. Juli werden die Verhandlungen über den Einigungsvertrag offiziell eröffnet. Nach weniger als zwei Monaten wird der fertige Vertrag am 31. August 1990 von den beiden Verhandlungsführern Wolfgang Schäuble und Günter Krause in Ostberlin unterzeichnet, nachdem die Volkskammer zuvor schon formell die Absicht der DDR bekräftigt hatte, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten. Bundestag und Volkskammer beschließen am 20. September 1990 die für die Ratifizierung des Vertrages notwendigen Gesetze, und am nächsten Tag gibt auch der Bundesrat seine Zustimmung. Am 3. Oktober 1990 tritt der Einigungsvertrag dann in Kraft, nachdem zuvor schon der 2. Dezember 1990 als Termin für die erste Bundestagswahl im wiedervereinigten Deutschland festgelegt worden ist.
Der Zeitfaktor
An diesem ganzen Procedere ist schon das Tempo der Abläufe für sich allein faszinierend genug. Die Berichte der unmittelbar Beteiligten vermitteln immer wieder einen Eindruck davon, unter welchem Zeitdruck gearbeitet und verhandelt wurde und wie Zielgerichtetheit und Erfolgsentschlossenheit schließlich doch ein Ergebnis sicherten, das sich unbeschadet mancher vielleicht auch gerechtfertigter Kritik in Einzelheiten im Ganzen doch als eine erstaunliche, ja bewundernswerte politische Leistung darstellt. Das gilt um so mehr, als die Verantwortlichen in der Bundesrepublik angesichts der Verfassungslage auch noch in manchem sehr mühsam um die Zustimmung der Opposition zu kämpfen hatten.
Darüber hinaus hat der ganze Prozeß dieser Monate aber natürlich auch eine überaus komplizierte außenpolitische Dimension gehabt, in der insbesondere in den "Zwei-plus-Vier"-Gesprächen Stück um Stück um die Zustimmung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gerungen werden mußte. Das wird noch gesondert einer kurzen Betrachtung bedürfen. Gerade die Komplexität der internationalen Zusammenhänge und die Bedeutung, die einem Einverständnis der Sowjetunion zukommen mußte, läßt jedoch die Dramatik des Zeitfaktors besonders deutlich werden. Es war eben kein Märchen, sondern eher knallharte Realität, daß das vielbeschworene "Fenster" für eine erfolgreiche und gewaltfreie Wiederherstellung der Einheit wohl nur noch eine sehr begrenzte Zeitspanne länger offengestanden hätte.
Die besondere Rechtsnatur des Einigungsvertrages
Als nicht weniger erstaunlich erweist sich freilich bei näherem Betrachten die Besonderheit, ja die Einzigartigkeit, die das Ergebnis jener Verhandlungen, den Einigungsvertrag, seiner Rechtsnatur nach auszeichnet. Dieser Vertrag dürfte in juristischer Hinsicht kaum ein vergleichbares Gegenstück haben. Einerseits weist er zunächst alle Merkmale eines internationalen, völkerrechtlichen Vertrags auf. Aber angesichts der "besonderen Beziehungen", die es nach der von der Bundesrepublik konsequent durchgehaltenen Rechtsauffasssung ausschlossen, die DDR als "Ausland" zu betrachten, kann eigentlich nur in einer eher ungenauen Weise von einem völkerrechtlichen Vertrag die Rede sein.
Andererseits bedürfen diese "besonderen Beziehungen" nun auch aus der Sicht der bundesrepublikanischen Seite keiner Erwähnung mehr. Das durchaus zweiseitige Abkommen enthält ja jetzt als zentrales Element die Fixierung der- absolut einseitigen - Erklärung des Beitritts der DDR zum "Geltungsbereich des Grundgesetzes" nach Art. 23 Abs. 2 GG. Nach dem Wortlaut dieses Artikels wäre es nun aber auf eine ausdrückliche Zustimmung der Bundesrepublik zu diesem Beitritt gar nicht mehr angekommen: Das Grundgesetz war ja nach jener Erklärung im Beitrittsgebiet schlicht "in Kraft zu setzen". Genauso wenig wären nach dem Wortlaut der Verfassung mit der Beitrittserklärung noch irgendwelche Bedingungen verknüpfbar gewesen; wäre derartiges doch geschehen, wäre die Erklärung des Beitritts null und nichtig und ohne jede rechtliche Bedeutung geblieben.
Tatsächlich gibt der Einigungsvertrag jedoch die ganze Fülle der Beitrittsbedingungen wieder, über die zuvor in zweiseitigen Verhandlungen Einigkeit erzielt worden war. Zentraler Inhalt des Vertrages war natürlich in Art. 1 die Feststellung, daß, wie Art. 23 Abs. 2 GG es vorsah, das Grundgesetz mit dem Beitrittstag, dem 3. Oktober 1990, auch in den neuen Bundesländern in Kraft trete. Aber diese Feststellung war wiederum nicht ablösbar von einer Reihe in Art. 4 des Vertrags festgelegten Änderungen des Grundgesetzes, auf die sich die beiden vertragsschließenden Regierungen in den Vorverhandlungen gemeinsam festgelegt hatten. So eigneten dem Einigungsvertrag alle Merkmale eines verfassungsändernden Gesetzes nach Art. 79 GG, an dessen Zustandekommen die Regierung des anderen deutschen Staates und später auch dessen Volksvertretung zumindest indirekt mitgewirkt hatten, und zwar zu einer Zeit, in der die so zu ändernde Verfassung, eben das Grundgesetz, noch gar nicht ihre Verfassung war. Das Gesetz, das die endgültige Annahme des Einigungsvertrages dann schließlich besiegelte, bedurfte eben wegen dieser zwischenstaatlich vereinbarten Verfassungsänderungen dann im Bundestag13 wie im Bundesrat14 der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Zweidrittelmehrheit, die freilich auch in der Volkskammer15 erreicht wurde.
"Einigungsbedingte Änderungen" des Grundgesetzes
Die "einigungsbedingten Änderungen des Grundgesetzes" nach Art. 4 des Einigungsvertrages betrafen vor allem genau jene drei schon genannten, seit 1949 auf das Ziel der Wiederherstellung der staatlichen Einheit gerichteten Bestimmungen. Die Präambel erklärt nunmehr, daß die Deutschen "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet" haben, und sie endet jetzt mit der Klarstellung: "Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk."
Zugleich wurde Art. 23 GG, in Artikel 1 des Vertrages soeben noch als Rechtsgrundlage des Beitritts ausdrücklich benannt, nunmehr - nicht zuletzt aus außenpolitischen Gründen - aus dem Grundgesetz gestrichen. Auch wenn das durchaus konsequent erscheint, bleibt es bedauerlich, wie schnell die Erinnerung an diese überaus weitsichtige Bestimmung des ursprünglichen Verfassungsbestandes inzwischen geschwunden ist. Ihre Kenntnis bleibt für das Verständnis des Gesamtprozesses von zentraler Bedeutung.
Das gilt um so mehr, als der von Anfang an in seinen Konsequenzen wenig eindeutige Art. 146 GG aufrechterhalten geblieben ist - mit verändertem Wortlaut freilich und damit natürlich auch mit einer veränderten Qualität. "Dieses Grundgesetz", so heißt es dort jetzt, "das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Die innere Widersprüchlichkeit dieser Bestimmung ist unübersehbar. Denn wenn die erste Hälfte des Satzes gilt, weil die Einheit und Freiheit Deutschlands in der Tat vollendet ist, macht die zweite Hälfte nur noch Sinn, wenn man dieses Grundgesetz eigentlich für eine Verfassung von minderer Qualität erklären will. Wenn diese Verfassung aber auch für das wiedervereinigte Deutschland gut genug ist, ist es überflüssig, das unbestrittene Recht des Souveräns, sich auch eine andere Verfassung zu geben, noch einmal eigens zu erwähnen. Das tut wohl auch keine andere Verfassung in der Welt. Das Fortbestehen von Art. 146 GG verdankt sich also einem fragwürdigen Kompromiß, der offenbar erforderlich war, um dem ganzen Vertragswerk die notwendigen parlamentarischen Mehrheiten zu sichern, und muß als eines der wenigen mißlungenen Teilergebnisse des Einigungsvertrages gewertet werden. Hier droht auf Dauer "eine unendliche Geschichte"16, die alles andere als erheiternd zu werden verspricht.
Die außenpolitische Dimension
Die unmittelbar in der Regierungsverantwortung stehenden Politiker hatten aber nicht nur die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich im Binnenverhältnis aus den oft unterschiedlichen Interessen der Verhandlungspartner einerseits, zum anderen aber auch wegen mancher Ansinnen ihrer jeweiligen innerstaatlichen Oppositionen ergaben. Von nicht geringerer Komplexität war naturgemäß von Anfang an die außenpolitische Dimension des ganzen Einigungsprozesses. Nicht nur die fortgeltenden Vorbehaltsrechte der Siegermächte und die Anwesenheit ihrer Truppen, insbesondere in der DDR, stehen der Wiederherstellung der Einheit zunächst im Weg. Gravierender noch sind die Einwände, die vor allem von der Sowjetunion als Folge der ja noch nicht überwundenen bipolaren Konfrontation erhoben werden, und natürlich die Bedenken der europäischen Nachbarn, die Sorge vor einer politischen und wirtschaftlichen Vormachtstellung eines wiedervereinigten Deutschland haben. Selbst die in engen Bündnisbeziehungen mit der Bundesrepublik verbundenen westeuropäischen Siegermächte lassen zuerst deutlich ihre Zurückhaltung erkennen; daß Polen hartnäckig um die verbindliche Anerkennung seiner als Kriegsfolge anzusehenden Westgrenze kämpft, kann nicht überraschen.
Seit dem 5. Mai 199017 finden deshalb - parallel zu den innerdeutschen Verhandlungen und mit ihnen nach Möglichkeit vernetzt - die "Zwei-plus-Vier"-Gespräche zwischen den Außenministern der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und der beiden deutschen Staaten statt, in denen mühsam Schritt für Schritt um die Zustimmung der Großmächte gerungen wird18. Der Durchbruch wird freilich erst möglich, als Bundeskanzler Helmut Kohl am 16. Juli 1990 nach intensiven und vertraulichen Gesprächen im Kaukasus vor der internationalen Presse das Einverständnis Gorbatschows mit der deutschen Einheit, der Herstellung der vollen Souveränität des wiedervereinigten Deutschland und der Fortdauer seiner Mitgliedschaft in der NATO bekanntgeben kann. Am 12. September 1990 wird der "Zwei-plus-Vier"-Vertrag über die "abschließende Regelung in bezug auf Deutschland"19 unterzeichnet, in dem sich das wiedervereinigte Deutschland verpflichtet, gegenüber Polen in einem noch zu schließenden Vertrag die bestehenden Grenzen zu bestätigen. Daneben regelt der Vertrag eine große Anzahl bis dahin offener Fragen, darunter auch die wichtigsten Einzelheiten über den Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der DDR, der mit großzügiger finanzieller Unterstützung gesichert wird. Ein knappes Jahr, nachdem sich die Mauer für die Freiheit geöffnet hat, steht damit nun auch die Tür zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands endgültig offen. Am 3. Oktober 1990 wird die Einheit Deutschlands in Freiheit Wirklichkeit.
Die Reichweite kritischer Einwände
Der Versuch, im Abstand von zehn Jahren auf die Ereignisse jener Monate zurückzublicken und im Rahmen der an dieser Stelle gegebenen Möglichkeiten eine an den faktischen Abläufen orientierte kritische Nach-Schau zu halten, braucht gewiß nicht gegen den Vorwurf verteidigt zu werden, zu viele, vielleicht auch wichtige Einzelheiten unerwähnt gelassen zu haben. Allein der Wortlaut des Einigungsvertrages füllt zusammen mit den zum Vertragsinhalt gehörenden Anlagen in der amtlichen Dokumentation des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung20 244 eng und doppelspaltig bedruckte Seiten; die das Thema betreffende Literatur ist überhaupt nicht mehr zu überblicken. Aber das entbindet natürlich nicht davon, auch den wichtigsten kritischen Einwänden wenigstens noch ein Stück weit nachzugehen, die zum Teil schon während, aber auch nach dem Abschluß jenes Prozesses hin zur Wiedervereinigung erhoben worden sind und manchmal bis heute erneuert werden.
Wer wirklich bereit ist, sich die ganze Komplexität der zu lösenden Probleme und die ganze Dramatik der äußersten Zeitknappheit zu vergegenwärtigen, die das politische Ringen um die deutsche Einheit in jenen elf Monaten beherrscht haben, steht hier jedoch vor einem Dilemma. Es erscheint ihm selbstverständlich, daß in der enormen Anspannung, der alle Beteiligten auf allen Ebenen physisch wie psychisch ausgesetzt gewesen sind, sich insbesondere bei der Ausarbeitung der Einzelheiten der Vertragstexte unvermeidlich auch Nachlässigkeiten und Ungenauigkeiten eingeschlichen haben und daß Fehler gemacht und manche Dinge vielleicht sogar schlicht vergessen worden sind. Wer dies für selbstverständlich hält, wird sich gegen die Benennung solcher Fehler nicht wehren. Im Zweifel stehen geeignete Verfahren für erforderliche Nachbesserungen bereit. Es gibt aber natürlich auch eine beckmesserische Art, aus dem - berechtigten - Hinweis auf solche Einzelschwächen ein schnelles Gesamturteil abzuleiten. In einem solchen Fall erschiene aus Gründen der Gerechtigkeit entschiedener Widerspruch notwendig.
Von Bedeutung ist auch ein zweites Kriterium: Ein Defizit in den konkreten Juristischen Regelungen kann keineswegs immer auf vorausgegangene politische Entscheidungen zurückgeführt werden. Gerade diese politischen Entscheidungen sind aber eben in einem so erstaunlichen Maß eindeutig, zügig und in ihrem inneren Zusammenhang wie in ihrer zeitlichen Abfolge konsistent gefällt worden, daß das Urteil, es handle sich hier insgesamt um eine bewundernswerte politische Meisterleistung, im Grunde unabweisbar erscheint.
Dennoch ist es nicht überflüssig, noch wenigstens die wichtigsten Diskussionen zu benennen, die im Hinblick auf bestimmte Teilprobleme zentraler Art schon seinerzeit geführt worden sind und gelegentlich bis heute fortwirken. Drei von ihnen ragen heraus.
Daß die berühmte Umtauschrelation von 1:1 unter wirtschaftlichem Aspekt ein beträchtliches Risiko dargestellt hat, ist heute wohl weniger umstritten als damals. Daß jede andere Relation vermutlich politisch wie psychologisch das Scheitern des ganzen Prozesses bedeutet hätte, ist heute weitgehend konsensfähig. Die Meinung, daß die Währungsunion damals noch hätte verschoben werden sollen, erledigt sich aber angesichts unseres heutigen Kenntnisstandes über die Abläufe des Jahres 1990 wohl von selbst.
Das gilt eigentlich auch für alle Thesen, die im Wiedervereinigungsvorgang bis heute vornehmlich eine "Übermächtigung" oder "Überrumpelung" der DDR durch die Bundesrepublik, eine "Vereinnahmung", "ausbeuterische Übernahme" oder gar die "Eroberung einer Kolonie" sehen wollen. Der ideologische Hintergrund solcher Behauptungen ist offensichtlich. Sie können in der Sache nicht akzeptiert werden, stellen aber unabhängig davon inzwischen selbst ein politisches Problem ersten Ranges dar. Daß es nach der Vereinigung in den östlichen Bundesländern nicht wenige überaus unschöne Beispiele übervorteilenden, unredlichen und raffgierigen Verhaltens von westlicher Seite gegeben hat, ist wahr und darf
nicht beschönigt werden. Aber es ist unsinnig, den Einigungsvertrag oder auch die Wiederherstellung der staatlichen Einheit selbst als die Ursache dafür in Anspruch zu nehmen.
Schließlich machen es sich aber auch diejenigen - im Westen wie im Osten - zu leicht, die jeweils für das, was ihnen ganz allgemein an den gegenwärtigen Zuständen und Entwicklungen in den neuen Bundesländern mißfällt, die Wiedervereinigung oder mindestens den Einigungsvertrag verantwortlich machen wollen. Die fortdauernde relative Stärke der PDS, die sich ja zu ihrer Abkunft von der SED durchaus bekennt, ist nicht nur vielen Menschen im Westen ein Ärgernis, und die in den östlichen Bundesländern besonders hohe Arbeitslosigkeit wird nicht nur im Osten Deutschlands als ein politisches und soziales Problem erster Ordnung angesehen. Aber auch diese beiden Erscheinungen sind nicht der Wiedervereinigung anzulasten. Wer beides statt dessen versuchsweise einmal direkt und wechselseitig miteinander in Verbindung bringt, kommt bei seiner Ursachenforschung vermutlich am ehesten auf eine richtige Spur.
So bleibt schließlich die bis zur Erschöpfung immer wiederkehrende These, im Zug der Wiedervereinigung sei - zum Schaden auch der "inneren Einheit" - durch den Verzicht auf die Ausarbeitung einer neuen Verfassung die große Chance eines wirklich demokratischen Neuanfangs vertan worden. Zumindest wäre eine tiefgreifende Reform des Grundgesetzes, so heißt es, unabweisbar notwendig gewesen, und die Tatsache, daß dem Volk als dem eigentlichen Souverän bis heute nicht gestattet worden sei, selbst über die Verfassung abzustimmen, enthalte ihr noch immer die erforderliche Legitimation vor.
Die These wird auch durch ihre beharrliche Wiederholung nicht überzeugender. Auch die Bezugnahme auf das, was oft mit dem freilich in sich nicht unproblematischen Begriff der "inneren Einheit" angesprochen wird, kann ihr nicht aufhelfen. Gerade die Entwicklung der letzten Wochen liefert da die Chance zu einem neuerlichen und harten Test: Wer wollte wohl ernstlich behaupten, daß es die in der Tat besorgniserregenden rechtsextremistischen und neonazistischen Tendenzen, wie sie offenbar in besonderer Intensität in den neuen Bundesländern zu beobachten sind, nicht oder doch nicht so dramatisch gäbe, wenn wir seit der Wiedervereinigung eine neue, andere Verfassung hätten?
Was sich in unserem Land im letzten Jahrzehnt an Kritikwürdigem entwickelt hat, ist sicher nicht wenig. Aber diese Defizite sind ganz entscheidend trotz des Einigungsvertrages und der Wiederherstellung der deutschen Einheit entstanden und nicht als deren Folge. Sie haben andere Ursachen, die zu guten Teilen längst vor dem Prozeß zu verorten sind, der mit dem Ende des SED-Regimes begann und am 3. Oktober 1990 zu seinem Ende kam.
Den Tag der Wiederherstellung der deutschen Einheit auch nach zehn Jahren freudig zu feiern, gibt es also guten Grund. Am Tag danach - spätestens - gilt es dann freilich, sich mit allem Ernst wieder neu der Frage zu stellen, was da noch nicht zusammengewachsen und was da immer noch nicht gelernt worden ist.
Stimmen der Zeit (2000) 659-672