Das Gedenken an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung ist heute zu einem festen Bestandteil der deutschen politischen Kultur geworden. Das Holocaust-Denkmal am Potsdamer Platz in Berlin symbolisiert den hohen Stellenwert dieses Gedenkens. Daß die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Erbe des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland öffentlich nicht mehr nur von betroffenen Minderheiten und politischen Präzeptoren als notwendig, weil identitätsstiftend anerkannt wird, ist ein bedeutsamer Fortschritt gegenüber den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Das NS-Opfergedenken ist ein unabdingbarer Bestandteil demokratischer politischer Traditionsbildung. Doch die gewöhnlichen Mechanismen der Traditionsbildung wie Weitergabe und Nachvollzug verbieten sich in diesem Zusammenhang, ist der Ausgangspunkt doch das kategorische "Nie wieder!" der Überlebenden, deren schreckliche Erfahrungen wohl stets nur ansatzweise verstanden werden können.
Das Gedenken erweist sich so als schwieriges und komplexes Unterfangen. Die Sorge, wie es sich entwickeln wird, wenn mit dem Abtreten der letzten Generation der Zeitzeugen auch ihre politisch-moralische Autorität in der Gesellschaft fehlt, wird heute bereits vielerorts diskutiert. Wird das Gedenken in der Entschiedenheit und Intensität weiter gepflegt werden, wie es Wladyslaw Bartoszewski, selbst NS-Verfolgter und Widerstandskämpfer, unlängst gefordert hat1? Werden die Erfahrungen von Widerstand und Verfolgung einen angemessenen Platz im öffentlichen Raum erhalten.
Am Beispiel Münchens, der ehemaligen "Hauptstadt der Bewegung", und Dachaus, dem Ort des einzigen Konzentrationslagers, das praktisch während der ganzen Existenz des NS-Regimes bestand, lassen sich aktuelle problematische Tendenzen des NS-Opfergedenkens ebenso aufzeigen, wie dessen Wurzeln im politischen Widerstand gegen die Hitler-Diktatur2 Eine Gedenkkultur, die sich nicht um die Bewußtmachung dieser Wurzeln bemüht und daraus Orientierung bezieht, droht in ästhetisierende Selbstgenügsamkeit abzugleiten, die dem Gegenstand nicht gerecht wird.
Die Wahrheit über das Konzentrationslager Dachau
"Dachau ist menschlich." Diese Parole wurde zwar wörtlich so nie formuliert, aber die propagandistische Botschaft der Berichte, die in den frühen Jahren der NS-Herrschaft über das Konzentrationslager Dachau erschienen, ließen sich durchaus auf diesen Nenner bringen. Eine Erziehungsanstalt sollten die Volksgenossen in dem Lager vor den Toren Münchens sehen, dessen Einrichtung am 21. März 1933, dem Vortag der Einlieferung der ersten Gefangenen vom kommissarischen Münchener Polizeipräsidenten Heinrich Himmler in einer Pressekonferenz angekündigt wurde. Ganz in diesem Sinn vermeldete die Dachauer Zeitung im Mai 1933 stolz, das "mustergültige KL" mache die Stadt "weit über die Grenzen des Vaterlands bekannt". Währenddessen verbreitete sich unter der Bevölkerung Münchens und Südbayerns das geflügelte Wort: "Lieber Gott, mach’ mich stumm, daß ich nicht nach Dachau kumm." Der Name Dachau hatte einen drohenden Klang angenommen.
Doch schon wer die Drohung allzu konkret beim Namen nannte, bekam es mit der Staatsmacht zu tun. Das Münchener Sondergericht führte zahlreiche "Heimtücke"-Prozesse gegen Menschen, die sich allzu offen über die Zustände im Konzentrationslager Dachau geäußert hatten. Mit dem von den neuen Machthabern eingeführten Straftatbestand der Heimtücke wurde bedroht, wer "vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen".
Auf sein Ansehen war das NS-Regime sehr bedacht. Die öffentliche Verbreitung der Wahrheit über das Konzentrationslager Dachau war deshalb höchst unerwünscht. Daher wurde auch die Untersuchung einiger der Morde, die sich schon in den ersten Wochen der Existenz des Konzentrationslagers dort ereignet hatten, durch Oberstaatsanwalt Karl Wintersberger von der zuständigen Staatsanwaltschaft München II von Heinrich Himmler mittels politischer Intrigen und grober Manipulationen unterdrückt. Wintersbergers Nachfolger Paul Barnickel stellte das Verfahren schließlich im August 1934 ein, und die unerwünschte öffentliche Thematisierung der Verbrechen im Konzentrationslager Dachau unterblieb.
Auch aus dem Lager Entlassene wurden unter der Drohung der Wiederverhaftung zu strengstem Stillschweigen verpflichtet - eine wirkungsvolle Maßnahme, wie ein sozialdemokratischer Berichterstatter im März 1935 bezeugte:
"Mit Leuten, die aus Dachau entlassen wurden, kann man sich nicht unterhalten. Sie sind derart eingeschüchtert, daß sie einem meist fluchtartig ausweichen, wenn sie fürchten, daß man sie ansprechen will. Im günstigsten Fall kann man einmal von einem ganz guten Freund die Äußerung hören: 'Später kann ich Euch einmal Dinge erzählen, da werdet Ihr staunen.' Mehr ist unter keinen Umständen zu erfahren."
Dennoch wurden die Verhältnisse im Konzentrationslager Dachau in der versteckten Gegenöffentlichkeit Andersdenkender thematisiert, und Angehörige verschiedener Gruppen des Widerstands - insbesondere solcher aus München - bemühten sich, sie öffentlich zu machen: aus Entsetzen über die Unmenschlichkeit, aus Solidarität mit den Gefangenen und um die Illegitimität und den Unrechtscharakter des NS-Regimes zu demonstrieren. Im folgenden soll anhand einer Reihe von Beispielen gezeigt werden, daß das Bemühen darum, die Wahrheit über das Konzentrationslager Dachau bekanntzumachen, nicht erst 1945 begann, sondern 1933 mit dem Widerstand gegen das NS-Regime. Die Aufgabe der Mahnung und Bildung, der heute die KZ-Gedenkstätte gewidmet ist, hat ihre Wurzeln im Kampf gegen die Nazi-Diktatur, und kann von diesen ohne Beschädigung nicht gelöst werden.
Das Mörderlager
Mit der Gründung des Konzentrationslagers Dachau durch Heinrich Himmler am 22. März 1933 und seiner Übernahme durch die SS am 11. April 1933, nahm die Verfolgung politischer Gegner, die auch in Bayern auf breiter Front nach dem Reichstagsbrand vom 27./28. Februar eingesetzt hatte, eine neue Qualität an. Schon einen Tag, nachdem die SS im Lager angetreten war, wurden drei aus Nürnberg und Fürth stammende Häftlinge ermordet. Als Juden und Linke waren sie der SS besonders verhaßt. Das nächste Opfer wurde am 7. Mai der kommunistische Landtagsabgeordnete Fritz Dressel aus München. Wochenlang waren ihm die Häscher auf den Fersen gewesen und hatten sogar seine Frau Dora für sechs Wochen als Geisel festgehalten, bis ihnen Fritz Dressel am 3. Mai in die Hände fiel. Einen Tag später wurde er ins Konzentrationslager Dachau gebracht und dort im Lagergefängnis tagelang brutal gefoltert, bis er sich mit einem Brotmesser, das man bewußt in seiner Zelle gelassen hatte, die Pulsadern aufschnitt. Medizinische Hilfe wurde absichtsvoll unterlassen.
Zellennachbar von Fritz Dressel war der Leiter der südbayerischen KPD Hans Beimler. Auch ihn wollte die SS in den Suizid treiben. Man schleppte ihn in die Nachbarzelle: "Es war der erschütterndste Augenblick meines Lebens", berichtete Beimler später darüber:
"Vor meinen Füßen auf dem Steinboden lag die zerschundene, mit dicken Beulen bedeckte Leiche meines langjährigen Kampfgenossen Fritz Dressel. Der linke Arm lag ausgestreckt auf dem Boden, quer über den Vorderarm drei Schnitte, das Brotmesser daneben."
Mit Beschimpfungen und Drohungen wurde Beimler, der ebenfalls brutal mißhandelt worden war, aufgefordert, dem Beispiel seines in die Verzweiflung getriebenen Genossen zu folgen. Ihm jedoch gelang als einem der ganz wenigen Häftlinge während der gesamten zwölf Jahre des Konzentrationslagers Dachau am 9. Mai 1933 die Flucht. Unmittelbar danach schrieb er seine Erlebnisse nieder. Seine Broschüre "Im Mörderlager Dachau" erschien noch 1933 in deutscher und englischer Sprache in Moskau, London und New York.
Am Tag von Beimlers Flucht wurde ein weiterer kommunistischer Landtagsabgeordneter aus München, Sepp Götz, im Konzentrationslager Dachau ermordet, eines von mindestens acht Todesopfern im Mai 1933; am 22. August 1933 wurde dort Franz Stenzer erschossen, der für die Münchener KPD ein Reichstagsmandat hielt. Die im Untergrund in der Landeshauptstadt tätigen Kommunisten hatten offenbar Näheres über den Hergang des Mordes erfahren und berichteten in der Nummer 8 der "Neuen Zeitung" vom September 1933, ihrem hektographierten illegalen Organ, über die Inszenierung der Erschießung "auf der Flucht" und über den körperlichen Zustand Stenzers nach einigen Monaten Lagerhaft:
"Genosse Franz Stenzer war ungefähr 33 Jahre alt. Als er nach Dachau kam, hatte er das Gewicht von 174 Pfund, und mit 85 Pfund wurde er zu Grabe getragen. Die faschistischen Mörder haben unseren Genossen buchstäblich zu Tode gemartert."
Mitteilungen über Verfolgungen und Verhaftungen nahmen einen bedeutsamen Platz in der kommunistischen Untergrundpublizistik ein, zu der auch die über die Grenzen eingeschmuggelte Beimler-Broschüre gehörte. Anders als die hoffnungsfrohen Kampfaufrufe für den Sieg der proletarischen Revolution der in Wirklichkeit vernichtend geschlagenen, in ihren Resten aber moralisch ungebrochenen kommunistischen Bewegung waren die Angaben über die Verfolgungen ziemlich präzise und wirklichkeitsgetreu. Die Wirkungen der unter großen Schwierigkeiten und Risiken hergestellten und verbreiteten Untergrundliteratur reichten innerhalb Deutschlands aber selten über die engen Grenzen des linksradikalen proletarischen Milieus hinaus. Im Ausland war das etwas anderes. Beimlers Broschüre dürfte einiges dazu beigetragen haben, daß der Name Dachau "weit über die Grenzen des Vaterlands bekannt" wurde, um noch einmal die Dachauer Zeitung zu zitieren.
Zu den wenigen Nichtkommunisten, die sich für das Verfolgungsschicksal der KPD-Mitglieder interessierten, gehörte der Stadtpfarrer und Stadtrat der Bayerischen Volkspartei Emil Muhler3. Anläßlich eines Seelsorgebesuchs im Herbst 1933 bei einem aus der Kirche ausgetretenen Kommunisten kam er mit diesem ins Gespräch über das Konzentrationslager Dachau. Gegenstand war dabei auch die Ermordung von Fritz Dressel. Muhler berichtete seinen Kaplänen von dem Gespräch, und diese erzählten das Gehörte weiter. Wenig verwunderlich, daß die Geschichte dabei etwas entstellt wurde: In den letzten Versionen hieß es, es sei ein abgeschnittener Kopf in Hans Beimlers Zelle gerollt worden. Ebensowenig erstaunlich, daß es bald zu einer Denunziation kam. Obwohl der Pfarrer sich standhaft weigerte, den Namen seines Gesprächspartners zu nennen, konnte ihn die Bayerische Politische Polizei mittels der Kirchenbücher bald ausfindig machen. Es stellte sich heraus, daß der Hilfsarbeiter Andreas Donhauser von der Ermordung Dressels aus Beimlers Broschüre Kenntnis bekommen hatte.
Als am 24. Januar 1934 im Münchener Justizpalast die Verhandlung des Sondergerichts gegen Muhler und seine beiden Kapläne stattfand, wurde Donhauser als Zeuge aus dem Konzentrationslager Dachau vorgeführt. Der Prozeß endete mit vier Monaten Gefängnis für Muhler und drei bzw. fünf Monaten für seine Kapläne. Auf Anraten seines Anwalts und seines geistlichen Vorgesetzten Kardinal Michael von Faulhaber hatte Muhler die Frage der Wahrheit der erhobenen Behauptungen nicht aufgeworfen, und das Gericht - dem als Beisitzer der bereits erwähnte Paul Barnickel angehörte - befaßte sich seinerseits damit ebenfalls nicht. Diese Frage warf indes Hans Beimler auf: Aus dem Pariser Exil schrieb er fünf Tage nach der Urteilsverkündung an das Gericht und beteuerte, daß alles, was er geschrieben habe, den Tatsachen entspreche und "daß die drei Pfarrer, wegen angeblicher Greuelpropaganda verurteilt, unschuldig sind". Zu der von Beimler verlangten kommissarischen Vernehmung auf französischem Boden kam es indes nicht. Das Gericht legte den Brief nach kurzer Prüfung zu den Akten.
Emil Muhler selbst haderte später damit, die Wahrheitsfrage nicht aufgeworfen zu haben und fühlte sich von Kardinal Faulhaber im Stich gelassen. Als 1940 eine Aufzeichnung mit diesen Gedanken bei ihm gefunden wurde, trug ihm das eine mehrmonatige Gestapohaft ein. Später wurde er Opfer der präventiven Massenverhaftungen nach dem 20.Juli 1944. Er kam ins Konzentrationslager Dachau. Im April 1945 wurde er auf den Todesmarsch geschickt, von dem er entkommen konnte.
Bilder aus Dachau
Auch die Sozialdemokraten waren bemüht, Informationen über das Konzentrationslager Dachau zu sammeln. Da sie die revolutionären Illusionen der Kommunisten nicht teilten, ging es ihnen noch stärker als diesen um die Information des Auslands. In den sogenannten "Grünen Berichten" der Exil-SPD, die auf Mitteilungen von Vertrauensleuten im Reich beruhten, tauchte der Name "Dachau" häufig auf. Der Münchener Sozialdemokrat Hans Heiß war Mitglied der sozialdemokratischen Widerstandsgruppe "Rote Rebellen", die sich im Stadtteil Ramersdorf um den Reichsbahnarbeiter Franz Faltner gebildet hatte, der mit dem vom tschechischen Exil aus den Widerstand koordinierenden Waldemar von Knoeringen in Verbindung stand.
Heiß kam auf die Idee, es müsse besonders überzeugend wirken, wenn nicht nur Berichte, sondern auch Bilder aus dem Konzentrationslager Dachau im Ausland publiziert werden könnten4. Zu diesem Zweck begann er regelmäßig nach Dachau zu fahren und Bekanntschaften mit jungen Frauen zu schließen, die wiederum Kontakte zu SS-Leuten hatten. Auf diese Weise kam er schließlich in den Besitz des bekannten Photos, das Häftlinge zeigt, die wie Zugtiere eine Straßenwalze ziehen. Von Speisewagenkellnern der Mitropa, die zum konspirativen Verbindungsnetz gehörten, wurde das Bild ins Ausland geschmuggelt und in der sozialdemokratischen Exilpresse publiziert. Die "Roten Rebellen" flogen allerdings im Juni 1935 auf. Gegen Heiß lagen nicht genug Beweise vor, um eine Verurteilung wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu rechtfertigten, jedoch wurde er in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert, aus dem er erst im Frühjahr 1938 wieder freikam.
Botschaften an den Vatikan
In eben diesem Jahr 1938 erhielt der damalige Rechtsreferendar Otto Gritschneder einen kurzen Einblick in das Lagergeschehen, und zwar als Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft von Nachwuchsjuristen, die von Kommandant Hans Loritz persönlich durch das Lager geführt wurden5. Er erläuterte den Referendaren, wie vorzüglich hier alles geregelt sei. In seinen Memoiren erinnert sich Gritschneder aber an den Anblick schrecklich abgemagerter Häftlinge und hält weiter fest:
"Der an militärische Schikanen erinnernde Bettenbau in den Baracken war natürlich bestens. In den Judenbaracken durften die Fenster nicht geöffnet werden, denn für Juden sei die stinkige Luft gerade das Richtige."
Irgendwelche Brutalitäten hätten die Besucher nicht zu Gesicht bekommen, Fragen nach den Rechtsgründen für die Gefangenschaft hätten sie selbstverständlich nicht stellen können.
Jeder habe aber gewußt, "daß hier Leute ohne Gerichtsurteil und ohne jede Verteidigungsmöglichkeit auf unbestimmte Dauer schikaniert und gefoltert wurden, und daß viele diese höllische Haft nicht überlebten. Ich habe mir die Zahl der Baracken gemerkt und aus den Einzelheiten, die ich sonst noch beobachten konnte, einen Bericht zusammengestellt, den ich einem Jesuitenpater gab, der ihn nach Rom in ein vatikanisches Büro brachte."
Ob diese Informationen in irgendeiner Weise weiterwirkten, ist unbekannt. Als aber ab Ende 1940 die in Konzentrationslagern inhaftierten Priester in Dachau zusammengeführt wurden - insgesamt 2720 Geistliche aus 20 Nationen, wobei die Polen mit mehr als zwei Dritteln die weitaus größte Gruppe bildeten -, gewann das Konzentrationslager Dachau für die katholische Kirche besondere Bedeutung. Zwei Münchener Priester, Michael Höck, Redakteur der Kirchenzeitung, und Johannes Neuhäusler, der Material über antikirchliche NS-Aktionen sammelte, wurden 1941 als Sonderhäftlinge ins Dachauer Lagergefängnis verbracht.
Aber nicht nur im Zusammenhang mit dem Kirchenkampf erhielt Dachau verstärkte Aufmerksamkeit von katholischer Seite, sondern auch im Kontext der Bemühungen der Münchener Jesuiten, die Kirche zu entschiedeneren Schritten gegen die NS-Verbrechen zu bewegen. Aufklärung über die Verhältnisse im Konzentrationslager Dachau war dabei eine buchstäblich naheliegende und wichtige Aufgabe. Lothar König SJ und der süddeutsche Jesuitenprovinzial Augustin Rösch konnten sich in den Besitz von über 2000 Leichenschauscheinen aus den Jahren 1938 bis 1943 bringen und verfügten darüber hinaus über heimlich photographierte Totenlisten des Standesamtes Dachau II vom April 1942 bis Juni 1943. Die Jesuiten erstellten einen Bericht, der die Gesamtzahl von 10543 Opfern seit Kriegsbeginn nannte und außer statistischen Daten auch zwei Augenzeugenberichte präsentierte, in denen Lebensverhältnisse, Strafen und auch pseudomedizinische Versuche angesprochen wurden. Die Historikerin Antonia Leugers stellt dazu fest:
"Daß die Bischöfe und der Papst spätestens nach diesen Berichten zuverlässig über die menschenunwürdigen Zustände im Konzentrationslager Dachau informiert waren, dürfte ... feststehen. Daß sie über die wenigen allgemeinen Bemerkungen im Dekalog-Hirtenbrief hinaus nichts darüber öffentlich machten, gehört zu dem, was Rösch mit seiner Kritik andeutete, die Bischöfe hätten ja 'entsetzlich geschwiegen zu so Vielem und Furchtbarem'."6
Nach dem Krieg
Als die US-Armee am 29. April 1945 das Konzentrationslager Dachau befreite, wurde das ganze Grauen offenbar. Die amerikanische Besatzungsmacht war angesichts des Unfaßbaren darauf bedacht, die deutsche und internationale Öffentlichkeit umgehend mit diesen Tatsachen zu konfrontieren. Auch eine Reihe von Überlebenden publizierte bald nach der Befreiung ihre Erlebnisse. Andere brauchten lange Zeit, bis sie sich im äußeren Leben neu eingerichtet hatten und oft eine noch längere seelische Inkubationszeit, bis sie zu dieser Vergangenheit zurückkehren konnten. Daß auch die unter großen Risiken unternommenen Bemühungen des Widerstands zur Aufklärung über das Konzentrationslager Dachau oft keine unmittelbare Kontinuität fanden, zeigt ein Aufsatz des Jesuitenpaters Max Pribilla in der ersten Nachkriegsnummer dieser Zeitschrift, in der er sich mit dem "Schweigen des deutschen Volkes" zu den Konzentrationslagern auseinandersetzte7. Das Schweigen der Kirche führte er darin unter anderem auf einen "Mangel an handfestem beweiskräftigem Material" zurück. Die Dokumente und Recherchen der Münchener Jesuiten wurden erst Mitte der 90er Jahre wiederentdeckt.
In dieser eigentümlichen Gemengelage aus Erinnern und Vergessen entstand die KZ-Gedenkstätte Dachau. Hierbei wuchs einem Mann eine Schlüsselrolle zu, der schon Anfang der 30er Jahre als junger Kommunist Beimlers Dachau-Broschüre illegal verbreitet hatte, und dann nach zweieinhalbjähriger Untersuchungs- und Strafhaft als verurteilter Hochverräter von der Gestapo im Februar 1938 ins Konzentrationslager Dachau eingewiesen wurde. Otto Kohlhofer8 verbrachte dort und im Außenlager Kottern fast sieben Jahre, kam dann in eine sogenannte Bewährungseinheit und erlebte das Kriegsende als Deserteur in Böhmen. Er wurde Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, der Häftlingsvereinigung, die heute Max Mannheimer führt.
Durch eine glückliche Fügung erhielt Kohlhofer Anfang der 50er Jahre eine Stelle im bayerischen Landwirtschaftsministerium, dessen Chef Minister Alois Hundhammer 1933 im Zusammenhang mit der Zerschlagung der konservativ-katholischen Bayerischen Volkspartei ebenfalls einige Wochen im Konzentrationslager Dachau inhaftiert gewesen war. Versuche der SS, die Kommunisten gegen ihn aufzuhetzen, waren damals von besonnenen KPD-Leuten konterkariert worden. Hundhammer trat in den 50er Jahren mehrfach als Repräsentant der bayerischen Staatsregierung bei Gedenkfeiern in Dachau auf. Als sich 1955 das "Comité International de Dachau" (CID) in unmittelbarer Anknüpfung an die internationale Häftlingswiderstands-Organisation vom April 1945 mit dem Ziel der Errichtung einer Gedenkstätte neu konstituierte, wurde Kohlhofer dessen "Sécretaire International" und Beauftragter für Deutschland. Sein Dienstherr Hundhammer übernahm 1959 den Vorsitz des bayerischen Kuratoriums für die Errichtung der Gedenkstätte, dem unter anderem auch der nunmehrige Weihbischof Johannes Neuhäusler9 und der bayerische DGB-Vorsitzende und ehemalige sozialistische Widerstandskämpfer Ludwig Linsert angehörten.
Erst im Jahr zuvor hatte Hundhammer von diesem erfahren, daß mit Kohlhofer eine Schlüsselfigur dieses Vorhabens Angestellter seines Ministeriums war. Hundhammer ermöglichte Kohlhofer, ungeachtet dessen Zugehörigkeit zur inzwischen in der Bundesrepublik verbotenen KPD, einen Teil seiner offiziellen Arbeitszeit für die CID-Aktivitäten zu verwenden. Von 1964 an arbeitete Kohlhofer ausschließlich für die Errichtung der Gedenkstätte und konnte dafür über ein eigenes Büro im Landwirtschaftsministerium verfügen. Auch konnte er Ruth Jakusch als Mitarbeiterin einstellen, die dann von 1965 bis 1975 als erste Leiterin der Dachauer Gedenkstätte fungierte. Seit 1964 gehörte auch Barbara Distel zum Gründungsteam, die von 1975 bis 2008 als Leiterin die Arbeit der KZ-Gedenkstätte entscheidend prägte.
Gedenken als Erinnerung und Bildung
Die KZ-Gedenkstätte Dachau ist dem Gedenken aller Opfer des NS-Terrors in dem einstigen Lager gewidmet, aber die entscheidenden Anstöße für ihre Entstehung kamen von den weltanschaulichen und politischen Gegnern des Nationalsozialismus. Manche von ihnen, wie etwa Otto Kohlhofer, setzten damit die im politischen Widerstand begonnene Aufklärung über das Konzentrationslager Dachau als Bildungs- und Erinnerungsarbeit fort. Die ungewöhnliche Beziehung des erzkonservativen Hundhammer und des Kommunisten Kohlhofer verdeutlicht, daß das Anliegen der Erinnerung an die Verfolgung im Konzentrationslager Dachau tiefe weltanschauliche Gräben überspannte10. Die Grundüberzeugung, daß sich die Erfahrung von Dachau nicht wiederholen dürfe, hat immer wieder geholfen, grundsätzliche ideologische Divergenzen zu überbrücken. Der Konsens war weder leicht herzustellen - Otto Kohlhofer erwies sich hier mit seiner gewinnenden Persönlichkeit oft als entscheidender Brückenbauer - noch für alle Zeiten garantiert.
Heute, wo diese Überzeugung in staatlichen und Stiftungsstrukturen fest verankert ist, muß man sich vielleicht weniger Sorgen um einen bestandsgarantierenden Konsens hinsichtlich der Gedenkstätte machen als vielmehr darüber, ob es auch künftig gelingen wird, den ihrer Entstehung zugrundeliegenden aufklärerischen, moralischen und politischen Impuls lebendig zu halten. Ebenso stellt sich die Frage, ob man in München mehr als 60 Jahre nach Kriegsende Wege zu einem angemessenen NS-Opfergedenken finden wird. Die "Schlußstrichapostel" sind heutzutage kleinlaut geworden; inzwischen haben sie wohl selbst über vielen Stammtischen die Lufthoheit verloren. Größere Sorgen muß man sich wohl angesichts eines Übermaßes an "Unverkrampftheit" machen, das im Umgang mit der NS-Vergangenheit an den Tag tritt und das die Erfahrung der Verfolgten nicht als Richtmaß, sondern als ästhetische oder pädagogische Verfügungsmasse behandelt.
Suche nach neuen Formen des Gedenkens
Den Anschein einer solchen "Unverkrampftheit" gaben die Beratungen der Jury des Münchener Kunstwettbewerbs "Neue Formen des Gedenkens", den die Stadt 2007 ausgeschrieben hatte. Joachim Käppner faßte seine Irritation in ein plastisches Bild, und fragte, ob man sich denn Willy Brandts eindrucksvolle Trauergeste gegenüber den Opfern des Warschauer Gettos auch vorstellen könne, wenn Brandt statt vor dem Gettodenkmal vor einer Laserinstallation oder einem Mobiltelefon auf die Knie gefallen wäre11. Anlaß zu diesem paradox erscheinenden Vergleich waren die Entwürfe, für die sich die Mitglieder der Jury aussprachen.
Eines dieser Projekte, "Memory Loops - Schleifen über der Stadt", sieht vor, über eine kostenlose Handyverbindung von Schauspielschülern gelesene Zeitzeugenberichte über nationalsozialistische Verfolgung in München abrufbar zu machen. Erwägenswert schien der Jury auch die Idee eines anderen Künstlers: einen Innenstadtkindergarten mit versenkbaren Metallwänden zu umgeben, die in der Nacht hochgefahren werden und das Gebäude so verbergen sollten. Das Bild jungen Lebens und sein Verschwinden durch die Ermordung sollten so assoziiert werden. Ein dritter Vorschlag, der ernsthaft diskutiert wurde, sah vor, auf der Münchener Pinakothek der Moderne eine Leuchtschrift mit dem Text "Auschwitz ist menschlich" zu installieren. Dieser Satz, so hieß es, biete "es der Kunst an, eine emanzipatorische, erhabenheitsauflösende Stellung zu beziehen".
Was an Auschwitz "erhaben" sein soll, bleibt allerdings rätselhaft. Und ob es emanzipatorisch ist, die Banalität, daß Mörder und Ermordete in Auschwitz gleichermaßen dem Menschengeschlecht angehörten, herauszustellen, kann man nicht nur bezweifeln, man muß dem vielmehr sogar entschieden widersprechen. Denn wer den nationalsozialistischen Massenmord auf eine so hohe Abstraktionsebene hebt, daß der Unterschied zwischen Tätern und Opfern nicht mehr kenntlich ist, der handelt gewiß nicht emanzipatorisch, sondern wandelt auf den Spuren einer Spießerideologie, die dort, wo moralische oder politische Entscheidung gefordert ist, stets die Ausflucht in den allgemeinen Umständen findet - von der zynischen Entwertung der Begrifflichkeit vom Menschen - die im Jiddischen eine besondere Bedeutung hat - und der Menschlichkeit ganz zu schweigen.
Der Ausgangspunkt der Suche nach neuen Formen des Gedenkens war das Unbehagen am vorhandenen Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus, einer Säule mit ewiger Flamme gegenüber dem Platz, an dem einst im Wittelsbacher Palais die Münchener Gestapo residierte. Der "Platz der Opfer des Nationalsozialismus" ist indes kein wirklicher Platz, sondern eher eine begrünte Verkehrsinsel. Doch obwohl er als Gedenkort keine Wirkung entfaltet hat, hat er doch den Vorzug, wenigstens ein konkreter Ort mit einem, wenn auch sehr indirekten historischen Bezug zu sein. Die favorisierten "neuen Formen" zeichnen sich hingegen durch ihre Ortlosigkeit aus.
Einmal ganz abgesehen davon, wie man sich das vorgeschlagene Telephoniergedenken praktisch vorstellen soll, ist eine Handynummer geradezu der Inbegriff der Ortlosigkeit. Bei den "sonischen Spaziergängen über der Stadt" kann man keinem Dritten begegnen. Die Metapher ist verfehlt, weil man bekanntlich von nahezu jedem Punkt der Welt aus telefonieren kann. Obwohl der zweite Vorschlag konkreter verortet ist, ist er dennoch genauso beliebig - ein "Halbtagsdenkmal" ohne konkrete Aussage. Daß ein Kindergarten als Kulisse herhalten soll, ist reine Effekthascherei, denn das Lebensalter ihrer Opfer spielte für die Nationalsozialisten bekanntlich keine Rolle.
Alle Entwürfe entkonkretisieren, enthistorisieren und entpolitisieren das Gedenken. Die Handybotschaften mögen auf eindrucksvollen Texten basieren - ein Mobiltelefon ist nicht das Medium, das für deren konzentrierte Rezeption geeignet ist und schon gar nicht zu einer historischen Einordnung. Klare und eindeutige historische Bezüge zur Stadt, und das heißt auch: örtliche Bezüge, sind nicht erkennbar. Gemeinsam ist vielmehr die Ortlosigkeit, denn auch die Pinakothek der Moderne würde sich nicht in einen Gedenkort verwandeln, wenn auf dem Dach ein zynischer Spruch über Auschwitz prangen würde. Der Ortsbezug macht aber die politische Qualität des Gedenkens aus. Auch in Zeiten des Internets ist die Versammlung an einem Ort ein essentielles Merkmal des Politischen. Hier bezieht man öffentlich Stellung im doppelten Sinn des Wortes, ohne konkrete Orte bleiben Begegnung und Solidarisierung abstrakt.
Gedenken in der Stadt heißt auch, diese als politischen Raum zu gestalten. Dazu sind die Mittel des Hörspiels nicht geeignet. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude zeigte sich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung skeptisch gegenüber den Resultaten des Gedenkkunst-Wettbewerbs:
"Ein Denkmal, das man den größten Teil des Tages nicht sehen kann, gehört gewiß nicht zum politischen Selbstverständnis der Stadt. Ich frage mich beim Gedenken an den Nationalsozialismus: Was erwarten etwa Holocaust-Opfer von uns? Ich kann doch nicht sagen: Deren Bedürfnis nach einem Gedenkort wische ich vom Tisch und interessiere mich nur noch für die Handygeneration."12
Stimmen der Zeit (2009) 29-39