Angesichts der Erfahrung von Konzentrationslager und Völkermord wäre es angemessener, im Schweigen zu verweilen, als über eine Kultur des Gedenkens zu sprechen. So formulierte Gideon Hausner, der ehemalige Vertreter der Anklage im Eichmann-Prozeß:
"Die kaltblütige, willkürliche und systematische Vernichtung von Millionen hilfloser Zivilisten ... ist eine Geschichte, für die uns die Worte fehlen. Denn Worte dienen dazu, menschliche Erfahrungen zu vermitteln. Diese Taten jedoch übersteigen jedes Maß. Sie spotten jeder Beschreibung, ihre Einzelheiten machen uns sprachlos."(1)
Gedenken - eine Reflexion in der Stille
Die erste zu erwähnende Eigenschaft des ehrlichen und tiefen Gedenkens ist also, daß es keine lauten Worte braucht. Keine Zeremonien. Ganz bestimmt keine Militärparaden und Ehrensalven, auch wenn all das zu der alten und nach und nach überholten traditionellen Form der Andachtsfeier gehört.
Gedenken ist vor allem eine Reflexion, die in der Stille stattfindet. Es ist die verkörperte Stille. Ein nachdenkliches Schweigen im Angesicht der in der Zeit eingefrorenen Tragödie. "Ich habe über diesen Gipfelpunkt des Bösen alles gelesen", erinnert sich der KZ-Häftling und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel in seiner "Wiederbegegnung mit Auschwitz":
"Ich glaube alles über die letzten Stunden der Opfer zu wissen. Ich werde nichts sagen. Es sich vorzustellen, wäre taktlos. Es zu erzählen, wäre schamlos. ... Das ist es, was wir tun müssen: den Atem anhalten und warten, gemeinsam, um ein ganz kleines bißchen die gebieterische Stimme dieser Zeit zu vernehmen, diejenige einer Erinnerung, welche brennt und brennt, aber sich niemals verzehrt."(2)
Gedenken ist also ein geduldiges Lauschen nach den Geisterstimmen der Vergangenheit, die bis heute an Orten der Tragödie, des Leidens und des Todes wie ein entferntes Echo wahrnehmbar sind. Die zwischen den Wänden der verlassenen Häftlingsbaracken widerhallen, auf unkrautüberwucherten Appellplätzen, im verrosteten Stacheldraht und in leeren Schußlöchern der Wachtürme. Über anonymen Massengräbern. Es sind Entsetzensschreie und Weinen. Gebete. Schläge und Hundegebell. Schüsse. "Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden", heißt es in Gen 4,10. Das Gedenken ist ein Lauschen nach dem Wort Gottes.
Das Gedenken ist mit Schmerz und Trauer verbunden, doch es geht über sie hinaus. Schmerz und Trauer sind die ersten unmittelbaren menschlichen Reaktionen auf den Verlust. Sie sind begleitet von Ratlosigkeit, Unverständnis, manchmal sogar von spontanen Rachegefühlen. Im ersten Schmerz und der Trauer ist oft kein Platz für Reflexion und Überlegung. Gedenken dagegen kommt mit der Zeit. Es ermöglicht ein Nachdenken über den Ursprung und die Ursachen des Bösen. Es sucht nach Antworten und hilft Schlüsse zu ziehen. "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung", besagt ein jüdisches Sprichwort. Im Gedenken ist diese Chance auf Erlösung enthalten. Nicht durch Überwindung und Vergessen des Leidens, sondern durch seine bewußte Verinnerlichung. Das brachte Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum Befreiungstag am 8. Mai 1985 zum Ausdruck: "Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird."
Und gleichzeitig ist Gedenken eine Verbeugung. Aber nicht eine in ehrenvoller Hochachtung vor den Helden, sondern eine ganz menschliche und bescheidene Geste: in Demut. Um nochmals die berührenden Worte von Elie Wiesel zu zitieren:
"Es genügt sich zur Erde zu beugen, um dort die Asche zu finden, die seinerzeit vom Himmel fiel und die armen Reste von Tausenden und Tausenden jüdischer Kinder, schweigend und weise, so weise, in die vier Winde zerstreute."(3)
Gedenken ist ein Schirm, der unser Gedächtnis davor bewahren sollte, von dieser Asche begraben zu werden. Es ist ein stummer, schweigender Schrei gegen das Vergessen und gegen diejenigen, die vergessen wollen. "Wir schließen die Augen, und unser Mund ist zum Schweigen verurteilt. Wie können wir darüber sprechen?", fragt Kardinal Jean-Marie Lustiger:
"Und doch, bevor wir sterben, ist es unsere Pflicht, den nach uns kommenden Generationen von jenen gotteslästerlichen Greueln zu berichten, deren Ziel es war, zuerst das jüdische Volk und mit ihm zusammen alle auszulöschen, die von der Herrenrasse für nicht lebenswert gehalten wurden."(4)
Verpflichtung zum Zeugnis und zur Verantwortung
Gedenken beinhaltet also auch die Verpflichtung, Zeugnis abzulegen. Der hauptsächlich für seine Aphorismen bekannte polnische Dichter Stanis?aw Jerzy Lec behauptete zwar einst, der Mensch würde an einer fatalen Spätzündung leiden und alles erst in der nächsten Generation begreifen. Doch zuweilen scheint es, als würde diese Bereitschaft zum Erinnern und zum Begreifen von Generation zu Generation abnehmen, was teilweise zwar verständlich ist und mit dem unabänderlichen Ablauf der Zeit zusammenhängt, andererseits aber höchst beunruhigt. "Die Erinnerungen werden schwächer. Sie werden nie ganz verschwinden, aber sie verblassen ein wenig, und irgendwann merkt man, daß man mit ihnen leben kann", schreibt die Schriftstellerin Charlotte Link in ihrem Buch "Am Ende des Schweigens". Auf Schauplätze der Massenvernichtung angewendet ist dies ein furchteinflößendes Fazit. Denn Orte wie Dachau und Auschwitz und Treblinka dürfen niemals zur Alltagserscheinung werden, mit der einer "leben kann". Das Gedenken an sie muß stets ein Dorn im Auge bleiben, ein glühendes Eisen, das die unzähligen Tragödien dauerhaft ins Gewissen jedes einzelnen einbrennen soll.
Das Gedenken bringt eine ganz konkrete und zukunftsgerichtete Verantwortung mit sich, nämlich jene der Bildung. Oder besser gesagt: der Erziehung. Denn Bildung allein, ohne Rückbesinnung auf die fundamentalen Werte, kann in die Irrwege der perfektionierten Unmenschlichkeit führen. So appelliert der Erziehungspsychologe Haim Ginott im Vorwort zu einem polnischen Lehrbuch über den Holocaust:
"Lieber Lehrer! Ich bin Überlebender eines Konzentrationslagers. Meine Augen haben gesehen, was niemand je sehen sollte. Gaskammern, gebaut von gelernten Ingenieuren. Kinder, vergiftet von ausgebildeten Ärzten. Säuglinge, getötet von geschulten Krankenschwestern. Frauen und Babys, erschossen und verbrannt von Hochschulabsolventen. Deshalb bin ich mißtrauisch gegenüber Erziehung. Meine Forderung ist, daß Lehrer ihren Schülern helfen, menschlich zu werden. Ihre Anstrengungen dürfen niemals führen zu gelernten Ungeheuern, ausgebildeten Psychopathen, studierten Eichmanns. Lesen, Schreiben, Rechnen sind nur wichtig, wenn sie dazu dienen, unsere Kinder menschlicher werden zu lassen."
Gedenken ist auch oft ein Akt des Mutes, in die Hölle zu blicken. In den berühmten Abgrund von Friedrich Nietzsche, der dem Beobachter entgegenschaut und in seine Seele eindringt. In ein schwarzes Loch, dessen Existenz die Weisen in der Ferne des Weltalls vermuten, und das dennoch direkt vor unseren Augen ganze Völker verschluckte. Gedenken ist eine Konfrontation mit Orten, wo die Zeit außerhalb der Geschichte stehengeblieben ist. Kardinal Lustiger bezeichnete die Schauplätze des Massenmordes als ein Reich des Namenlosen, wo die Objekte des Verbrechens von den Schlächtern niemals bei Namen genannt wurden. Wo Individuen zu Nummern wurden und wo man sie ihrer Persönlichkeit beraubte:
"Gott schenkt dem Menschen die Gnade und Freude der Namen. Dort aber herrschte in jenen Jahren das Unbenennbare. Die Lüge. Der Tod. Das Namenlose. Das Schweigen des Todes. Die Nazis konnten die Gegenstände ihrer Verbrechen nicht bei ihrem Namen nennen. Sie hatten eine Scheinsprache entwickelt, ein Ersatzvokabular, um das zu bezeichnen, was sie zu tun wagten."(5)
Den Namenlosen ihre Biographie zurückgeben
Es wurde uns das Vermächtnis vererbt, dem "Unbenennbaren" dieser Zeit durch Gedenken erneut Namen zu verleihen, den namenlosen "Untermenschen" - wo immer möglich - ihre persönlichen Lebensgeschichten und geraubten Biographien zurückzugeben und damit auch ihre Menschenwürde. In der anonymen Menge Gesichter zu erkennen. Der deutsche Liedersänger Reinhard May drückt dieses Bedürfnis auf ansprechende Weise in seiner auf einem authentischem Ereignis beruhenden Ballade "Die Kinder von Izieu" aus:
"Der Älteste war siebzehn, der jüngste grad vier Jahre, Von der Rampe in Birkenau in die Gaskammern geführt. Ich werd’ sie mein Leben lang sehn und bewahre Ihre Namen in meiner Seele eingraviert."
Gedenken ist somit auch ein Denkmal für die Ewigkeit, aber keines aus Steinen, sondern ein Denkmal im Geist der Überlebenden und der Nachkommen. Es liegt heute an uns, das ehemals Unbenennbare auszusprechen. Kardinal Lustiger warnt aber vor der Falle, in die einer leicht geraten kann, wenn er die damaligen Täter aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließen will. Denn die Täter waren und sind "Teil unserer menschlichen Gesellschaft":
"Was sie getan haben, ist nicht nur ein Verbrechen gegen die Menschheit, sondern auch ein Verbrechen des Menschengeschlechts. Wir können nicht behaupten, daß dieses Verbrechen von Wesen begangen wurde, die nicht zur Nachkommenschaft Adams gehörten. Kain weiß, daß er seinen Bruder tötet. In diesem Punkte sprachen die Nazis, die, wie wir nicht vergessen dürfen, als Menschen unsere Brüder waren, ihren Opfern das Menschsein ab."(6)
Die Darstellung der Hölle auf den Bildern von Hieronymus Bosch erschreckt und fasziniert zugleich durch die phantasievollen, mißgebildeten Monstergestalten: Wesen aus einer anderen Welt. Die erhaltenen Aufnahmen von Konzentrationslagern lösen noch schlimmere Furcht aus, weil die Monster dort menschliche Züge haben.
Gedenken ist damit auch Scham. Ein Bewußtsein des Versagens des eigenen Geschlechts, der Werte, der Kultur und Zivilisation, der Humanität. Ein Bewußtsein des Mangels an Gerechtigkeit, an Toleranz und Zivilcourage in der Politik. Konzentrationslager stehen als bedrängende Symbole dafür, wohin solches Versagen führen kann. Die biblische Stadt Sodom wurde nicht gerettet, weil zehn Gerechte fehlten. "Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt", lautet eine der Weisheiten des Talmud.
Das Leben der Ermordeten können wir durch Gedenken nicht mehr retten. Was uns bleibt, ist die Hoffnung, daß das vergossene Blut nicht umsonst war. Dieses Blut bedeutet unsere christliche oder einfach menschliche Verpflichtung gegenüber dem Leiden unseresgleichen. Verpflichtung zur Treue unserem Gewissen gegenüber, zum Versuch Andersdenkende verstehen zu wollen, aber auch die Verpflichtung, ohne Gewaltanwendung im Geist der Nächstenliebe sich dem Ungeist des Hasses und der Verachtung widersetzen zu können. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die eigenen Schattenseiten anzuerkennen und nach Gegenmitteln zu suchen. Diese Gegenmittel liegen im Dialog, in der Begegnung, im Austausch, im gemeinsamen Gedenken. "Gemeinsame Erinnerungen sind manchmal die besten Friedensstifter", ermutigte Marcel Proust.
Europäisches Gedenken als gemeinsame historische Reflexion
Gedenken ist somit historische Diskussion. Wir machen uns heute vor allem in Europa zunehmend Gedanken über die Wurzeln unserer Gegenwart. Es scheint auch das Bewußtsein heranzureifen, daß es ohne kritisches Nachdenken über die Vergangenheit unmöglich ist, einen vernünftigen Blick in die Zukunft zu erlangen. Und es ist eine deutliche Tendenz sichtbar, Erinnerungsstätten und Museen zu errichten. So viel Erinnerung und Geschichte gab es noch nie, behaupten manche.
Es ist aber zuweilen beunruhigend, daß das Gedenken oft mißverstanden wird und scheinbar dazu dient, alte Ressentiments aufs neue aufleben zu lassen. Daß die europäischen Geschichtsperspektiven sehr unterschiedlich sind, ist verständlich. Gedenken darf aber niemals gegen jemanden gerichtet sein, obwohl es dieses destruktive Potential durchaus besitzt. In gemeinsamer historischer Reflexion schafft es vor allem eine wertvolle Gelegenheit zur Annäherung und Versöhnung. Diese Chance gilt es wahrzunehmen und wertzuschätzen. Daher ist immer eine Europäisierung der geschichtlichen Diskussion anzustreben. Europa hat die Möglichkeit und sollte "sich dadurch auszeichnen, daß seine Nationen und Regionen plurale und differenzierte Erfahrungen in einen gemeinsamen Diskurs einbringen"(7). Das Gedenken der schmerzhaft erlebten Geschichte wird erst dann entsprechende Früchte tragen, wenn es tatsächlich und nicht nur vereinzelt in einem gemeinsamen europäischen Rahmen stattfindet.
Im allgemeinen Verständnis heißt Gedenken auch letztendlich Nachdenken über den Tod. Und auch hier versteckt sich eine - für manche vielleicht wenig erwartete - Lehre:
"Solange wir den Tod nur als Feind betrachten, sind wir ihm schon unterlegen. Erst im Verzicht auf unser Feindbild können wir entdecken, wer er für uns sein könnte: ein Lehrer des Lebens ... Denn wir können Entscheidendes durch ihn lernen. Er kann uns lehren, wahrhaftig zu leben, endlich zu leben, heute, jetzt."(8)
Gedenken - eine zukunftsgerichtete erzieherische Aufgabe
Die Schlußfolgerung dieser Überlegungen ist nicht bahnbrechend, nicht revolutionär. Das soll sie auch nicht sein. Sie ist simpel und einfach. Fast selbstverständlich - und doch braucht sie ständige Wiederholung: Gedenken dient nicht bloß dazu, über geschichtliche Tragödien in Trauer und Schmerz zu reflektieren. Gedenken hat einen kreativen Charakter, eine dringende zukunftsgerichtete erzieherische Aufgabe. Es kann uns in vielerlei Hinsicht zu besseren Menschen machen.
Die kommenden Generationen dürfen nicht vergessen, daß sich der Zweite Weltkrieg immer und ewig von den vorherigen Kriegen unterscheiden wird: durch den geplanten Menschenmord; durch eine planmäßig durchgeführte Vernichtung von Millionen Menschen; durch das quälende psychische und physische Leid, das ihnen ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter angetan wurde; durch den langsamen Tod durch Hunger und Krankheiten in Konzentrationslagern und Gettos; durch den gewaltsamen Tod bei Massenexekutionen und den Märtyrertod in den Gaskammern. An den Orten, die von Spezialisten zur Ausführung des staatlichen Aktionsprogramms des Dritten Reichs errichtet wurden.
Heute, zu Beginn des neuen Jahrhunderts, an das wir große Hoffnungen für eine bessere Zukunft der Menschheit knüpfen dürfen oder wollen, sind Begriffe wie Dachau oder Auschwitz für Millionen Menschen in aller Welt, sowohl Juden als auch Christen, zum Zeichen des Grauens und der letzten Warnung geworden - auch wenn seit jenen Ereignissen schon 60 Jahre und mehr vergangen sind. Wir, die den Opfern unsere Ehre erweisen möchten, wollen dieser Herausforderung gerecht werden. Wir fühlen uns verpflichtet, zu gedenken und nachzudenken. Verpflichtet zur Erinnerung an historische Fakten und an den Tod. Zum Nachdenken über die menschliche Natur und über die Erziehungsmethoden für eine bessere gemeinsame Zukunft.
Aufbegehren gegen die Gleichgültigkeit
Die bittere Erfahrung lehrt uns, wie groß die Bedeutung des Fortschritts von Wissenschaft und Technik und der materiellen Kraft der Staaten ist. Die Erfahrung ist bitter, weil diese Kraft im 20. Jahrhundert gegen die Menschen gerichtet war. Wir müssen uns also auf eine gewisse universelle Wertordnung, auf einen ethischen Maßstab stützen, der sowohl die Juden als auch die Bekenner aller christlichen Kirchen verbindet - an die Zehn Gebote, die Gott Mose auf dem Sinai übergeben hat. Eines dieser Gebote heißt: "Du sollst nicht töten!" Das soll nicht nur heißen: Du sollst kein Verbrechen begehen. Sondern auch: Du sollst nicht zum Verbrechen aufwiegeln, du sollst das Verbrechen nicht akzeptieren, du sollst nicht gegen das Verbrechen gleichgültig bleiben. Denn Gedenken ist letztendlich auch eine Verpflichtung zum Handeln. Zum Aufbegehren gegen die Gleichgültigkeit.
Wir alle sollten unsere Schlüsse daraus ziehen, vor allem diejenigen, die für die Gestaltung des Bewußtseins der neuen Generationen verantwortlich sind. Ich meine hier weltliche und geistliche Lehrer und Erzieher sowie diejenigen, die das Vorstellungsvermögen der Menschen über die Medien beeinflussen. Wenn der Totalitarismus ein Ausdruck des Triumphs von Haß und Verachtung war, dann gebietet das Testament seiner Opfer, nachzudenken über Methoden, wie man sich dem Haß, der Verachtung und dem Gefühl einer eingebildeten Überlegenheit einer Nation oder einer Menschengruppe gegenüber anderen Nationen oder Menschengruppen wirksam widersetzen kann. Wenn Konzentrationslager und Schauplätze ähnlicher Greueltaten der Triumph extremer Formen der Unmenschlichkeit waren, dann muß das kategorische Gebot für die Nachkommen auf entschiedenen Widerstand gegen etwaige Symptome aller Erscheinungen und Gefahren von Fremdenfeindlichkeit beruhen.
Keiner von uns ist von der Pflicht befreit, Folgerungen daraus zu ziehen, was sich an vielen mehr oder weniger bekannten Orten Europas ereignet hat, an denen der Haß die Oberhand gewonnen hatte. Der Sieg des Hasses währte nur kurz, aber der Preis seines Triumphs war zu groß, als daß man die Praxis des Hasses heute aus Unwissenheit oder durch Vernachlässigung in den Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen Nationen, ethnischen oder konfessionellen Gruppen zulassen dürfte. Das Rezept dagegen lautet Güte, Vertrauen, Menschenliebe und die Kraft unserer Erfahrungen. All diese Elemente sind in unserer europäischen Kultur des Gedenkens enthalten. Es genügt, um abschließend nochmals den Worten von Elie Wiesel zu folgen, sich nach der Asche zu beugen.
Stimmen der Zeit (2008) 651-657