Erik PetersonLeben, Werk und Wirkung

Der 1960 gestorbene Theologe, Exeget und Religionswissenschaftler Erik Peterson ist beinahe ver­gessen, hat aber für die zeitgenössische Theologie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Zu sei­nem 100. Geburtstag würdigt Barbara Nichtweiss Leben und Werk.

"Wir werden geboren, um (menschlich gesprochen) vergessen zu werden. Wie kraftlos ist doch jeder menschliche Name gegenüber dieser Übermacht des Vergessens!"2 Als Erik Peterson in seinem letzten Lebensjahrzehnt diese bittere Feststellung niederschrieb, begegnete man seinem Namen im katholischen Schrifttum deutscher Zunge in der Tat kaum noch. Peterson hatte zwar den Trost, daß Gott diejenigen nicht vergessen kann, über denen sein Name ausgerufen ist3. Dennoch hat er selbst unter der menschlichen Vergeßlichkeit seinem Werk gegenüber nicht wenig gelitten.

Am 7. Juni 1990 jährte sich der Geburtstag Erik Petersons zum 100. Mal, 60 Jahre liegt die Konversion des einstigen protestantischen Theologieprofessors zurück, und 30 Jahre werden am 26. Oktober seit seinem Tod vergangen sein. Fragt man sich, ob Peterson heute tatsächlich vergessen ist, so muß man mit Ja und Nein zugleich antworten: Ja, insofern sein Name jüngeren Theologen, vor allem aber den Theologiestudenten weitgehend und dem theologischen Laien völlig unbekannt ist. Die beiden Sammelbände seiner theologischen Arbeiten4 sind nicht wieder aufgelegt worden, während der Sammlung seiner historischen Untersuchungen "Frühkirche, Judentum und Gnosis" offensichtlich weiterhin das Interesse der Fachgelehrten gehört5. Mit Nein muß man antworten, weil sich Petersons Name nun doch an kardinalen Stellen der Denkwege von zeitgenössischen Theologen findet, die nicht gerade zu den unbedeutendsten zählen. Stellvertretend für andere sei aus dem katholischen Raum Joseph Ratzinger genannt, aus dem evangelischen Jürgen Moltmann.

Warum hat Erik Petersons theologisches Denken aller generellen Vergessenheit seiner Person zum Trotz dennoch bis heute diese verborgen zündende Wirkung? Gewiß muß man zunächst Petersons Fähigkeit zur geistigen und geistlichen Durchdringung von historischen und theologischen Sachverhalten nennen und die Kraft seiner luziden sprachlichen Darstellung. Man wird hier von einem theologischen "Charisma" sprechen können. Denn so bescheiden Peterson gewiß war, dieses Charisma der Theologie hat er als die ihm zuteil gewordene Gabe und Aufgabe erkannt.

Es ist zum Verständnis Petersons sehr aufschlußreich, die Erfahrungen und Wechselfälle seines Lebens in Augenschein zu nehmen6. In gewisser Weise war Peterson zwar zeitlebens ein Außenseiter und Zuschauer, auf der anderen Seite aber ist er in seinem Leben mit einer ganzen Reihe von zeitgenössischen Bewegungen des Geistes, der Theologie und der Frömmigkeit in engste Berührung gekommen. Einigen davon ist er zeitweise verfallen, andere hat er maßvoll rezipiert, wiederum andere entschieden abgewiesen. Die Spuren und Früchte dieser Auseinandersetzungen finden sich in sehr verdichteter Weise in seinen Schriften und verleihen ihnen eine Vielschichtigkeit, die ihre Rezensenten immer wieder zum Lob auf ihre "Unausschöpflichkeit" veranlaßt hat.

Studienjahre

Erik Peterson wurde am 7. Juni 1890 in Hamburg geboren und ist dort auch aufgewachsen. Von seiner Kindheit und Jugend haben sich nur sehr spärliche Zeugnisse erhalten. Der Vater unterhielt eine Art Massagepraxis. Er war religiös indifferent, wenn nicht atheistisch. Die Mutter, eine warmherzige und impulsive Frau, war von einer diffusen Religiosität. Peterson war ihr sehr verbunden. Angesichts dieser familiären Vorgaben ist es gar nicht leicht zu sagen, wie Peterson selbst überhaupt zum christlichen Glauben, geschweige denn zur Theologie gekommen ist. Vermutlich eröffnete sich ihm dieser Zugang in pietistischem Milieu, vielleicht im Rahmen eines sogenannten "Bibelkränzchens" für Schüler. Die Frömmigkeit und die christlichen Ideale des Studenten Peterson waren zutiefst von einer typisch pietistischen, also biblisch inspirierten Innerlichkeit und Radikalität geprägt. Diese Art des Einstiegs hatte zur Folge, daß der junge Erik das kirchliche Leben und theologische Treiben im zeitgenössischen Protestantismus von vornherein aus einer kritischen Perspektive betrachtete.

Während seines ersten Semesters, im Juni 1910, wurde ihm ein Wiedergeburtserlebnis zuteil mit dem Ergebnis einer völligen Glaubensgewißheit: "Nun bin ich alles dessen gewiß, was die Kirche lehrt." Von rationalen Zweifeln am Grundbestand des christlichen Glaubens war Peterson wohl in der Tat zeitlebens frei, wenn auch nicht von mancherlei Anfechtungen, die seine eigene Existenz schwer bedrängten.

Als Student war Peterson glühendes Mitglied der pietistischen "Deutschen Christlichen Studentenvereinigung" (DCSV). Alle seine Freunde und eine Reihe der ihn prägenden Lehrer entstammten diesem Kreis. Wahrscheinlich 1917 ist Peterson aus dieser Vereinigung wieder ausgetreten und hat sich zugleich auch geistig vom Pietismus gelöst.

Petersons Studienaufbau war von keiner großen Zielstrebigkeit geprägt. Spontan wechselte er zwischen 1910 und 1914 die Studienorte: Straßburg, Greifswald, Berlin, Göttingen, Basel und wieder Göttingen. Seine Berufswünsche waren noch unklar. 1914 wurde Peterson, erfüllt von patriotischem Tatendrang, zum Militär eingezogen. Als man ihn nach drei Monaten als gesundheitlich untauglich wieder heimschickte, fühlte er sich als Versager. Angesichts der Greuel des Krieges wuchs in ihm jedoch sehr rasch ein tiefer Abscheu vor militärischem Wesen und nationalistischem Enthusiasmus.

Peterson fand eine Reihe von Lehrern, fürsorglichen Ratgebern und Freunden - zum Beispiel den Systematiker und Homiletiker Carl Stange, besonders aber den Exegeten Otto Schmitz -, die bis 1920 die halbe protestantische Welt in Bewegung setzten, um für ihren ziemlich mittellosen und mitunter am Hungertuch nagenden Schützling Erik als Hauslehrer, Prediger, theologischer Schriftsteller, pastoraler oder wissenschaftlicher Assistent ein Auskommen zu finden. Peterson aber paßte in keine dieser Kategorien evangelisch-theologischer Existenz und schreckte vor jeglichem geregelten kirchlichen Engagement zurück. Von allen seinen einstigen theologischen Lehrern hat er sich über kurz oder lang gelöst.

Peterson las, was ihm von Plato über Luther bis Rilke in die Quere kam, und ließ sich einige Zeit besonders von der Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys fesseln. Mit Bedacht rührte er allerdings damals das Manifest des Liberalismus, Adolf von Harnacks "Wesen des Christentums", nicht an. Als Theologieprofessor hatte Peterson solche Berührungsängste natürlich überwunden. 1928 entlockte er Adolf von Harnack in einem hochinteressanten Briefwechsel das Eingeständnis, daß sich auf weitere Sicht der Protestantismus wesensgemäß nicht in kirchlicher Gestalt, sondern im "Independismus und der reinen Gesinnungsgemeinschaft im Sinne des Quäkertums und des Kongregationalismus" verwirklichen müsse und "eine freie christliche Religionsphilosophie" als "Krone theologischer Arbeit" zu betrachten sei7.

In den Jahren des Ersten Weltkriegs wurde das wissenschaftliche Interesse Petersons auf neue Bahnen gelenkt. Seit 1914 lehrte in Göttingen der Altphilologe Richard Reitzenstein, der aufgrund seiner religionsgeschichtlichen Interessen in regem Austausch mit Wilhelm Bousset stand und nach dessen frühem Tod der führende Kopf der sogenannten "Religionsgeschichtlichen Schule" wurde. Diese Schule, zu der Gelehrte wie Hermann Gunkel, Johannes Weiß, William Wrede und Ernst Troeltsch zählten, war ein Kind der Göttinger theologischen Fakultät. Reitzensteins ausgreifende religionsgeschichtliche Spekulationen, die zwar faszinierend, aber nicht immer ausreichend abgesichert waren, schlugen Peterson einige Jahre in ihren Bann. Später sagte er, er sei den Arbeiten der religionsgeschichtlichen Schule ausgeliefert gewesen, weil ihm selbst jede aus den Quellen geschöpfte Kenntnis des Stoffs fehlte. Diese Kenntnis begann er sich nun in immensem Arbeitsaufwand vor allem auf dem Gebiet der Philologie mit seiner Dissertations- und Habilitationsschrift anzueignen, den "epigraphischen, formgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Untersuchungen" zur "Heis Theos"Formel8. Mit dieser Arbeit promovierte und habilitierte er sich im Sommer 1920. Er erwarb sich mit der an Detailarbeit überreichen Studie zugleich einen Ruf umfassender und gediegener Gelehrsamkeit, der auch von seinen theologischen Gegnern nie in Zweifel gezogen wurde.

Je mehr Petersons eigene Gelehrsamkeit wuchs, desto kritischer beurteilte er die Praxis, aber auch die geistesgeschichtlichen Hintergründe der religionsgeschichtlichen Erklärung des Neuen Testaments. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre bekämpfte er mit mehreren rein historisch gehaltenen Aufsätzen energisch das "mandäische Fieber", das Historiker und Theologen wie Mark Lidzbarski, Richard Reitzenstein und Rudolf Bultmann befallen hatte. Es galt, die Hypothese zu Fall zu bringen, daß weite Teile der neutestamentlichen Theologie Derivate einer jüdisch-gnostischen Taufsekte sein sollten.

Für Petersons eigene Theologie war die Kenntnis der antiken Religionsgeschichte und der methodischen Ansätze der religionsgeschichtlichen Schule von großer Bedeutung. Sie erlaubte ihm, die Begriffe, Aussagen und Formeln des Neuen Testaments von den interpretatorischen Überfremdungen neuzeitlicher Leser und Exegeten freizulegen und in ihrem ursprünglichen Sinn zu erfassen und einzuordnen. Besonders im formgeschichtlichen Ansatz sah er eine zukunftsträchtige exegetische Methode. Sein wissenschaftlicher Weg bis ins Alter ist gesäumt von einer Fülle von Studien und Miszellen zu form- und begriffsgeschichtlichen sowie textkritischen Fragestellungen, von religionsgeschichtlichen, patrologischen und liturgiegeschichtlichen Untersuchungen.

In den Jahren, bevor Peterson das akademische Katheder bestieg, hatte der Göttinger Genius loci noch ein zweites Mal auf ihn eingewirkt. Aus der dortigen philosophischen Fakultät ertönte damals gerade der Schlachtruf der um Edmund Husserl gescharten Phänomenologen: "Zu den Sachen selbst!"

Peterson hat Vorlesungen Husserls gehört und kannte wahrscheinlich auch die wichtigsten seiner damals veröffentlichten Schriften. Zum Kreis der Schüler Husserls hatte Peterson eine ganze Reihe von mehr oder weniger intensiven Kontakten. Er kannte beispielsweise Edith Stein und pflegte Anfang der 20er Jahre einen intensiven Austausch mit Hedwig Conrad-Martius. 1921 zog Peterson als Untermieter in das Haus der Witwe Adolf Reinachs9. Mit Anne Reinach verband ihn fortan die unerschütterlichste und langlebigste Freundschaft, die seine Biographie aufzuweisen hat. Diese Frau bildete mit ihrer schwäbisch geprägten Warmherzigkeit und Güte einen ruhigen, ausgleichenden Pol in Petersons zerrissener Existenz. Anne Reinach konvertierte Weihnachten 1923 zur katholischen Kirche und war später Oblatin des Beuroner Benediktinerklosters. 1922 zog in das Göttinger Haus Anne Reinachs als Dritter im Bund der Phänomenologe Hans Lipps. Er war ein impulsiver, abenteuerlicher und liebenswert skurriler Mensch, mit dem Peterson ebenfalls eine enge Freundschaft schloß. Lipps gehörte zu den großen Hoffnungen der phänomenologischen Philosophie. 1936 erhielt er einen Lehrstuhl in Frankfurt, fiel aber bereits 1941 im Krieg. Aus dem Kreis der Münchener Phänomenologen kannte und schätzte Peterson Dietrich von Hildebrand und, last, not least, Max Scheler. 1928 verfaßte Peterson einen Nachruf auf Scheler und hob hervor, daß in dessen philosophischem Horizont der Katholizismus wieder als reale Möglichkeit aufgeschienen sei10.

Die transzendentale Wendung Husserls zur Phänomenologie des reinen Bewußtseins hat Peterson als überzeugter Antikantianer wie manche begabte Schüler Husserls nicht mitvollzogen. Er übernahm nicht die Fragestellung und Methode der transzendentalen Reduktion, sondern nur die phänomenologische Sehweise auf der Basis des antiken und scholastischen erkenntnistheoretischen Realismus. Damit hoffte er den Idealismus in der Theologie zu überwinden. Der Unterwerfung der Wirklichkeit unter die konstruierende Ratio und ihre Begriffe setzte Peterson die genaue Wahrnehmung und Anschauung der Sachverhalte, Phänomene und "Wesenheiten", der Akte, Vollzüge und Handlungen in ihrer kategorialen Verschiedenheit entgegen. Peterson mißtraute allen systematischen Synthesen und übte sich statt dessen mit Entschiedenheit in der Kunst der Distinktion.

Diese Haltung, die mit Ehrfurcht, Takt und "Diskretion" die Sachen selbst zur Anschauung bringen will, kann man als das wissenschaftliche Ethos Petersons bezeichnen. Er verwandte die phänomenologische Sehweise in allen Bereichen, in denen er sich wissenschaftlich betätigte, angefangen von der trockenen Philologie bis hin zur theologischen Spekulation. Seine Aufmerksamkeit galt dabei besonders der sprachlichen Gestalt, in der die Sachen begegnen. Für die Exegese entwickelte er ansatzweise das Programm einer "Phänomenologie des Glaubens aufgrund seiner sprachlichen Ausdrucksformen". Zugleich verdankte er der Phänomenologie, daß ihm der Zugang zu einer objektiven geistigen Welt der Metaphysik eröffnet wurde, die die phänomenologische Anschauung seiner Ansicht nach ergänzen muß.

Der Lehrer und seine Schüler

Im Wintersemester 1920/21 begann Peterson als Privatdozent seine ersten Vorlesungen über Kirchen- und Religionsgeschichte zu halten. Der Übergang vom Lernen zum Lehren ist ihm nicht leichtgefallen, zumal er sich gewaltige Stoffmassen vorgenommen hatte. Er arbeitete sich in den vier Göttinger Jahren in den Bereich der hellenistischen Religionsgeschichte, der alten Kirchen- und Literaturgeschichte ein, hielt vierstündige Hauptvorlesungen über fast den gesamten Bereich der neueren protestantischen Kirchengeschichte vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, bot Kollegs über die Geschichte des altkirchlichen Mönchtums und der altchristlichen Mystik an und wagte sich schließlich sogar an eine Darstellung des Denkens von Thomas von Aquin.

Mehr noch als die Schwierigkeiten der Erarbeitung dieses Stoffs plagte ihn die Sorge, ob und wie er sich in der Not, die ihm das damalige Erscheinungsbild von Theologie und Kirche bereitete, seinen Hörern verständlich machen könnte. Petersons Veranstaltungen waren meistens denkbar schlecht besucht. Als Karl Barth im Juli 1921 bei seiner ersten Stippvisite in Göttingen sich auch eine Vorlesung Petersons anhörte, stellte er fest, daß diesem - seinem Eindruck zufolge ausgezeichneten - Kolleg regulär nicht mehr als zwei Hörer beiwohnten. Petersons nie sehr zahlreiche Hörerschaft wußte allerdings, was sie an ihrem Lehrer hatte: "Alle gescheiteren Studenten bezeugen mir, wie viel bei diesem sensiblen, nach allen Seiten offenen und beweglichen, von weither einem fernen und doch ganz bestimmten Ziel entgegensteuernden Dozenten zu lernen sei", berichtet Karl Barth11. Als Beispiel sei das Zeugnis eines Mannes zitiert, der gewiß zu Petersons gescheitesten, wenn auch letztlich nicht anhänglichsten Hörern zählte, nämlich Ernst Käsemanns: "Als ich 1925 mein theologisches Studium in Bonn aufnahm, geriet ich aus Neugier in die Vorlesung Erik Petersons über den Römerbrief und war davon so fasziniert, daß seine Ausführungen weitgehend im Wortlaut bei mir hängenblieben und mir für Jahrzehnte die Probleme der eigenen wissenschaftlichen Arbeit gaben." Ernst Käsemann meint, er hätte unter dem Einfluß Petersons wohl den Weg nach Rom angetreten, wenn er nicht alsbald nach Marburg unter die Fittiche Rudolf Bultmanns gekommen wäre12. Ein Marburger Kommilitone Käsemanns, der Bultmann-Schüler Heinrich Schlier, ist den umgekehrten Weg gegangen. Schlier hatte von 1945 bis 1952 in Bonn den einstigen Lehrstuhl Petersons inne. Er war zwar kein direkter Schüler Petersons, aber als er 1953 in Rom konvertierte, stand Peterson in wörtlichem wie übertragenem Sinn bei diesem Schritt Pate13.

Folgenreiche Auseinandersetzungen mit Karl Barth

Petersons Göttinger Jahre sind von der wichtigen Begegnung mit Karl Barth geprägt, der ein Jahr nach Peterson in die dortige Fakultät eintrat. Beide waren vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an voneinander fasziniert und setzten sich in diversen Verhandlungen um Lehrstuhlbesetzungen füreinander ein. 1925 machte Barth in den "Kutschen" der Zeitschrift "Zwischen den Zeiten" Platz für zwei Aufsätze Petersons. Dem Einsatz Petersons ist es letztlich zu verdanken, daß Barth 1930 von Münster nach Bonn wechselte.

Als die beiden jungen Theologen sich 1921 kennenlernten, war es ihr gemeinsames Anliegen, die Ehre Gottes gegenüber eigenmächtigem menschlichem Zugriff zu verteidigen. In der Auffassung, auf welche Art nun der Theologe konkret Gott die Ehre zu geben hätte, schieden sich jedoch ihre Wege. Als Karl Barth nach Göttingen kam, befand er sich gerade im Zenit seiner dialektischen Phase. Seinen zweiten Römerbriefkommentar, der einige Monate nach Barths Antritt in Göttingen erschien, fand Peterson so abscheulich, daß er ihn "nach einem zornigen Versuch" gar nicht zu Ende las14. Petersons ganzes Bemühen lag nun darin, diesen an sich so geschätzten Mann aus dem "Wolkenkuckucksheim" seiner dialektischen Prophetie auf den harten Boden der dogmatischen Arbeit herunterzuholen. Barth widerstrebte anfangs zwar heftig. Doch in den Umstellungsschwierigkeiten, die der Wechsel von der Kanzel zum Katheder mit sich brachte, suchte er immer wieder die fruchtbare Auseinandersetzung mit dem jüngeren Kollegen.

Im Wintersemester 1923/24 kam es zu dem denkwürdigen Ereignis von Petersons Vorlesung über Thomas von Aquin, bei der Barth die Hörerbank drückte: "Puncto Vernunft und Offenbarung habe ich bei Peterson ... Erleuchtendes vernommen", berichtet Barth an Freund Eduard Thurneysen15. Diese Erleuchtungen wiesen Barth, wie sich im einzelnen nachweisen läßt, den Weg, der ihn über sein Anselm-Buch "Fides quaerens intellectum" (1931) zur "Kirchlichen Dogmatik" führte. Unter allen Kollegen, mit denen Barth während seiner Lehrjahre in Deutschland im Austausch stand, war Erik Peterson der Theologe, dem er die wichtigsten Anregungen in grundsätzlichen Fragen und vielen Einzelthemen verdankte. Die Rolle Petersons im theologischen Werdegang Barths von der Dialektik zur Dogmatik ist bislang bei weitem noch nicht ausreichend erkannt und in Rechnung gestellt worden.

Die skandalträchtige Attacke, die Peterson in seiner Streitschrift "Was ist Theologie?" (Bonn 1925) 16 gegen Barth und die Dialektische Theologie führte, erscheint fast wie ein Anachronismus im Blick auf die damals bereits stark im Wandel befindliche theologische Position Barths. Barth selbst war an dieser Eruption Petersons auch gar nicht schuld. Vielmehr hatte Peterson die gerade in den "Theologischen Blättern" publizierte Veröffentlichung Bultmanns "Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?" in hellodernden Zorn versetzt. Da diese Schrift nun aber Barthsche Positionen von 1922 fortschrieb17, geriet auch Barth selbst in die Schußlinie, und da hinter all diesem theologischen Treiben das Denken Sören Kierkegaards steckte, mußte auch dieser ins Visier genommen werden.

Petersons eigenes Verhältnis zu Kierkegaard war dabei keineswegs von blanker Ablehnung geprägt; vielmehr ist er selbst ohne diesen seinen "geistigen Mentor" kaum zu verstehen18. Peterson las die Werke Kierkegaards seit seinem ersten Semester im Kreis der erwähnten pietistischen Zirkel, also lange bevor der Däne in der akademischen Philosophie und Theologie Mode wurde. Er studierte die Schriften Kierkegaards damals nicht mit theoretischem Interesse, sondern unmittelbar zur Erbauung als an den einzelnen gerichtete, indirekte religiöse Mitteilung christlicher Existenz. Peterson hat in seinen späteren Schriften19 betont, daß Kierkegaard mit der Frage nach der christlichen Existenz eine richtige Frage gestellt und sie auch, zumindest anfangshaft, richtig beantwortet habe, indem er als "Maßstab" auf die Nachfolge Jesu Christi im Wahrheitszeugnis bzw. Martyrium und in der Askese verwiesen hat. In seinem Büchlein "Zeuge der Wahrheit" (1937) 20 hat Peterson die Höchstform christusähnlicher Existenz, zu der der Märtyrer berufen ist, in einer Auslegung der Hl. Schrift und der Schriften der Kirchenväter dargestellt.

Diese existentiellen Konkretionen interessierten die neue Leserschaft Kierkegaards der Nachkriegszeit nun allerdings weit weniger. Nach Ansicht Petersons verwerteten sie Kierkegaards Gedankengut gerade so, wie dieser selbst es hatte vermeiden wollen, nämlich als theoretische Lehre über die Existenz, die nun in die theoretischen und überdies säkularen Lehren der Existenzphilosophen und die Systematik der dialektischen Theologen hinein verarbeitet wurde. Gegenüber dieser Indienstnahme Kierkegaards als einer Art Kirchenlehrer stellte Peterson in "Was ist Theologie?" klar, daß die legitimierende Basis, das Formal- und Materialprinzip der christlichen Theologie nicht die abstrakte Dialektik der Existenz, sondern das Dogma der Kirche zu sein habe. Karl Barth, der dieses Votum Petersons natürlich schon vor "Was ist Theologie?" kannte, hat sich diesen Hinweis durchaus zu Herzen genommen.

Zwischen Kloster und Boheme

Einig war Peterson mit Kierkegaard zeitlebens in der radikalen Kritik an der Verbürgerlichung der Christenheit. Peterson war vehement antibürgerlich eingestellt. Er sah im "Bürgertum"21 eine antichristliche Erscheinung, insofern hier "Wahrheit" zum Akzidenz von "Ware" degradiert werde und der christliche Glaube zur ethisch-idealistischen Verbrämung bürgerlichen Handels und Wandels herabsinke.

Um diesen Protest auch existentiell zum Ausdruck zu bringen, bieten sich zwei Wege an, derjenige des Asketen und derjenige des Dandys. Kierkegaard hatte bekanntlich über beide Wege reflektiert und sie in einer seltsamen Mischung gelebt. Ähnlich verhielt es sich bei seinem Leser Erik Peterson. Da die protestantische Welt mindestens vor 1920 keine Klöster für den weltmüden Peterson zu bieten hatte, wurde in den 20er Jahren aus dem ehemals allen Zerstreuungen abholden Pietisten ein Bohemien. Von seinem "fast snobistischen", "mondänen", "bizarren", "dandy"- und bohemehaften Lebensstil ist in vielen Erinnerungen von Bekannten Petersons die Rede. Peterson kleidete und frisierte sich absonderlich, war häufig in Cafes und Kinos zu sichten, verbrachte die Abende tanzenderweise in irgendwelchen Lokalitäten und besuchte Cabaretvorstellungen - das alles zumeist in der Gesellschaft seines nicht minder unbürgerlichen Freundes Hans Lipps. Dieses Verhalten entsprang bei Peterson keineswegs originärer Lebenslust, sondern war ein aus innerer Not geborener Protest gegen die bürgerliche Welt und ihre bürgerlichen Theologen, die seiner Ansicht nach kaum mehr taten, als dem Bodensatz der jeweils aktuellen Weltweisheit zu theologischen Ehren zu verhelfen. Statt sich an diesem Geschäft zu beteiligen, ging Erik Peterson lieber ins Cafe.

Fasziniert vom Neuen Testament

Zum Wintersemester 1924/25 folgte Peterson einem Ruf nach Bonn. Dort hat er sich relativ wohl gefühlt, und die Bonner theologische Fakultät brachte ihrem Enfant terrible bis fast zu seinem Ausscheiden ein recht hohes Maß an Solidarität und Achtung entgegen. Peterson war auch in Bonn Ordinarius hauptsächlich für die Kirchengeschichte. Da der neutestamentliche Lehrstuhl in dieser Zeit aber gerade nicht besetzt war, las er auch neutestamentliche Exegese. Diese Disziplin ist ihm immer die liebste gewesen. Vermutlich war sein theologisches Charisma vor allem auf die Schrift bezogen. Peterson stürzte sich in Bonn sofort in mehreren Vorlesungen auf den Römerbrief, er legte in diesen Jahren den ersten Teil des Lukasevangeliums, des Johannesevangeliums, einen großen Teil des 1. Korintherbriefs und der Johannesapokalypse aus - das Buch, das ihn wohl am meisten fesselte. Er las auch neutestamentliche Theologie, wobei zum einen die Theologie der paulinischen Briefe, zum anderen die christologischen Titel "Menschensohn" und "Kyrios" im Mittelpunkt seines Interesses standen.

Vor allem am Einspruch des Berliner Ministeriums scheiterte schließlich der Versuch der Fakultät, nolens volens Peterson das neutestamentliche Ordinariat ganz anzuvertrauen; statt seiner berief man dann Karl Ludwig Schmidt. Peterson war tief erbittert über seine Zurücksetzung. Dieser Ärger war einer der äußeren Auslöser für sein Ausscheiden aus der theologischen Fakultät.

Freundschaft mit Carl Schmitt

Peterson fand in Bonn sofort - gleichsam als korrespondierendes protestantisches Mitglied - Kontakt zu einem gänzlich katholischen Freundeskreis. Dieser Kreis bewegte sich um zwei Brennpunkte: um den Maria Laacher Benediktiner Thomas Michels, der später am Aufbau der Salzburger Hochschulwochen beteiligt war, und um den Staatsrechtler Carl Schmitt. Durch Thomas Michels erhielt dieser Kreis benediktinisches Gepräge22. Das Phänomen hymnensingender "Mönchschöre" hatte Peterson schon in seiner Göttinger Zeit interessiert; nun intensivierte sich seine Beziehung zum Benediktinerorden. Er hat seinen großen Wunsch, selbst diesem Orden anzugehören, aber nie verwirklicht.

Am meisten beeindruckt war Peterson aber von Carl Schmitt. Die beiden sahen sich allwöchentlich, und 1926 war Peterson Trauzeuge bei Schmitts zweiter Eheschließung. Als Schmitt 1928 an die Berliner Handelshochschule wechselte, hinterließ er in Bonn einen traurigen Peterson; freilich traf man sich noch bis weit in die dreißiger Jahre hinein. Zwischen Carl Schmitt und Peterson fand ein wechselseitiger Austausch statt. Schmitt interessierte sich beispielsweise für Petersons Forschungsergebnisse über die juristische Verlautbarungsform der Akklamation. Von Schmitt wiederum empfing Peterson manche Anregung bei seiner Interpretation der öffentlich-rechtlichen Dimension des Evangeliums und der Kirche. Peterson brachte seinem Freund großes Vertrauen entgegen. Als sich Schmitt 1933 von den neuen Machthabern vereinnahmen ließ, war Peterson tief getroffen.

1935 veröffentlichte Peterson eine historisch-systematische Studie mit dem Titel "Monotheismus als politisches Problem". Dieser Studie lag der von Schmitt 1922 in die Diskussion wieder eingeführte Begriff der "politischen Theologie" zugrunde. Peterson versuchte den Nachweis, daß eine politische Theologie, die den Glauben zur Rechtfertigung einer politischen Situation mißbrauchen will, durch die christliche Eschatologie und die Trinitätslehre theologisch unmöglich geworden ist. Petersons Monotheismus-Traktat war eine bis in die Gegenwart reichende, vielschichtige, von Zustimmung und Widerrede geprägte Rezeptionsgeschichte beschieden, beispielsweise im Zusammenhang der Kontroverse zwischen Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann einerseits, andererseits Hans Maier und anderen um die Erneuerung einer "politischen Theologie". Man muß sich freilich hüten, in Peterson einen unpolitischen Theologen zu sehen. Der spezifischen Verwiesenheit und dem Widerstreit zwischen Politik und Theologie, weltlicher und eschatologischer Herrschaft galt zeitlebens sein besonderes Interesse.

Ein langer Weg zur katholischen Kirche

Erik Peterson ließ sich zum Wintersemester 1929 von seiner Lehrverpflichtung beurlauben und brach in Bonn fluchtartig seine Zelte ab. 1930 wurde er als Theologe emeritiert und wechselte als Honorarprofessor in die philosophische Fakultät von Bonn. Ende des Jahres reiste er nach Rom, wo er sich am 23. Dezember 1930 in die katholische Kirche aufnehmen ließ.

An dieser Stelle ist nun einiges zu Petersons "Weg nach Rom" nachzutragen. Die Frage einer Konversion hatte sich bei ihm nämlich schon sehr früh abgezeichnet. Als Peterson in Straßburg sein Studium begann, stand er den Erscheinungen des dortigen katholischen Lebens zwar noch ganz verständnislos gegenüber. Doch irgendwann in den folgenden Jahren fing er an, sich mit dem Phänomen des Katholizismus zu beschäftigen. Schon um 1918 setzt er sich heftig mit der Anziehungskraft auseinander, die der Katholizismus auf ihn auszuüben begann.

Im Jahr 1918 lernte Peterson in München Theodor Haecker kennen, dem er großen Respekt entgegenbrachte. Haecker wiederum vermittelte Peterson eine erste Publikationsmöglichkeit im "Brenner". 1921 konvertierte Theodor Haekker. Peterson stürzte in diesen Monaten in eine tiefe Krise und hätte fast die eben aufgenommene Privatdozentur wieder quittiert. Warum wich Peterson damals der Konversion aus, wie konnte er es überhaupt verantworten, mit diesen Schwierigkeiten ein protestantisches Katheder zu besteigen? Zum einen gab es für ihn anfangs auch in der katholischen Kirche und Theologie Bereiche, zum Beispiel die Scholastik, zu denen er nur schwer einen Zugang finden konnte. Die ganze Fülle theologisch-dogmatischer Streitfragen zwischen den Konfessionen wollte er sich in strengster Sachlichkeit erarbeiten und nicht irgendwelchen romantischen Gefühlen erliegen. Zum anderen faßte er das Verhältnis zur angestammten Konfession als ein Treueverhältnis auf, das der einzelne nicht leichtfertig lösen dürfte, auch und gerade dann nicht, wenn die eigene Kirche sich in einem höchst beklagenswerten Zustand befände. Peterson wollte seinen Standpunkt als evangelischer Theologe bis zum äußersten verteidigen, bis ihn möglicherweise der Wille Gottes von seiner Verpflichtung entbinden würde. Die so geartete Lage beschwerte ihn bis zu den Grenzen der Belastbarkeit.

Seine evangelischen Mitmenschen und Kollegen konnten Petersons Standpunkt verständlicherweise kaum nachvollziehen und bezichtigten ihn insgeheim und öffentlich des Kryptokatholizismus. Peterson hat diesen Vorwurf stets entschieden zurückgewiesen: "Ich betone nachdrücklich, daß ich kein (Friedrich) Heiler bin und also auch nicht daran denke zu 'katholisieren'." 23 Er erhob den Anspruch, innerhalb der protestantischen Theologie Sachfragen zu stellen, mit denen man sich auch sachlich auf der Grundlage der Schrift auseinanderzusetzen habe, statt alle unbequemen Punkte mit dem Katholizismus-Verdikt beiseite zu schieben. Vor allem gestand er seinesgleichen, also den Professorenkollegen, nicht das Recht zu, darüber zu entscheiden, ob er in der evangelischen Theologie noch tragbar sei. Dieses Recht habe ausschließlich ein kirchliches Lehramt. Peterson wäre zweifelsohne geradezu erleichtert gewesen, wenn ein solches zu seinen theologischen Äußerungen bzw. gegen sie Stellung bezogen hätte. Statt dessen ging der Casus Peterson unter im Streit der Professoren, sekundiert vom Murren mancher Kreise der rheinischen Pfarrerschaft, und im Gespinst von Intrigen zwischen den Fakultäten und dem staatlichen Ministerium.

1928/29 publizierte Peterson einen ebenso knappen wie inhaltlich dichten Traktat über die Kirche24. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Feststellung protestantischer Historiker, zum Beispiel Karl Holls, daß es schon in der Jerusalemer Urgemeinde göttliches Recht und apostolische Sukzession gegeben habe. Peterson versuchte den Nachweis, daß diese Erscheinungen nicht Produkte irgendeiner historischen Entwicklung gewesen seien, sondern letztlich in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu an die Juden wurzeln; freilich wurde die Verkündigung Jesu durch die Wendung zu den Heiden und die Sendung des Hl. Geistes in bestimmter Weise modifiziert. Die Thesen dieses Traktats waren für die evangelischen Theologen offensichtlich so indiskutabel, daß diese Schrift schlicht totgeschwiegen wurde. Peterson resignierte. Weder Karl Ludwig Schmidt noch Karl Barth gelang es, ihn der evangelischen Theologie als notwendigen Stachel im Fleisch zu erhalten. Für Peterson war die Kluft, die den Protestantismus von der Hl. Schrift trennte, nun so unüberwindlich, daß er es nicht mehr länger verantworten konnte, als evangelischer Theologe zu wirken.

Seine Konversion war von keinerlei Triumphgefühl begleitet: "Soll ich noch hinzufügen, daß mir dieser Schritt schrecklich schwer geworden ist? Daß ich die evangelische Kirche aufrichtig geliebt habe und nicht aufhören werde, sie lieb zu haben? ... Daß es mir bitter ankommt, das Treueverhältnis zu lösen? ... Wer mich nur ein wenig gekannt hat, der weiß, daß die Verzweiflung der letzten Jahre in dem hoffnungslosen Bemühen ihren Grund hatte, der Wahrheit Gottes, die von mir Gehorsam forderte, auszuweichen ... Was ich getan habe, das habe ich von meinem Gewissen gezwungen - um nicht von Gott verworfen zu werden - getan." 25

Ein schwieriger neuer Anfang

Einige Kreise der rheinischen Kirche waren nicht gewillt, den abtrünnigen Peterson - in welcher Funktion auch immer - in Bonn noch weiter zu dulden. Peterson trat vor allem aus diesem Grund seine Honorarprofessur in der philosophischen Fakultät nie an. Die Suche nach einer neuen Existenzmöglichkeit im katholischen Binnenraum gestaltete sich für ihn nun aber weitaus schwieriger als angenommen. In diversen Anläufen versuchte er vergeblich, eine Lehrmöglichkeit an einer staatlichen oder kirchlichen Fakultät zu finden. Bei den verantwortlichen Amtsträgern der katholischen Kirche fand er kaum Unterstützung, ganz im Gegenteil. In München, wohin Peterson Anfang der dreißiger Jahre mit Anne Reinach umgesiedelt war, legte man ihm in Form umfangreicher Auflagen schwere Steine in den Weg zum Priestertum, so daß Peterson ihn nicht ging. Als Laie hatte er im Bereich der theologischen Lehre aber noch geringere Chancen.

Der Grund für diese recht kühle Aufnahme lag sicher nicht nur in Petersons unkonventionellem Lebensstil. Während seine theologischen Schriften von der protestantischen Zunft als kryptokatholisch empfunden worden waren, witterten umgekehrt manche katholische Gelehrte (z. B. Erich Przywara) in ihnen einen spezifisch protestantischen Stallgeruch. Auf die Fragestellungen und das geschärfte Problembewußtsein, das Peterson aus seiner protestantischen Zeit etwa hinsichtlich des Verhältnisses von Theologie und Geschichte oder hinsichtlich der Bedeutung der Eschatologie mitbrachte, war man in der katholischen Theologie kaum vorbereitet. Bei aller Achtung vor der scholastischen und neuscholastischen Theologie wollte Peterson die uneingeschränkte Vorherrschaft dieser Schule auch nicht anerkennen. Er hatte die Schätze im Denken der Kirchenväter entdeckt, lange bevor vor allem in der französischen katholischen Theologie (Henri de Lubac, Jean Daniélou) eine Besinnung auf diese alten Quellen einsetzte. Die Einsichten, die Peterson aus diesem Fundus ans Licht brachte, wurden von manchen als erfrischende Bereicherung begrüßt, klangen für viele aber auch recht ungewohnt.

Unverdrossen von solchen Mißstimmigkeiten fuhr Peterson in den dreißiger Jahren auf diversen Vortragsreisen in Deutschland und den Nachbarländern, bei den Salzburger Hochschulwochen und ähnlichen Veranstaltungen, im Rahmen des katholischen Akademikerverbands und in den Heften der katholischen Kulturzeitschrift "Das Hochland" eine reiche Ernte seines theologischen Forschens und Nachdenkens ein. Neben den erwähnten Schriften über die Märtyrer und den "Monotheismus als politisches Problem" ist die tiefgreifende und komprimierte Auslegung des 9.-11. Kapitels im Römerbrief "Die Kirche aus Juden und Heiden" (1933) zu nennen, in der Peterson der dialektischen Verwiesenheit von Judentum und Christentum nachspürt - eine Frage, die ihn als Theologen wie als Historiker zeitlebens sehr beschäftigte. Im "Buch von den Engeln" (1935) betrachtet Peterson die Bedeutung der Engel im Kultus der Kirche und kommt so von der Liturgie her zu Einsichten über das öffentlich-kosmische Wesen der Kirche. In der Skizze "Was ist der Mensch?" (1936/1948) beantwortet Peterson die Frage nach dem Menschen vom Menschensohn aus26.

Römische Mangeljahre

Zwischen 1930 und 1932 unternahm Peterson insgesamt vier Reisen nach Rom und blieb schließlich ganz dort, nachdem sich in Deutschland kein Auskommen für ihn finden lassen wollte. Im Juni 1933 heiratete er eine junge Römerin. In schneller Folge wurden dem Paar fünf Kinder geboren. Finanziell verdiente Peterson kaum etwas. Bis 1937 arbeitete er in unbezahlter Stellung als wissenschaftlicher Berater am Deutschen Archäologischen Institut. Die einzige Geldquelle, seine Pensionszahlungen aus Bonn, verebbte langsam und versiegte 1937 schließlich ganz, weil der deutsche Staat keine Devisen mehr bewilligte. Die Themen, die Peterson auf seinen Vortragsreisen anschnitt, waren für die Nationalsozialisten ja auch alles andere als bequem. Seiner Kinder wegen wollte Peterson nicht nach Deutschland zurückkehren. Er versuchte sich bei österreichischen und schweizerischen Zeitungen als vatikanischer Korrespondent zu verdingen, um die Familienkasse etwas aufzubessern. 1937 verschaffte ihm Kardinal Giovanni Mercati einen kleinen Lehrauftrag am Päpstlichen Institut für christliche Archäologie; trotz zusätzlicher Bibliothekarsarbeiten an der Gregoriana war Petersons monatliches Einkommen lächerlich gering. Seine Frau mußte mitverdienen. Von 1942 bis 1946 vertrat Peterson am Päpstlichen Institut den Liturgiewissenschaftler Kunibert Mohlberg OSB, aber die fortschreitende Inflation fraß alle Einkünfte auf. In besonders schwierigen Situationen mußte er wie ein Bettler an den Toren des Vatikans um eine finanzielle Zuwendung bitten. Peterson fand nach seinen bisherigen Erfahrungen, sterben müsse leichter sein als leben.

Einen Lichtblick in seinem römischen Leben bildete die Freundschaft mit dem Benediktiner Anselm Stolz, der im Benediktinerkolleg St. Anselm - Peterson wohnte direkt nebenan - Dogmatik lehrte. Stolz hat von den Anregungen Petersons viel profitiert. 1942 aber starb Stolz im Alter von nur 42 Jahren an Typhus. Petersons fast chronisches Leiden an der Isolation setzte sich auch in Rom fort. "Um die Wahrheit zu sagen", schreibt Peterson im Dankesbrief an Wolfgang Trillhaas, der ihm zum 60. Geburtstag gratuliert hatte, "es haben überhaupt nur evangelische Theologen sich dieses Tages erinnert, von den Katholiken nicht einer."27 Peterson kam sich vor wie der verlorene Sohn, der zum Gut seines Vaters heimkehrt und sich dort mit der Mißgunst des älteren Bruders konfrontiert sieht. Er ist in seinem katholischen Glauben und in seiner Treue zur Kirche nie irre geworden - aber wen wundert es, wenn sich in seinen privaten Aufzeichnungen viel bittere Kritik an der äußeren Organisation dieser Kirche und ihrem Verhalten findet?

Erst 1947 wurde Peterson zum Professor für Kirchengeschichte und Patrologie am Päpstlichen Institut für christliche Archäologie bestellt. Den Zenit seiner Schaffenskraft hatte er zu diesem Zeitpunkt wohl schon überschritten. Er war in gewisser Weise ein früh Vollendeter. Die Themen, die er als katholischer Theologe behandelte und entfaltete, hatten sich ihm zum großen Teil schon in seinen protestantischen Lehrjahren nahegelegt, wurden in vielen Teilen schon damals gültig ausformuliert. So ist Petersons geistiger Weg trotz aller Brüche geradlinig gewesen. Er mündete aber nicht in das reiche Alterswerk etwa einer vielbändigen Dogmatik oder Kirchengeschichte, sondern ins Schweigen. Aus dem letzten Jahrzehnt seines Schaffens stehen den historischen Forschungen in den hintersten Winkeln von "Frühkirche, Judentum und Gnosis" eine Reihe schwer zugänglicher, symbolisch verdichteter "Marginalien" und "Fragmente" gegenüber28.

In der Nachkriegszeit setzte in Deutschland eine gewisse Besinnung auf die Bedeutung Petersons ein. 1946 restituierte die Bonner philosophische Fakultät die Honorarprofessur Petersons, die er aber weiterhin nicht ausübte. 1960, zum 70. Geburtstag, verliehen ihm gleichzeitig die Bonner philosophische und die Münchener theologische Fakultät den Ehrendoktor. In diesen letzten Monaten seines Lebens lag Peterson aber bereits im Krankenhaus St. Georg in seinem Heimatort Blankenese in der Fürsorge von Freunden. Er starb dort im Oktober1960 und wurde in Rom begraben - aber nicht auf dem Campo Santo Teutonico, wie er es sich gewünscht hatte.

Christliche Existenz und Theologie "zwischen den Zeiten"

Einen behaglichen Platz hat Peterson in dieser Welt nie gefunden, und daran waren wohl nicht nur die äußeren Umstände schuld. Er saß gewissermaßen immer zwischen allen Stühlen und hat diesen Platz trotz aller Bitternis vielleicht auch als den angemessenen empfunden. Die Existenz des Christen als Glied der Kirche war für ihn eine Existenz "zwischen den Zeiten", zwischen dem alten und dem neuen Äon, zwischen Jesu Christi erster und seiner zweiten Ankunft. Von diesem "Zwischen" ist auch Petersons Theologie in der Vielfalt ihrer Themen und Dimensionen geprägt. Er war ein radikaler Theologe, insofern er zu den Wurzeln des Glaubens zurückging, aber nie ein einseitiger. Ihn interessierte das Verhältnis zwischen Geschichte und Eschatologie, Eschatologie und Recht, Recht und Charisma, Charisma und Amt, Lehramt und Theologie, Theologie und Mystik, Mystik und Sakrament, Sakrament und Glaube, Glaube und Erkenntnis, Erkenntnis (Gnosis) und Leib, zwischen Juden und Heiden, Menschensohn und Mensch, aber auch zwischen Mensch und Engel, Mensch und Dämon, zwischen Märtyrer und Asket, Armen und Reichen, zwischen Theologie und Politik, Kirche und Staat, Nationalität und Katholizität. Alle diese Größen gilt es in ihrem Eigensein wahrzunehmen und zu respektieren. Zwischen ihnen besteht ein vielfältiges Beziehungsgefüge, das teils von innerer Affinität, teils von Analogie, teils von Antagonismus und Dialektik bestimmt ist.

Als ein solches so spannungsvolles wie spannendes Gefüge, als eine Topologie des Glaubens stellt sich Petersons Theologie in ihren Umrissen dar. Mit tiefer Ablehnung begegnete Peterson jeglichem theologischen Unterfangen, die Vielfalt dieser Erscheinungen unter den gemeinsamen Nenner einer abstrakten Formel zu subsumieren, und die Fülle des Glaubens und des kirchlichen Lebens, die letztlich das Pleroma Jesu Christi im "Vorletzten" der alten Welt widerspiegelt, in ein begriffliches System zu zwingen. So lange das "Letzte", das Reich Gottes, noch nicht hereingebrochen ist, so lange wird theologisches Denken, wie es Erik Peterson übte, nicht "unmodern" sein. Wir werden geboren, um vergessen zu werden? In diesem Punkt möge sich Erik Peterson geirrt haben.

Stimmen der Zeit (1990) 529-544

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