Wenn wir an Europa denken, haben wir zwei gegensätzliche Erfahrungen und Empfindungen. Dies ist einmal die geschichtliche Erfahrung: Über Jahrhunderte hinweg haben die europäischen Völker Bruderkriege gegeneinander geführt, die im 20. Jahrhundert zu Weltkriegen geworden sind. Alle 30 Jahre wurde zusammengeschlagen, was vorher mühselig aufgebaut wurde. Man sagt, die Menschen lernen nicht aus der Geschichte - die Deutschen, die Europäer, haben erst nach 1945 aus der Geschichte gelernt, spät genug. Wir sind nicht nur eine verspätete Nation, die Deutschen sind auch eine verspätete Demokratie. Wir haben aus der Geschichte gelernt und haben die längste Phase des Friedens in der europäischen Geschichte der letzten 50 Jahre erlebt.
Die Europäische Union - eine Erfolgsgeschichte
Immanuel Kant sagte, der Friede ist kein Naturzustand, also bedarf es der Friedensstifter. Und es gab Friedensstifter im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Winston Churchill hat im Jahr 1946 bei seiner großen Europa-Rede in der Aula der Universität in Zürich die Vereinigten Staaten von Europa gefordert. Er meinte - bemerkenswert für einen Briten - Frankreich und Deutschland müßten vorangehen auf diesem Weg. Der französische Außenminister Robert Schuman ergriff die Initiative und stellte am 9. Mai 1950 der Öffentlichkeit den sogenannten Schuman-Plan vor, dessen Intention folgende Passage zusammenfaßt:
"Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht. ... dieser Vorschlag (wird) den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerläßlich ist."
Diesem Plan, der von Jean Monnet, dem damaligen Leiter des Amtes für wirtschaftliche Planung, entwickelt worden war, stimmte Konrad Adenauer sofort zu. Er hat das Restdeutschland, das nach den Verträgen von Jalta und Potsdam übriggeblieben war, nach Westen orientiert. Dies war nicht nur eine geographische Orientierung. Es war eine Orientierung hin zur freiheitlichen Verfassungstradition der westlichen Staaten. Sechs Staaten Westeuropas - darunter Deutschland - schufen einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl, dessen Hauptmotiv es war, den innereuropäischen Frieden zu sichern: Die Montanunion, die erste europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) wurde 1951 gegründet. Aus der Gemeinschaft der sechs wurde durch die Erweiterung nach Westen eine Gemeinschaft der neun (1972), nach Süden der zehn (1981) bzw. der zwölf (1986), nach Norden eine Gemeinschaft der 15 (1995) und im Mai 2005 kamen auf einen Schlag mit der Erweiterung nach Ost- und Südosteuropa zehn weitere Länder hinzu. Gerade in so schwierigen Tagen, wie wir sie zur Zeit erleben, muß man sagen: Diese Europäische Union ist eine einzige Erfolgsgeschichte.
Viele haben sich gefragt, ob diese Erweiterung nicht viel zu schnell ging. Ich vergesse nicht, was mir der erste frei gewählte ungarische Ministerpräsident József Antall vor fast 15 Jahren in Budapest gesagt hat:
"Wir kehren zurück nach Europa, aber das ist eigentlich ganz falsch formuliert. Wir haben uns nie von Europa verabschiedet. Wir sind gewaltsam durch die sowjetische Hegemonialmacht daran gehindert worden, uns Europa anzuschließen."
In diesen 15 Jahren besuchte ich vom Baltikum bis zum Balkan alle heutigen Mitgliedsstaaten und ich habe vor Ort gesehen, daß es keinen sehnlicheren Wunsch dieser Völker und ihrer Regierungen gibt, als sich der Europäischen Union anzuschließen. In nur 15 Jahren haben diese Länder das gesamte europäische Regelwerk - das, was man "acquis communautaire" nennt - in nationale Gesetze umgesetzt. Es war ein ungeheurer Anpassungsprozeß und eine ungeheure Herausforderung. Hätten sich die 15 Mitgliedsstaaten auch nur halb so sehr angestrengt, wie es die Beitrittskandidaten getan haben, stünde Europa heute anders da.
Die Osterweiterung war und ist teuer. Leider sagen die Politiker den Bürgern zu wenig, daß die Erweiterung Geld kostet. Aber: Sie ist sehr viel billiger als das, was wir uns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geleistet haben. Und sie ist sehr viel besser. Es gibt dazu keine Alternative. Es bliebe nicht ohne Auswirkungen auf unser eigenes Land, wenn in unserer unmittelbaren Nachbarschaft Völker im wirtschaftlichen Elend versinken würden.
Die Europäische Union - ein bürokratischer, zentralistischer Moloch
Die zweite Erfahrung mit Europa verbindet sich mit der Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrags durch die Bevölkerungsmehrheit in Frankreich und in den Niederlanden im Mai bzw. Juni 2005. Wir können nicht sicher sein, ob bei einem Referendum in Deutschland eine Mehrheit zustandegekommen wäre. Das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat) erhebt seit Jahren monatlich Daten über die Akzeptanz Europas. In Deutschland ergab dies über drei Jahrzehnte hinweg Zustimmungsquoten zwischen 70 und 80 Prozent. Seit 15 Jahren jedoch liegen die Werte bei 45 bis 48 Prozent, und das trotz der eben geschilderten geschichtlichen Erfahrung.
Woher kommt dies? In den Augen vieler Bürger erscheint Europa als ein unübersichtliches, fernes, unzureichend demokratisches Gebilde, als ein bürokratischer, zentralistischer Moloch. Aus Brüssel kommen viele europäische Normen, die zunehmend in den Alltag der Handwerker, der Bauern, der Industrie, der Kommunalpolitik eingreifen. Es sind verbindliche, uniforme Detailregelungen für ganz und gar unterschiedliche Verhältnisse und Strukturen.
Wie realitätsfremd das ist, erfährt man, wenn man mit Kommunalpolitikern über die Naturschutz-Richtlinie, die sogenannte Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) der Europäischen Union im Zusammenhang mit der Ausweisung von Vogelschutzgebieten redet. Auf der Schwäbischen Alb zum Beispiel sollen 98 Prozent der Gemarkungsfläche zum Schutzgebiet erklärt werden. Wenn in Baden-Württemberg ein Wasserschutzgebiet ausgewiesen wird, macht dies das Landratsamt. Auch die Festlegung von Naturschutz- und Landschaftsschutzgebieten fällt in die Kompetenz des Landratsamtes. Wird aber ein Vogelschutzgebiet ausgewiesen, ist dafür nicht das Landratsamt, nicht das Regierungspräsidium, nicht das Landesministerium oder ein Bundesministerium zuständig, sondern die Europäische Kommission, und zwar parzellenscharf für jede einzelne Gemeinde aller 25 Mitgliedsstaaten.
Der Verband der Chemischen Industrie machte mich darauf aufmerksam, daß der Entwurf der EU-Chemikalienrichtlinie (REACH) 1140 Seiten umfaßt. Das kann vielleicht ein weltweites Unternehmen wie BASF mit einem entsprechend großen Mitarbeiterstab umsetzen, aber welcher mittelständische chemische Betrieb hat allein die administrative Kapazität, um so etwas zu lesen, zu beurteilen und nachher anzuwenden? Das ist die alltägliche Erfahrung mit Europa.
Das gemeinsame Wohl
Man kann es den 25 Mitgliedsstaaten nicht übel nehmen, wenn sie zunächst ihre eigenen Interessen vertreten. Jeder muß die Möglichkeit haben, an den eigenen Interessen festzuhalten, aber jeder muß auch darüber hinausschauen, sonst kann keine Gemeinschaft bestehen. Als Spanien, Portugal und Griechenland beigetreten sind, hatten sie bei weitem nicht die Hälfte der Wirtschaftskraft der Europäischen Union. Um diese Staaten und ihre Volkswirtschaften an die Europäische Union heranzuführen, wurden Kohäsionsfonds geschaffen und ungemein stark ausgestattet. Dies ist in vollem Umfang gelungen.
Spanien Wirtschaftskraft bewegt sich heute weit über dem Durchschnitt. Trotzdem gibt Spanien die Kohäsionsmittel nicht auf und ist der größte Nettoempfänger der Europäischen Union mit zwischen acht und neun Milliarden Euro. Jetzt sollte Spanien doch eigentlich bereit sein, den Ländern, die neu beigetreten sind und deren Wirtschaftskraft sich auf vergleichsweise ähnlich niedrigem Niveau bewegt wie die Spaniens vor 15 Jahren, diese Mittel zur Verfügung zu stellen, damit auch sie an den Durchschnitt herangeführt werden können. Solange man jedoch am Einstimmigkeitsprinzip festhält und ein einziges Land alles blockieren kann, wird es keine Verbesserung geben.
Entgegen vielfacher Meinung war der Beitragsrabatt für die Briten zum Zeitpunkt seiner Einführung (1984) berechtigt. Damals hatte Großbritannien ein Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung, das genau halb so groß war, wie das der Deutschen. Inzwischen hat uns Großbritannien überholt. Jetzt gibt es keinen Grund mehr für den Briten-Rabatt, oder es müßte auch einen Beitrags-Rabatt für andere geben.
Europäische Öffentlichkeit und Transparenz
Wenn ein Treffen der Regierungschefs auf europäischer Ebene stattfindet, kommt vielleicht ein Bericht im Fernsehen bzw. erscheinen ein paar kurze Notizen in überregionalen Tageszeitungen. Eine europäische Öffentlichkeit findet jedoch so gut wie nicht statt. Die Nachrichten aus Brüssel sind sehr vom jeweiligen nationalen Interesse geprägt. Themen, die die Europäische Union selbst oder die Belange anderer Mitgliedsstaaten in Beziehung zur Europäischen Union betreffen, sind in unseren Medien kaum zu finden.
Ich bin überzeugt, daß bei einer Meinungsumfrage unter den Passanten der Königstraße in Stuttgart auf die Frage, wer der europäische Gesetzgeber ist, 98 Prozent der Befragten antworten würden: "Das Europäische Parlament, das wir nun schon seit mehr als 20 Jahren direkt wählen." Das ist ein Irrtum. Die Europäische Union ist weder ein Bundesstaat noch ein Staatenbund, sondern ein Gebilde "sui generis" - ein Staatenverbund in einer völkerrechtlich einzigartigen Form. Das Sagen haben die souveränen Staaten, die freiwillig einen Teil ihrer Souveränität auf die europäische Ebene übertragen haben. Sie sind deshalb auch Gesetzgeber. So hat die Europäische Union nicht nur einen, sondern viele Gesetzgeber: die zuständigen Fachminister der jeweiligen Mitgliedsstaaten. Je nach Thema treffen sich also die Umweltminister, die Finanzminister, die Wirtschaftsminister usw. als Gesetzgebungsorgan.
Wenn zum Beispiel der Umweltminister mit einer Vorlage an seinen deutschen Kabinettskollegen scheitert, kann er später den völlig gleichen Vorschlag der Ministerrunde in Brüssel vorlegen. Dort ist er unter seinesgleichen, nämlich unter 25 Umweltministern. Die Chance, daß seine Vorlage dort durchkommt, ist erheblich höher als im heimischen Kabinett. Und dann ist ein Jahr später die gleiche Vorlage, die dort ursprünglich abgelehnt wurde, via Brüssel als EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen und man hat auf nationaler Ebene überhaupt keine Wahl mehr.
Die Gesetzgebung in der Europäischen Union findet hinter verschlossenen Türen statt. Ich kenne überhaupt kein Gesetzgebungsorgan in einem demokratischen Gebilde der Welt, das hinter verschlossenen Türen, also nicht öffentlich, tagt. Ich bin überzeugt, daß in Europa 50 Prozent des Unsinns nicht beschlossen würde, wenn die Ministerräte öffentlich tagen würden. Allein deshalb, weil man dann in der Öffentlichkeit sehen würde, wie die Meinungsbildung und die Entscheidungsfindung stattfinden.
Mit der schrittweisen Erweiterung der Europäischen Union bei Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips ist die Arbeit des Europäischen Rats immer weniger effektiv geworden: Wenn sechs Regierungschefs zusammensitzen, kann man über den Tisch reden und sich in Nachtsitzungen zusammenraufen. Das ist 30 Jahre lang gut gegangen. Bei 15 Mitgliedsstaaten wurde es schwieriger. Das Treffen in Nizza im Dezember 2000 war mit fünf Tagen und vier Nächten der längste Gipfel. Es war gleichzeitig der Gipfel mit dem geringsten Erfolg. Ohne die Erfahrung von Nizza wäre es im Dezember 2001 nicht zu dem Beschluß von Laeken gekommen, dem Beschluß der Staats- und Regierungschefs, einen Verfassungskonvent einzusetzen.
Die Frage der Kompetenz
Europa sind in den letzten Jahrzehnten ungemein viele Aufgaben zugewachsen. Europa ist jedoch nicht dann stark, wenn es sich um tausend Aufgaben kümmert und wenn es sich um tausenderlei Aufgaben kümmert. Europa ist dann stark, wenn es sich um die richtigen Aufgaben kümmert. Es gab und gibt aber keine Verfassung, keine Kompetenzordnung mit einer klaren Regelung der europäischen Zuständigkeiten.
Jedem europäischen Vertrag sind auf den ersten Seiten Präambeln mit 20 hehren Zielen vorangestellt. Kein Mensch kann etwas dagegen haben. Aber alles muß man dagegen haben, wenn man sich auf solch allgemeine Formulierungen stützt und damit auf der europäischen Ebene Kompetenzen begründet. Dann gibt es gar keine Aufgabe, um die man sich nicht kümmern kann. Europa kümmert sich um Aufgaben, die man viel näher am Bürger und an den Problemen in den Städten und Gemeinden, in den Regionen und Mitgliedsstaaten regeln könnte. So erstickt Europa an einer Regelungswut und einer Sucht nach Vereinheitlichung. Europa aber muß Vielfalt bestehen lassen, soviel Vielfalt wie nur möglich, und soviel Einheit wie nur zwingend nötig. Alles Uniforme ist uneuropäisch. Was sind also die richtigen Aufgaben für Europa? Wofür ist Europa zuständig? Europa ist zuständig für das, was über die Kraft des Nationalstaats hinausgeht.
Kein Nationalstaat kann sich heute mehr selbst verteidigen. Also sind Fragen der Sicherheitspolitik, der Außenpolitik und auch Teile der Bekämpfung des Terrorismus und der internationalen organisierten Kriminalität zunehmend europäische Aufgaben. Hier müssen mehr Zuständigkeiten nach Brüssel. Wenn man einen gemeinsamen Markt hat, sind alle Fragen des Wettbewerbs europäische Fragen. Wenn man eine gemeinsame Währung hat, sind alle Fragen der Währungspolitik europäische Fragen. Wenn man einen gemeinsamen Weltmarkt hat, die Welt immer stärker zu einer Welt wird, dann wird Europa mehr ausrichten, wenn es mit einer Stimme spricht, als wenn 25 ihre eigenen Interessen vertreten. Grenzüberschreitende Umweltpolitik - die Betonung liegt auf "grenzüberschreitend" - und Großforschungspolitik - die Betonung liegt auf "groß"; damit sind die europäischen Aufgaben im Grund genommen bereits zusammengefaßt und definiert. Von allem anderen sollte Europa die Finger lassen, weil man es auf einer anderen Ebene besser, billiger, bürgernäher und effizienter erledigen kann.
Patentrezept: Subsidiarität
Europa darf nicht den Menschen von oben herab über den Kopf gestülpt werden. Wir müssen Europa vom Bürger her denken und von unten her aufbauen. Auch wenn sich für viele Probleme der Welt nur schwer Lösungen finden lassen, für Europa gibt es eine Patentlösung: Sie heißt Subsidiarität. Das Subsidiaritätsprinzip - erstmals definiert in der Enzyklika "Quadragesimo anno" (1931) - denkt von unten nach oben und würde Europa von unten nach oben aufbauen. Das Subsidiaritätsprinzip hat eine dreifache Bedeutung: 1. Jeder Mensch ist zunächst einmal für sich selbst und seine Familie verantwortlich, bevor er Ansprüche an andere stellen kann. 2. Wenn es über die Kräfte des einzelnen geht, haben freie Träger, also Hilfswerke und Verbände, Vereine und Selbsthilfegruppen Vorrang vor staatlicher und öffentlicher Hilfe. Die dritte Bedeutung - und auf diese kommt es hier an - ist, daß das ursprünglichste Recht bei der kleinsten Einheit liegt.
Die kleinste Einheit ist die Stadt, die Gemeinde. Sie hat Selbstverwaltungsrecht und ist erstzuständig. Europa war über Jahrhunderte hinweg Stadtkultur, die Städte und Universitäten waren offen für alle europäischen Bürger. Obwohl Städte und Gemeinden und ihr Selbstverwaltungsrecht das Fundament Europas sind, kommt kommunales Selbstverwaltungsrecht in keinem einzigen europäischen Vertrag vor. Derjenige, der der Stadt, der Gemeinde eine Aufgabe abnehmen und sie auf höherer Ebene ansiedeln will, muß beweisen, daß diese Aufgabe die Stadt überfordert. Dann ist nach dem Subsidiaritätsprinzip die Region zuständig. Nur, was über die Kraft der Region geht, ist Sache des Mitgliedsstaates. Nur, was über die Kraft des Nationalstaates hinausgeht, ist europäische Aufgabe.
Wenn wir das Subsidiaritätsprinzip anwenden, wird es zu einer anderen europäischen Union kommen, die wieder Akzeptanz bei den Bürgern findet.
Der Europäische Konvent
Mit diesen Erfahrungen vertrat ich von Februar 2002 bis Juli 2003 im Verfassungskonvent die deutschen Länder. Dieser Europäische Konvent unterschied sich fundamental vom Parlamentarischen Rat. Der Parlamentarische Rat hatte den Auftrag, mit der Erfahrung des Niedergangs der Weimarer Demokratie, mit der Erfahrung der totalitären Diktatur, mit der Erfahrung der freiheitlichen Verfassungsgeschichte des Westens eine Verfassung zu erarbeiten, die Grundlage für Stabilität und Demokratie in Deutschland sein soll. Der Verfassungsgeber der Europäischen Union ist jedoch nicht der Konvent, sondern sind die souveränen Regierungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Also konnte der Konvent überhaupt nur beratend tätig werden.
Der Europäische Konvent mit 102 Mitgliedern (aus 28 Ländern je ein Vertreter jeder Kammer der nationalen Parlamente, ein Regierungsvertreter, 16 Europaabgeordnete und zwei Kommissare der Europäischen Kommission) trat unter Vorsitz des europaerfahrenen ehemaligen Präsidenten der Französischen Republik, Valérie Giscard d’Estaing, zusammen. Er versuchte, in breit angelegten Diskussionen und Entscheidungen alle Fragen und Klagen, alle Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten der europäischen Entwicklung zu erörtern und Antworten für Verbesserungen zu finden. Dabei konnte nur ein Kompromiß zustandekommen, zumal es keine Abstimmungen gab, sondern das Konventsprinzip, d. h. das Konsensprinzip herrschte. Wenn man aber bedenkt, daß die Konventsmitglieder aus 28 Ländern und aus über 50 verschiedenen Parteien kamen, so ist der Kompromiß bemerkenswert, eine wirkliche Verbesserung und weiterführend.
Eine neue Verfassung für Europa
Mit der neuen Verfassung, wie sie vom Konvent als Entwurf vorgelegt wurde, ist nicht alles gut und es sind nicht alle Fragen gelöst, wenn sie ratifiziert wird. Aber mit dieser neuen Verfassung würden sehr viele der von mir geschilderten negativen Erfahrungen mit Europa zum Besseren geführt, und die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger gegenüber Europa würde deutlich steigen.
Es gibt in diesem Verfassungsentwurf eine klare Kompetenzordnung. Obwohl man mir in der ersten Sitzung gesagt hat, man könne die Aufgaben der Europäischen Union nicht festlegen, da Europa ein dynamischer Prozeß sei, gibt es jetzt zur Kompetenzfrage drei Artikel: einen Artikel über ausschließlich europäische Zuständigkeiten, einen Artikel über gemischte Zuständigkeiten und einen Artikel über ergänzende Zuständigkeiten. Und es gibt einen Artikel, der die Bereiche benennt, in die sich Europa auf keinen Fall einmischen darf: zum Beispiel in die innere Ordnung der Mitgliedsstaaten, in das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden oder in das Staats- Kirchenrecht. Der Verfassungsentwurf legt auch fest, daß allgemeine Zielformulierungen nicht mehr kompetenzbegründend sind. Dagegen hat sich die Kommission bis zur letzten Sitzung noch leidenschaftlich - jedoch ohne Erfolg - gewehrt.
Das Subsidaritätsprinzip, erstmals verankert im Vertrag von Maastricht, konkretisiert im Vertrag von Amsterdam, aber beide Male ohne jede Durchsetzungskraft, ist jetzt mit einer konkreten Kontrolle versehen und deshalb wirksam. Diese Kontrolle wird nicht durch eine europäische Institution wahrgenommen, sondern durch sämtliche nationalen Parlamente. In den Staaten, in denen zwei Kammern bestehen wie in Deutschland und Frankreich, erfolgt die Kontrolle durch beide Kammern, also durch Bundesrat und Bundestag bzw. durch Nationalversammlung und Senat.
Wenn die Kommission künftig einen Gesetzentwurf vorlegt, dann muß sie ihn gleichzeitig dem Europäischen Rat, dem Europäischen Parlament und allen nationalen Parlamenten zuleiten. Diese können innerhalb von sechs Wochen Stellung dazu nehmen und zwar nicht inhaltlich, sondern mit der Behauptung "Kompetenzordnung verletzt, Subsidiaritätsprinzip verletzt". Wenn ein Drittel der Parlamente dies feststellt, muß die Kommission ihren Entwurf zurückziehen. Am Ende des Gesetzgebungsverfahrens - vor Inkrafttreten des Gesetzes - kann jedes nationale Parlament, jede Kammer beim Europäischen Gerichtshof die gleiche Zuständigkeitsklage erheben. Dies wird für die Zukunft eine wirksame Subsidiaritätskontrolle sein.
Mehr Demokratie und Kontinuität
Die größte Stärkung erfährt das Europäische Parlament: Es wird als direkt gewählte Bürgerkammer endlich in der Gesetzgebung und im Haushaltsrecht gleichberechtigt neben die Ministerräte treten. Damit wird ein großes Demokratiedefizit in der Europäischen Union beseitigt.
Der Europäische Rat - die reformbedürftigste Institution der Europäischen Union - bekommt eine viel stärkere Kraft und Kontinuität. Im Konvent haben wir über die Frage gestritten, ob der Vorsitz im Rat halbjährlich wechseln sollte wie bisher. Man muß sich diesen Zustand einmal näher anschauen: Der britische Premier hält eine glanzvolle Eröffnungsrede im Europäischen Parlament. Im dritten, vierten Monat erkennt er, daß kaum etwas von seinen Zielen und Vorhaben in der kurzen Zeit durchzusetzen ist und dann denkt er vermutlich resigniert, daß in wenigen Wochen der Vorsitz ohnehin an Österreich übergeht. Wie soll unter diesen Umständen eine langfristige Arbeit möglich sein? Es ist von entscheidender Bedeutung, daß stärkere Kontinuität in die Ratsarbeit kommt. Das Ergebnis des Verfassungskonvents ist, daß es künftig einen Hauptratspräsidenten geben wird, der für zweieinhalb Jahre gewählt wird und wiedergewählt werden kann.
Es wird einen "Außenminister" geben, der schon deshalb eine starke Stellung hat, weil er zugleich Mitglied im Rat und in der Kommission ist, und einen eigenen diplomatischen Dienst. Nach dem Entwurf des Verfassungsvertrags tagen die Ratsgremien als Gesetzgebungsorgan öffentlich. Das Einstimmigkeitsprinzip wurde in vielen Bereichen aufgegeben. Dort sind nun Mehrheitsentscheidungen möglich, damit in einer Gemeinschaft von 25 Mitgliedsstaaten ein ganz neues Entscheidungsverfahren angewendet werden kann. Ein Gesetz muß künftig eine doppelte Mehrheit haben: 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, die 65 Prozent der Bürger der Europäischen Union repräsentieren, müssen zustimmen. Es ist leider nicht möglich gewesen, die Kommission zu verkleinern, da jedes Land darauf bestanden hat, einen eigenen Kommissar zu bestellen.
Referendum in Frankreich und den Niederlanden
Es ist eine Tatsache, daß inzwischen 14 Staaten die europäische Verfassung ratifiziert haben - und damit die Mehrheit der Bürger der Europäischen Union. Dennoch ist das Referendum zum Entwurf des Verfassungsvertrags in Frankreich und in den Niederlanden gescheitert. Man kommt nicht an den beiden Gründerstaaten Frankreich und Niederlande vorbei, wenn man Europa bauen will. Ich habe mit vielen Franzosen gesprochen und daraus die Erkenntnis gewonnen, daß europäische Gründe bei der Abstimmung in Frankreich die geringste Rolle gespielt haben. Der Protest gegen die aktuelle französische Innenpolitik war dabei weitgehend ausschlaggebend. Die Sorge um den Arbeitsplatz, die Arbeitslosigkeit, die Jugendarbeitslosigkeit und die Befürchtung, daß sich diese Probleme in Zukunft noch verstärken, haben ebenso eine Rolle gespielt, wie die Frage des Beitritts der Türkei.
Der Verfassungsentwurf besteht aus vier Teilen. Jedem französischen Haushalt ist der Verfassungsvertrag mit allen Teilen per Postwurfsendung als dickes Buch zugeschickt worden. Die Zusendung dieses Buchs war für die Bürgerinnen und Bürger Frankreichs eine Provokation. Wer kann und will so viele Seiten lesen und sich ein eigenes Urteil bilden? Im ersten Teil steht alles über die Institutionen und Verfahren. Im zweiten Teil werden die Grund- und Menschenrechte, wie sie in der Grund- rechte-Charta, die im ersten EU-Konvent unter Vorsitz von Roman Herzog 1999/2000 erarbeitet wurden, aufgenommen. Im vierten Teil stehen wichtige Übergangs- und Schlußbestimmungen. Der Umfang dieser drei Teile ist geringer als der des Grundgesetzes.
Der dritte Teil des Entwurfs ist es, der die Verfassung so dick und unhandlich macht. Es war der Auftrag des Verfassungsgebers, des Europäischen Rates in Laeken, daß alle europäischen Verträge fortgelten müssen, daß sie in eine verständliche Sprache und in eine Gesamtdarstellung gebracht werden müssen. Das Ergebnis dieses Auftrags ist der dritte Teil. Dieser dritte Teil kann aus dem Entwurf herausgenommen werden, ohne die Verfassung substantiell zu verändern, denn er enthält geltendes europäisches Recht, das auch dann Anwendung findet, wenn es nicht in der Verfassung steht.
Wir brauchen die europäische Verfassung, weil sonst der Status quo fortbesteht, über den sich die Bürger in Europa ärgern. Er muß dringend verbessert werden. Der europäische Verfassungsvertrag enthält viele konkrete Verbesserungen. Das kann man den Bürgern erklären. Europa muß als geschichtliche Einheit und große kulturelle Kraft sichtbar werden. Wenn wir Europa nur technokratisch vermitteln, wenn Europa den Bürgern nur durch Richtlinien, nur durch Gesetze, die umgesetzt werden müssen, ein Begriff ist, werden wir die Zustimmung der Bürger auf Dauer nicht haben. So sollte man den Bürgerinnen und Bürgern Frankreichs und der Niederlande entgegenkommen und sie überzeugen, bevor man sie erneut zu einer Abstimmung bittet.
Was Europa ausmacht
Golo Mann sagte zu Recht: "Wer nicht um seine Herkunft weiß, hat auch keine Zukunft." Für mich hat es am schönsten und am prägnantesten der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss formuliert: "Europa ist auf drei Hügeln erbaut. Auf der Akropolis von Athen, auf dem Kapitol in Rom und auf Golgotha." Hier muß die Gemeinschaft der 25 ansetzen, wenn sie die Zustimmung der Bürger behalten oder zurückgewinnen will: Wir müssen mit den Bürgerinnen und Bürgern über das reden, was Europa ausmacht, über die Geschichte Europas, über die Kultur, über die Religionsgeschichte Europas. Wenn man sich darüber Gedanken macht, kommt man sehr schnell auf griechischen Geist, griechische Philosophie, griechische Kunst und Kultur, griechische Demokratie. Man kommt sehr schnell auf Rom und das römische Recht, das bis zum heutigen Tag die Rechtsordnung der meisten europäischen Länder prägt, und auf römische Staatskunst. Man kommt sehr schnell auf den Ein-Gott-Glauben der Juden und der Christen, der Europa geprägt hat. Man kommt auf die Aufklärung, auf den Humanismus, auf die freiheitliche Verfassungstradition des Westens: Das alles macht Europa aus.
Wenn wir nicht wollen, daß das 21. Jahrhundert so aussieht, wie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann darf das europäische Projekt nicht scheitern. Das Zukunftsprojekt Europa soll nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen der Menschen erreichen. Oder wie Jacques Delors es Anfang der 1990 Jahre ausgedrückt hat: Wir müssen "Europa eine Seele geben". Wenn es uns gelingt, den Bürgern diese Kultur, Geistesgeschichte und europäische Geschichte und Identität zu vermitteln, legen wir ein Fundament für Europa. Und dann finden - so hoffe ich - auch die Regierungen über die reine Interessenvertretung hinaus zu einer Sicht, die das europäische Gemeinwohl verwirklicht.
Stimmen der Zeit (2006) 587-596