Der katholische Gott hat feste Konturen. Die Credoformel definiert ihn. Er wird dogmatisch überliefert, liturgisch gefeiert, in festgeschriebenen Sätzen geglaubt: Der Weltenschöpfer als Vater, sein menschgewordener Sohn, der Heilige Geist als dritte Person; alle drei geeint in der einen Gottnatur. Die Glaubensformel wurde im vierten Jahrhundert in Konstantinopel und Nizäa, damals im Herrschaftsbereich der oströmischen Kaiser, für alle Christen formuliert. Sie blieb auch nach der Trennung der ost- von der weströmischen Kirche (endgültig im 11. Jahrhundert) und nach der reformatorischen Spaltung für alle Christen verbindlich. Innerhalb der katholischen Kirche überwacht die Glaubenskongregation die orthodoxe Lehre. Naturgemäß wurde ihr Gott im Verlauf der Jahrhunderte auch etwas römisch eingefärbt. Ein Gott zwar für alle - aber unter römischer Aufsicht.
Wer noch im letzten Jahrhundert in Österreich, Bayern oder im Rheinland aufgewachsen ist, für den war Gott selbstverständlich "katholisch". Wurde einer getauft und ging er als Kind zur Kirche, verehrte er den katholischen Gott. Er mußte nicht darüber nachdenken, er dachte auch gar nicht nach, man war katholisch. Katholischsein ging unter die Haut, rann ins Blut, in die Seele. Der katholische Gott prägte das Bewußtsein, ohne daß man dieses Wort kannte. Deshalb konnte der Rheinländer Heinrich Böll in den 60er Jahren sagen, "den Katholizismus und den Kommunismus wird man nie los". Daß Böll katholisch durchtränkt blieb bis in die Seele, leugnete er auch nach seinem Kirchenaustritt nicht.
Der Wiener Ernst Jandl (1925-2000) kehrte 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft zurück und studierte in seiner Heimatstadt Germanistik und Anglistik für das Lehramt. Bereits in den 60er Jahren ließ er sich vom Schuldienst befreien. Ernst Jandl ist nicht aus der Kirche ausgetreten. Aber der Erwachsene machte keinen Gebrauch von der kirchlichen Gemeinschaft. Jandl ging früh auf Distanz zur Kirche und ihrem kontrollierten Gott. Der Vernunftmensch ließ seinen Kinderglauben zurück. Die differenzierte Vernunft beschäftigte sich in der Folge aber weder mit dem Gott der Bibel noch mit dem der Theologen. Nach bekundetem Desinteresse an solchen Unternehmungen überrascht Jandl im nachgelassenen Band "Letzte Gedichte" (2001) die Nachwelt mit dem Bekenntnis: "fürwahr ich bin katholisch / und rüttle nicht daran / auch gott ist ja katholisch ...".
Zeitgenössische Autoren scheuen poetische Glaubensaussagen. Indes ist nicht einzusehen, warum der Glaube, wenn er im Bewußtsein, sei es zustimmend oder verneinend agiert, sprachlich ausgeschlossen bleiben soll. Bei den einen ist es Scham, für viele ist die Glaubensfrage zu schwierig, für nicht wenige mit einer Trennungsgeschichte verbunden. Man spricht dann allenfalls ironisch, satirisch oder polemisch von Glaubensvorstellungen.
An Gott
Die Wiener Aufklärungsvernunft ließ Ernst Jandl offenkundig keinen Raum für diskursive Auseinandersetzung mit dem Glauben. Mit unverhohlenem Seitenblick auf das katholische Glaubensbekenntnis, formuliert er 1978: "ich glaube / daß meinem toten großvater anton / und meiner toten großmutter marie / und meiner toten mutter luise / und meinem toten vater viktor / ... ich niemals irgendwo wieder begegnen werde."1 "Glauben" meint hier denken, zu einer begründeten Ansicht kommen, von etwas überzeugt sein auf Grund der Vernunft. Auf der Druckseite gegenüber steht der wenige Wochen später geschriebene Verstext "an gott"2:
an gott
daß an gott geglaubt einstens er habe
fürwahr er das könne nicht sagen
es sei einfach gewesen gott da
und dann nicht mehr gewesen gott da
und dazwischen sei gar nichts gewesen
jetzt aber er müßte sich plagen
wenn jetzt an gott glauben er wollte
garantieren für ihn könne niemand
indes vielleicht eines tages
werde einfach gott wieder da sein
und garnichts gewesen dazwischen
|
Glauben, sagt der Sprecher, war ihm kein ausdrücklicher Vorgang, keine Sache der Überlegung, kein diskursives Unternehmen, keine argumentative Auseinandersetzung, die dann das Verdienst einer moralischen oder gar die Würde einer theologischen Tugend erreicht hätte. Glauben war kein bewußter Akt. Er lernte glauben nicht als Tätigkeit wie lesen oder schreiben. Der Gottesglaube ging (vermutlich) durch die Gottesgeschichten, die ihm in der Schule erzählt wurden, durch die Praxis der Familie und die soziale Öffentlichkeit in ihn ein. Gott war in dieser Welt "einfach" da. Der Glaube an ihn beruhte nicht auf bewußter persönlicher Aneignung. Er durchlief keinen Prozeß, in dessen Verlauf sich der Denkende zur Annahme des Glaubensgottes entschieden hätte. Der von sich objektiviert in der dritten Person spricht, sagt "einstens". Der Glaube liegt zeitlich weit zurück, er gehörte zur Kindheit. Als der Sprecher jedoch seine Person, Weltsicht, Wissen, Überzeugungen und Meinungen bewußt begründete, war "Gott" nicht mehr da. Gott gehörte nicht zum begründeten Weltbild des Erwachsenen. Sein Dasein wie Nicht-Dasein war mit keiner Denkoperation verbunden, auch nicht mit Erinnerung und Vergleich.
Der Berichtende legte den Glauben nicht polemisch ab wie Günter Grass oder Martin Walser, die nicht ohne Ressentiment von ihrer konfliktvollen Pubertät reden3. Sie distanzierten sich bewußt vom Glauben an den katholisch (teils volksfromm, teils autoritär) vermittelten, eng moralisch fordernden Gott. Sie beanspruchten uneingeschränkte Freiheit ihrer erwachenden Person. In Jandls Gedicht ist keine Rede von einem Streit in der Pubertät oder danach. "Dazwischen" - zwischen Dasein und Nicht-mehr-Dasein Gottes - "sei garnichts gewesen", nicht Zorn, nicht Wut, Enttäuschung, Aufruhr. Jandl schaut zurück auf einst in der Kindheit und "dann" danach. "Einstens" war Gott da, "dann" nicht mehr.
In der mittleren von elf Verszeilen setzt der Sprecher "jetzt". Die drei Zeitadverbien "einstens", "dann", "jetzt" strukturieren den Zeitverlauf. Wie sehr es dem Sprecher um das "jetzt" geht, zeigt die Verdoppelung: "Jetzt aber er müßte sich plagen / wenn jetzt an gott glauben er wollte". Die Verben (im gedachten Konjunktiv) schließen eine Glaubenstätigkeit aus. Das Verb "garantieren" tritt als Gegenwort zu "glauben" auf. Garantieren kann man nur für etwas, was einer beweisen, mit Sicherheit einhalten, vorstellen kann. Die Garantiezusage kommt aus der rationalen, argumentativen Vernunft. Sie beruht nicht auf Vertrauen, sondern auf Sicherheit, nicht auf einem freien personalen, sondern sachlich folgerichtigen Akt. In der Tat kann niemand, auch kein Prediger, für Gott "garantieren". Der Sprecher könnte bei diesem logischen Schluß stehen bleiben. Aber er tut es nicht. Mit einem gegensätzlichen "indes" blickt er in die Zukunft. "Indes ... eines tages", fährt er fort. Er verfügt nicht über die Zukunft, er hat keine Gewißheit, deshalb kann er sie nicht indikativisch vorstellen. Das Adverb "vielleicht" mutmaßt eine Möglichkeit. Nachdem eine Argumentation für Gott bei der Begründung seiner Jetzt-Person nicht stattgefunden hat, denkt er auch zukünftig nicht an eine solche - sei sie nach Blaise Pascal, Karl Rahner oder Heinrich Fries ausgerichtet. Der Sprecher beruft sich nicht auf erwägendes oder einsichtigeres Denken, auch nicht auf einen Willensakt. Mit "Indes vielleicht eines tages / werde einfach gott wieder da sein" spricht er ein mögliches Geschehen an.
Jandls Verstext bleibt auf der Seinsebene. Ahnung, Erwartung, Möglichkeit? In jedem Fall Offenhalten. Vielleicht hat das Herz auch hier seine Gründe, über die die begründende Vernunft nicht verfügt. Vielleicht lagert da ein transzendierender Untergrund, den der Denkende nicht stören will. Offenbar ist da ein Vertrauen, daß, wenn Gott ist, er - vorausgesetzt, man hält sich offen - sein Dasein kundtut. Schuldbewußtsein ob der zeitlichen Auslassung wird nicht notiert, kein Aufrechnen von Seiten des Sprechers noch Empfängers ("gott" steht immer ohne Artikel). Nichts von Streit, Auseinandersetzung, nicht einmal Sorge. Einfaches Sein trägt die Gegenwart. Wird hier eine Erfahrung dessen mitgeteilt, was die Theologen "Gnade" nennen? Das Gedicht meidet jeden theologischen Wortgebrauch.
Der Autor setzt spielerisch sprachliche Reduktion ein. Sie steht formal im Gegensatz zur meist wortreichen, schwierigen Theologenrede. Allerdings geht es bei Jandls Gottesgeschichte nicht um Eigenschaften, weder auf der Seite Gottes noch des Sprechers. War, nicht mehr war, jetzt nicht ist, vielleicht sein wird heißen die vier Stationen, alle mit dem Seinsverb bezeichnet. Gott war in der Vergangenheit anwesend, er ist gegenwärtig abwesend, in der Zukunft möglich. Das Gedicht meidet jedes Pathos der Gottesrede. Die Reduktion auf die einfachste Sprechform erreicht ihre eigene, suggestive Eindringlichkeit. Ein Religionslehrer, Pfarrer, Spiritual müßte die gänzliche Untätigkeit gegenüber dem Glauben anmahnen. Im Gedicht spricht nicht methodischer Quietismus, sondern einfache Unterlassung. Die Aussage ist freilich nicht als Rechenschaftsbericht für einen Gutachter gedacht. Von einem Mittler ist nicht die Rede. Die genannten Zustände liegen vor jeder rationalen Begründung. Auch ein zukünftiger bedarf ihrer nicht. Kommentarlos, souverän werden Dasein, Nichtdasein, mögliches Wiederdasein ausgesprochen. Jandl meidet theologische Begriffe, jeden Anflug pastoraler oder sakraler Sprache. Trotz sprachlicher Klarheit liegt etwas Rätselhaftes, der Schleier des Geheimnisvollen über dem Text. Er erörtert nicht, setzt nichts auseinander. Er erzählt pointiert eine Gottesgeschichte. Gott ist für Jandl - entgegen anders lautender literarischer Behauptungen - ein Thema.
Der Vogelgott
Im zwei Jahre früher publizierten Gedichtband "die bearbeitung der mütze" (1978) steht das Gedicht "vogelgott". Es stellt eine ausdrückliche Beziehung zum Schöpfergott als Tätigkeitsgott her. Das Gottesbild ist verfremdet. Die Gottesbeziehung wird diesseits fromm abgehefteter Worte vorgestellt. Kein Prediger würde solche Rede wagen.
vogelgott
ja ich glaube daß gott
ein vogel ist
ich sein mist
das von ihm ausgeschickte
ite missa est
oder ein stück mit dem er sein nest baut
für seine braut
für sich und seine braut
Das Grundbild des Gedichts von 1971 heißt: Gott ist ein Vogel. Der Leser mag fragen: Soll hier Gott lächerlich gemacht werden? Aber Tiergestalten für Gott/Götter sind den alten Religionen nicht fremd. Man findet sie in vorderasiatischen, in der ägyptischen, griechischen, sogar in der jüdischen Religion, die so heftig für die Bildlosigkeit Gottes kämpfte. Man denke an den berühmten Löwenadler von Mari am Euphrat, 2500 vor Christus. Im Deuteronomium wird Jahwe mit einem Adler verglichen: "Der Herr fand Jakob (sein Volk) in der Steppe, in der Wüste, wo wildes Getier heult. Er hüllte ihn ein, gab auf ihn acht und hütete ihn wie seinen Augenstern, wie der Adler, der sein Nest beschützt und über seinen Jungen schwebt" (Dtn 32, 10 f.). Neutestamentlich wird der Heilige Geist, die dritte Person Gottes, im Bild der Taube vorgestellt. Die Taube ist ein Vogel.
Im Unterschied zu Gottesbildern des Adlers oder der Taube stellt Jandl seinen Vogel nicht artenspezifisch vor. Es geht nicht um eine Arteigenschaft im Gedicht. Ein Vogel ist seinem Nest verbunden, den Jungen, seiner Paargefährtin. Entsprechend diesen Beziehungen entwickeln die drei Strophen Bild und Aussage. Das "Ich glaube" des Sprechers ist hier Tätigkeit. Wer als Leser nicht sogleich ins pastoral Metaphorische gleiten muß, wird zugeben, daß ein Vogel auch Ausscheidungen macht, also Mist. Der Sprecher bezeichnet seine Person ohne Wie-Vergleich, im Prädikatsnomen als "mist".
Die Denunzierung der eigenen Person überrascht. Sie ist anstößig. "Gott hat den Menschen nach seinem Bild geschaffen", sagt die Bibel. Der Bibelleser sieht den Menschen als "Krone der Schöpfung". Zwar stellt die Bibel den Menschen durchgehend als Übertreter der Gebote, als Sünder vor, aber nie durch eine so despektierliche Sachbezeichnung wie "Mist". Antiidealistische Rede im Gedicht, "dirty speech"-Rede, provozierende Hervorkehrung des Unschönen sind seit langem in die Sprechhaltung lyrischer Autoren eingegangen. Man las das schon beim frühen Gottfried Benn, seit den 50er Jahren bei vielen amerikanischen und deutschen Autoren. Diese Rede drückt einen härteren Realismus aus. Weg von der Feiertagslyrik, von jeder Beschönigung. Jandl parallelisiert "mist" mit dem ganz anderen Ende "ite missa est". Der sakrale Gruß am Ende der Messe ist in den denkbar fremdesten Kontext geraten. "Mist" und "ite missa est" stehen am Ende eines Vorgangs, eines naturalen hier, eines sakralen dort. Die sprachliche Gleichsetzung schockiert. Man hört sie zum ersten Mal. Sie prägt sich ein, eine erregende Innovation.
Nach der Provokation spricht die dritte Strophe überraschend verbindlich, bildzart, fromm, fast mystisch: "oder ein stück mit dem er sein nest baut". Das übergeordnete Verb heißt "ich glaube daß". Mist ist nicht nur Exkrement, er ist auch Baumaterial für das Nest. Die zweite Bedeutung erscheint. Der Nestbauer braucht den Mist. Nach dem abschätzigen Wortgebrauch der ehrbare, geradezu mystische. Der aufmerksame Leser denkt an die Brautmystik des Hohen Liedes, der Geheimen Offenbarung, vielleicht an mittelalterliche Frauenmystik. Wer die Braut ist, spricht der Autor direkt nicht aus. Was keusch (im älteren Wortsinn) verschwiegen wird, deutet der Kontext an. Die Zuordnung "für sich und seine braut" spricht eine Liebesbeziehung, ja Hochzeitsbeziehung, bräutliche Schöpfungsbeziehung aus. Der Nestbau mit Mist, der Weltenbau (wenn diese Symbolik mitgemeint ist) mit Hilfe des Menschen, ist Schöpfungstätigkeit. Das eingangs blasphemisch anmutende "vogelgedicht" ist ein Beziehungs- und Schöpfungsgedicht. Der sich bescheidende Sprecher spricht mystisch eindringlich.
Katholisches Gedicht
Im nachgelassenen Versband "Letzte Gedichte" (1990-1998) steht als längster Text Jandls "katholisches gedicht"4:
katholisches gedicht
fürwahr ich bin katholisch
und rüttle nicht daran
und gott ist ja katholisch
und so wie ich ein mann
gott ist ein mann obgleich
er ihm nicht steht - es wäre
wenn er ihm stünde, sünde
und gäb kein himmelreich
unwissend ist man ob
gott überhaupt einen hat
und manche meinen darob
er habe die liebe satt
ich aber weiß, die liebe
hängt nicht vom gliede ab
sie hängt vielmehr am liede
das gott dem sänger gab
gott ist in aller munde
leckt alle lippen ab
und wir, die frommen hunde
bepissen jedes grab
denn jedes könnte jeden
enthalten, wie es ist
vergangenheit und zukunft
verwalten keinen christ
wir sind verstört inmitten
heidnischer melodei
und bitten um was nicht erlitten
doch noch zu erleiden sei
so werf ich mich aus dem fenster
so steck ich mein hals in die schling
und fresse am gott der gespenster
was noch nicht durch mein arschloch ging
so fluch ich und möchte doch beten
daß an einem morgigen tag
die stinkende kunst der propheten
an mir noch ein wunder vermag
ich scheiß auf die sonne und hätte
so gern einen strahlenden sohn
eh ich in die erde mich rette
zu gott, muttergottes, gott sohn
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Im Leben des schreibenden, sprechenden, unerhört szenisch vortragenden Ernst Jandl hat Katholischsein über Jahrzehnte keine Rolle gespielt. Die zehn liedhaft gereimten späten Strophen sind ein unerwartetes Bekenntnis. Das Altersgedicht ist im Bewußtsein des nahenden Todes geschrieben. Die Zeile "ehe ich in die erde mich rette" macht das deutlich.
Wiederum steht in der ersten Strophe das Seinsverb, einmal für den Sprecher, einmal für Gott. Als müßte er es Zweiflern und sich selbst beteuern, verstärkt er die Aussage "ich bin katholisch" zweifach mit "fürwahr" und (ich) "rüttle nicht daran". Daß "katholisch" auch Gott zufällt, ist sprachliche Pointe. Die zweite Aussage lautet "und (Gott ist) so wie ich ein mann". Der Vergleich stimmt, die biblischen Aussagen von Gott sind männlich. Die Strophe mag frommen Ohren wiederum verletzend klingen. Die sprachliche - nicht theologische - Logik frappiert. Wer ein Mann ist, hat ein männliches Glied. Aber der Sprecher stellt es sogleich für Gott in Frage, denn das (Begehren) hat beim Menschen mit "sünde" und hätte auch bei Gott mit Sünde zu tun. Aber Sünde verträgt sich nicht mit seinem "himmelreich". Wer sich an das Jesuswort erinnert, daß man im Himmel weder heiratet noch geheiratet wird, wird die Aussage "und manche meinen darob / er habe die liebe satt" zwar anstößig finden, aber notieren, daß hier eine ausdrückliche Wahrheit ironisch formuliert wird5.
In der vierten Strophe gibt sich der Sprecher als Dichter zu erkennen. Was obszön anklingt, wird auf eine andere Ebene gehoben. Die "liebe" hängt nicht vom "gliede" ab, sondern - erneute Überraschung - vom Wort des Dichters. Die Liebe ist nicht nicht eine Frucht des Leibes, sondern des Geistes, des Eros als Logos, der das Lied hervorbringt: "die liebe ... / hängt vielmehr am liede / das gott dem sänger gab". Gott und das Wort - ein weites Feld. Viele führen das Wort Gott im Mund. Jandl bringt eine Erfahrung auf den Nenner. Wenn das Wort Gott über die Lippen aller kommt, die es aussprechen, "leckt es alle lippen ab". Was für eine Bildmetapher, welche Direktheit! Die Zeile vergißt man nicht.
Die Hundemetapher (fünfte Strophe) hat Jandl wiederholt beansprucht, in "ernst jandls weihnachtslied" (1966) und im Gedichtband "der gelbe hund" (1980). Nur Hund ist der kleine Mensch, bettelnd, winselnd, unterwürfig ("und ich bin nur ein hund" im Weihnachtslied). Es gibt gewiß Herren unter den Menschen. Die haben eine andere Vorstellung von sich und stellen andere Ansprüche. Im katholischen Gedicht sind die Hunde "fromme hunde". Sind das nur die Sänger? Oder alle, die das Wort Gott im Mund führen? Offenbar ist hier der Mensch, der sterben muß, gemeint. Vor dem Tod, dem Grab, ist er ein armer Hund. Der Hund, der einen Ort bepißt, markiert ihn damit auch als ihm zugehörig. Der Mensch, der arme Hund, weiß, jedes Grab "könnte jeden enthalten". "Vergangenheit und Zukunft / verwalten keinen christ". Sagt so die "heidnische melodei" ? Wir leben "verstört inmitten" der heidnischen Welt. Das Bitten, "um was nicht erlitten / doch noch zu erleiden sei", meint Sterben. Sich aus dem Fenster werfen, den Hals in die Schlinge stecken, sind Formen des Selbstmords. Der Tod ist eine Sache Gottes, insofern er der Gott des Lebens ist.
Jandl hat eine provokatorische Lust an der Fäkaliensprache. Alles, was gefressen wird - hier der Tod, den der Gespenstergott, der unheimliche, der zu fürchtende Gott schickt -, muß auch wieder herauskommen, und zwar nicht aus dem Mund, sondern aus jener Körperöffnung, die der Volksmund und das Lexikon vulgär "arschloch" nennen. Der Sprecher flucht ob des erbärmlichen Endes, aber er möchte beten, nämlich bitten, daß an ihm vermittels der Propheten ein Wunder geschehe. Er nennt deren Kraft "stinkende kunst". Kunst meint hier Kraft, Können. Warum nennt er sie "stinkend"? Der sieche, der sterbende, der tote Leib stinkt. Rhetorisch ist das die Figur der "Enallage". Die Beziehung des Wortes "stinkend" wird verschoben vom Leib auf die Kunst. "Ich scheiß auf die sonne" spricht vulgär, wütend gegen die Sonne, die Leben spendet, das dem Sterbenden nicht mehr zukommt.
Jetzt spricht er seinen letzten Wunsch aus. Der Sprecher, der keinen Sohn hat, hätte gern einen "strahlenden". Der Wunsch assoziiert, vielleicht evoziert den strahlenden Sohn Gottes, den vom Tod zur Herrlichkeit erweckten Christus. Wiederum frappiert der Umschlag vom Vulgären zum Heilig(st)en. Was frech erscheint, ist bewußt gesetzt, was spielerisch, rhetorisch gekonnt. Der sein Sterbenmüssen anschaut, will sich "retten", nicht in einen Hubschrauber, eine Klinik oder in die Arme eines Menschen, sondern retten in ein Leben, in dem der Tod besiegt ist: retten "zu gott, muttergottes, gott sohn". Zuletzt ist nicht die Sprache, nicht der Sänger, zuletzt sind nicht einmal die Freunde. Zuletzt ist Gott, der katholische Gott. Zu ihm gehören Gottes Sohn und die Frau, die ihn als Mutter geboren hat. Der katholische Christ nennt sie seit Kindheitstagen "muttergottes".
Der geerdete Gott - anstößige Sprache?
Ernst Jandl hat in mehreren Schreibphasen Verstexte geschrieben, die ironisch, satirisch, provozierend vulgär und heilig fromm von Gott und seinem, des Sprechers, Glauben reden. Er spricht außerhalb jeder Sakralsprache, Gesangbuchsprache, Hymnensprache. Keine Hymnen an Gott oder die Kirche, keine Lavantsche Bettlerschale, keine Thomas Bernhardschen Psalmen6. Jandl spricht sperrig nach zwei Seiten, widersätzlich zu den Frommen und zu den Gottesleugnern, Gottvergessern. Jandls Glaubensgedichte wurden bisher wenig beachtet, weder religiös noch literarisch7. Das vorletzte der nachgelassenen Gedichte spricht noch einmal provozierend "rot sei gott und sein fleisch sei wild". Auch dieser Text ist gegen einen verharmlosten, abstrakten, verwalteten, botmäßigen, blutleeren Gott gesprochen. Gott wird nicht intellektualisiert, sondern materialisiert, nicht spiritualisiert, sondern geerdet, das heißt in menschliche Sprechnähe gebracht. Möglich, daß einer darin den bewußten methodischen Rückstieg in archaische Gottesgestalten sieht. Der Dichter deckt die Chaoslebendigkeit des Schöpferischen auf.
Literarische Leser können, wenn auch zu Unrecht, diese Glaubenstexte her unterstufen, christliche Leser, weil sie eine andere Gottesrede erwarten, abweisen.
Die meisten Christen wollen keine anstößige Sprache, wenn von Gott die Rede ist. Sie ziehen eine Rede vor, die ihnen keine literarische Denktätigkeit abverlangt. Ironie und Satire sollen draußen bleiben, die agressive Welt und das aggressive Leben möglichst auch. Erbauliche religiöse Rede schließt oft Verharmlosung ein. Von früh auf mit theologischen Begriffen, geläufigen Bildern und Edelvokabeln genährt, wollen sie anstößige, gar vulgäre Worte im Bezugsfeld Glaube und Gott nicht zulassen. Altere, literarisch Kundige lasen Rainer Maria Rilkes schön gereimte, auch vertraulich sentimentale Gottesgedichte des "Stundenbuchs". In den 60er Jahren akzeptierten sie den gehobenen Parlandoton der Marie Luise Kaschnitz, manche auch die Sprechtexte Kurt Martis. Aber Marti hätte so nicht sprechen können, wären nicht die sprachlichen Konkretisten Gomringer, Mon und Jandl vorausgegangen. Die Radikalität Jandls konnte sich der Pastor Marti nicht leisten. Eine jüngere Generation erwartet nicht unbedingt eine Gesangbuch- oder Hymnensprache, wenn im Gedicht von Gott die Rede ist. Sie erkennen unsakrale Stilmittel, Ironie, Parodie, Satire. Am Wechsel der Sprachstile, der Vermischung des hohen mit dem niederen Ton, an der Verkupplung des Zitats mit einem Vulgärausdruck nehmen sie keinen Anstoß, vorausgesetzt, daß der Text Stil hat und Form.
Jandl, einer der Randchristen unter den Autoren, hat sich die Freiheit genommen, Gott und Glauben in sein Wahrnehmungs- und Ausdrucksfeld einzubeziehen. Er redet nicht erbaulich, er dachte nicht an eine Kirchengemeinde. Er brachte Erfahrungen und Vorstellungen ins Wort. Geduldig und aggressiv wagte er sich weit ins Offene. Im Offenen ist er zu seiner Personmitte und seiner Gottesbeziehung vorgestoßen. Wer sich Jandls Sprechdynamik aussetzt, wird etwas von der Provokation und Faszination dieser Texte erfahren. Das Anstößige teilt seine eigene Frömmigkeit mit - siehe Joseph Beuys, siehe Heinrich Böll.
Stimmen der Zeit (2001) 700-708