Im Umfeld der Mainzer Erklärung vom Januar 2006 hat die CDU eine "Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit" entdeckt - und das gleich vier Mal: als Chancen-, Generationen-, Leistungs- und Familiengerechtigkeit1. Die Partei suchte offensichtlich auf die überraschende Entscheidung der Wählerinnen und Wähler bei der vorgezogenen Bundestagswahl vom September 2005 zu reagieren, nachdem diese sich sowohl gegen das marktradikale Angebot einer schwarz-gelben Koalition als auch gegen eine Fortsetzung der Agenda 2010 ausgesprochen hatten. Immerhin hatten zu Beginn des Jahres 2005 auf die Frage: "Hat die soziale Gerechtigkeit während der letzten drei bis vier Jahre in Deutschland abgenommen?" 80 Prozent der Befragten mit "Ja" geantwortet.
Die Entdeckung der Gerechtigkeit in der politischen Auseinandersetzung ist indessen nicht neu. Bereits im Sommer des Jahres 2000 hatte Wolfgang Thierse festgestellt: "Die Gerechtigkeitsfrage ist in die Gesellschaft zurückgekehrt."2 Er konnte sich damals auf programmatische Reden führender Parteienvertreter sowohl der SPD als auch der CDU beziehen, die mit einer normativ aufgeladenen Rhetorik für die von ihnen angestrebten politischen Veränderungen warben. Sowohl die damalige als auch die neu aufgelegte Gerechtigkeitsdebatte wirkt inhaltlich ziemlich leer oder diffus. Friedrich A. von Hayek würde sich bestätigt fühlen, hat er doch wiederholt erklärt, daß das Wort "soziale Gerechtigkeit" für eine Gesellschaft freier Menschen überhaupt keinen Sinn mache; es sei "nichts anderes als eine völlig nichtssagende Formel"3. Der Bundesverfassungsrichter Udo Steiner polemisierte im März 2005 gegen eine verkürzte Deutung: "Die Deutschen sind gleichheitskrank"4; sobald ein anderer mehr habe als er selbst, werde dies als ungerecht empfunden.
Parteien-Gerechtigkeit
Wer sich die Mühe macht, die zahlreichen Stellungnahmen der parteipolitischen Eliten zu sortieren, kann sechs Merkmale ihrer Ansichten von Gerechtigkeit identifizieren.
Erstens seien die herkömmlichen Begriffe der Gerechtigkeit den großen Herausforderungen der Globalisierung, des demographischen Wandels und der technischen Veränderungen nicht mehr gewachsen. Deshalb solle die neue Gerechtigkeit modern und zeitgemäß an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepaßt werden.
Zweitens sollten sich die Deutschen von der Verteilungsgerechtigkeit verabschieden. Diese sei nämlich auf die Umverteilung materieller Güter oder finanzieller Mittel sowie die Gleichheit der Ergebnisse fixiert. Materielle Güter würden angesichts des wachsenden Wohlstands in Deutschland nicht mehr stark nachgefragt. Außerdem seien die öffentlichen Haushalte überfordert, um alle sozialen Leistungsansprüche, mit denen sie konfrontiert sind, zu bedienen. Schließlich könne der Sozialstaat gerade jene persönliche Zuwendung nicht bieten, die von den Benachteiligten in erster Linie erwünscht wird.
Drittens laute der neue Name für Gerechtigkeit Chancengleichheit - ein allgemeiner und gleicher Zugang zu Bildungsgütern und zur Beteiligung an der gesellschaftlichen Arbeit. Bildung sei der Hauptschlüssel gesellschaftlicher Integration; irgendeine Arbeit sei besser als keine; sozial sei, was Arbeit schafft.
Viertens dürfe Gerechtigkeit nicht mit Gleichheit verwechselt werden. Mehr Ungleichheit könne durchaus gerecht sein. Wenn die individuellen Bedürfnisse der Menschen, insbesondere ihr Verlangen nach Freiheit stärker berücksichtigt werden, sei es ein Gebot der Gerechtigkeit, die unterschiedlichen Talente und Leistungen stärker anzuerkennen und zu fördern. Für die Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft komme es entscheidend darauf an, daß die vorhandenen Talente mobilisiert und der Leistungswille der Bevölkerung angeregt werden. Eine ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen sei folglich gerecht, weil sie persönlich verdient und gesellschaftlich verdienstvoll ist. Je gespreizter die Einkommens- und Vermögensverteilung, um so größer seien auch das Leistungsniveau und Leistungspotential der Wirtschaft, so daß es am Ende für alle mehr zu verteilen gibt. Die Gerechtigkeit, die unterschiedliche Begabungen und Leistungen berücksichtigt, heiße Leistungsgerechtigkeit. Und die Steuerungsform der Leistungsgerechtigkeit sei der Markt. Wie die Demokratie als politische Ordnung der Freiheit angesehen wird, so könne die Marktwirtschaft als eine Ordnung der Freiheit gelten. Die primäre Verteilung der Einkommen und Vermögen am Markt gemäß dem Äquivalenzgrundsatz belohne die Eigeninitiative und Übernahme von Eigenverantwortung. Der Markt- oder Tauschgerechtigkeit solle demnach Vorrang vor der Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit eingeräumt werden.
Fünftens richte sich die Kritik an der Verteilungsgerechtigkeit auch und vor allem gegen den Sozialstaat. Dieser sei überzogenen Erwartungen ausgeliefert, als könne er gesellschaftliche Risiken erschöpfend absichern. Ein bürokratisch überwucherter Sozialstaat habe die Hilfebedürftigen entmündigt und ihrer Eigeninitiative beraubt. Er habe zivilgesellschaftliche und familiäre Formen der Solidarität ausgehöhlt und verdrängt. Deshalb sollte ein "aktivierender Staat" auf seine Kernaufgaben reduziert werden. Dieser könne den zivilgesellschaftlichen Kräften mehr Raum geben, sich selbst zu organisieren und die eigenen Talente zu entfalten.
Sechstens hätten die demographische Entwicklung und die hohe offene bzw. verdeckte Staatsverschuldung den Generationenvertrag außer Kraft gesetzt und einen dramatischen Konflikt zwischen den Generationen heraufbeschworen. Indem die wirtschaftlich aktive Generation zu "Zechprellern an den eigenen Kindern" geworden sei, werde die Generationengerechtigkeit verletzt.
Behutsame Korrekturen
Die öffentlichen Debatten um den Begriff der Gerechtigkeit atmen häufig den Pulverdampf parteipolitischer Profilierung. Sie bedürfen behutsamer Korrekturen. So beziehen sich gesellschaftliche Verteilungsregeln nie bloß auf materielle Güter oder Güter überhaupt, sondern in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären auf Lebenschancen, Machtmittel, soziale Anerkennung und wirtschaftliche Verfügungsrechte. Verteilungsfragen bilden weiterhin den Kern der Gerechtigkeitsfrage.
Die Vorliebe, die dem Begriff der Chancengleichheit beim Zugang zu Bildungsgütern gilt, ist wenig begründet, solange etwa den Frauen, obwohl sie meist höherwertige Bildungsabschlüsse vorweisen können, gleichrangige Chancen verwehrt sind, wie die Männer eine sinnvolle, gesellschaftlich anerkannte und sichere Erwerbsarbeit zu finden.
Einkommens- und Vermögensunterschiede sind neidlos anzuerkennen, soweit sie durch persönliche Talente und Anstrengungen verdient wurden. Die tatsächliche Verteilung der Einkommen und Vermögen in Deutschland ist jedoch vorrangig auf den sozialen Status der Eltern, auf sexistische Rollenmuster, gesellschaftliche Beziehungen und wirtschaftliche Machtverhältnisse zurückzuführen.
Die Grundsätze der Tausch- und Marktgerechtigkeit, die dem Maßstab strenger Äquivalenz folgen, sind dem Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit faktisch nachgeordnet. Denn bei jedem Tausch von Gütern wird unterstellt, daß die Marktpartner berechtigt sind, über die getauschten Güter zu verfügen. Dagegen könnte eingewendet werden, daß die rechtmäßige Verteilung der Güter vor dem Tauschvorgang aus früheren Tauschakten resultiert. Wird jedoch die Kette der Marktbeziehungen immer weiter zurückverfolgt, endet die Reihe bei einer als gerecht unterstellten Ausgangsverteilung. Also liegt die Verteilungsgerechtigkeit der Tauschgerechtigkeit auch logisch voraus. Die Argumente für eine Deutung der "Gerechtigkeit als Tausch"5 sind wohl nur überzeugend, wenn ethische, anthropologische und sozialgeschichtliche Reflexionen kombiniert werden und ein "sozialgeschichtlich sensibler Tauschbegriff" unterstellt ist. Das Szenario unfreiwilliger Tauschakte zwischen Partnern, die gewalttätig vorgehen oder übervorteilt werden, so daß Ansprüche auf Wiedergutmachung entstehen, ist singulär. Die sozialgeschichtliche Rekonstruktion ursprünglicher Familien, Gemeinden oder Arbeitswelten, die nachträglich durch die Gesellschaft, den Staat oder den Kapitalismus "enteignet" worden wären, so daß sie dafür entschädigt werden müßten, erscheint extrem artifiziell. Und schließlich ist in einer arbeitsteiligen Wirtschaft das Kriterium der strengen Äquivalenz nicht präziser abgrenzbar als das des Bedarfs.
Die Zivilgesellschaft taugt nicht dazu, das sozialpolitische Vakuum, das ein Wettbewerbsstaat hinterläßt, zu füllen. Zivilgesellschaftliche Initiativen bilden den Klassencharakter der Gesellschaft ab. Sie setzen sichere Arbeitsplätze, Einkommen und Partnerbeziehungen voraus. Sie orientieren sich milieuabhängig und interessenbezogen an sportlichen und kulturellen Vorlieben. Unternehmen als zivilgesellschaftliche Akteure verfolgen zu Recht in erster Linie betriebliche und wirtschaftliche Interessen. Sie sind keine Adressaten von Grundrechtsansprüchen.
Der Begriff der Generationengerechtigkeit bleibt bezüglich seiner Bestandteile sowohl der Gerechtigkeit als auch der Generation ziemlich vage. Die Gerechtigkeit regelt Rechte und Pflichten real existierender Personen und Personengruppen. Als solche Rechtsträger können zukünftige Generationen nicht identifiziert werden. Das Wort "Generation" läßt in einer Großfamilie, in Bildungseinrichtungen, bei gemeinsamen Erlebniswelten und in der Sozialversicherung sehr unterschiedliche Sinnhorizonte anklingen6. Die familiäre Geschlechterfolge von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind kann nicht auf die moderne Arbeitsgesellschaft übertragen werden. So ist in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft die biologische Zusammensetzung der Bevölkerung nicht die Schlüsselgröße wirtschaftlicher Leistungskraft. Die Altersstruktur spielt gegenüber den Wachstumserwartungen, dem Beschäftigungsgrad und der Produktivität eine nur nachrangige Rolle. Denn unabhängig vom Lebensalter hat die Gruppe der Erwerbstätigen ein Volkseinkommen zu erwirtschaften, das für den eigenen Lebensunterhalt wie auch für den der nicht Erwerbstätigen ausreicht.
Drei Einsichten
Aus den politischen Auseinandersetzungen um den Begriff der Gerechtigkeit lassen sich drei positive Einsichten gewinnen.
Erstens: Die Frage der Gerechtigkeit als Ordnungsform der Gesellschaft ist Gegenstand einer gesellschaftlichen Verständigung. In traditionellen Gesellschaften waren die Sphären der Wissenschaft und Wirtschaft, des Rechts und der Politik von einer einzigen, allgemein verbindlichen Religion bzw. Moral zusammengehalten. Galileo Galilei unterwarf sein Wissen noch der päpstlichen Glaubensdoktrin. Kaiser Heinrich IV. trat noch den Gang nach Canossa an, um im Amt zu bleiben. Und König Heinrich IV. von Navarra war Paris noch eine Messe wert. Derselbe Glaube und die gemeinsame Moral umklammerten die Gesellschaft, orientierten das individuelle Handeln, stifteten kollektive Identität und verpflichteten alle auf das Gemeinwohl. In modernen Gesellschaften ist ein solcher Bezug auf inhaltlich vorgegebene, einheitliche Wertmuster, dem allgemein verbindliche Normen entnommen werden, nicht mehr möglich. Es gibt keinen außenstehenden Beobachter und neutralen Schiedsrichter, dem das Urteil über das, was gut und gerecht ist, überlassen werden kann. Es können auch nicht die Angehörigen einer Teilgruppe der Gesellschaft die eigenen Vorstellungen des guten Lebens, die ihrer Gruppenidentität entsprechen, den Angehörigen anderer Gruppen verpflichtend vorschreiben. Vielmehr sind die Mitglieder moderner Gesellschaften gehalten, sich über die gemeinsamen normativen Überzeugungen über das, was sie einander schulden, zu verständigen.
Zweitens: Normative Grundsätze sind keine Naturgesetze. Sie fallen nicht fertig vom Himmel, "lassen sich nicht melken", wie Oswald von Nell-Breuning gern formulierte. Sie werden kollektiv entworfen, situativ ausgelegt und kreativ angewendet. Die Güterverteilung in der antiken Stadt, der geordnete Umgang der mittelalterlichen Christen mit den verfügbaren Gütern im Einklang mit der göttlichen Weltordnung, die Empörung der Bürger über die Freiheitsberaubung durch absolute Monarchen, der Protest notleidender Arbeiter gegen die Übermacht kapitalistischer Unternehmer und schließlich die Spannung zwischen gleichen Freiheitsrechten und berechtigten wirtschaftlichen Ungleichheiten sind ein Beleg dafür, daß normative Grundsätze auf eine jeweils andere gesellschaftliche Situation antworten, die das kollektive Handeln herausfordert.
Drittens: Die Formulierung normativer Grundsätze ist nicht ein bewußtlos und ohnmächtig ausgelöster, automatischer Reflex der Anpassung an biologische, ökonomische oder technische Megatrends. Deshalb könnte eine auf die Situation antwortende Norm der Gerechtigkeit auch ein innovativer Gegenentwurf sein, der den Trend einer zunehmenden Ungleichheit der Gesellschaft durchbricht, die durch frühere politische Entscheidungen ausgelöst worden ist. Wer beispielsweise die Hauptströmung eines Flusses, die er beobachtet, zum unabweisbaren Trend erklärt, dem die normativen Grundsätze lediglich anzupassen sind, verzichtet auf politische Gestaltungsmacht und kreativen Gestaltungswillen. Er gleicht einem Menschen, der zuerst das Wehr hochzieht und sich anschließend wundert, daß er im reißenden Strom den Halt verliert.
Suche nach dem, was gerecht ist
Die erwähnten drei Einsichten sind der Horizont, der die mehr als 2000jährige Suche nach dem, was gerecht ist, offen oder verdeckt begleitet hat. Aristoteles meint, daß die Gerechtigkeit alle anderen Tugenden überragt, weil sie sich auf andere bezieht und der Inbegriff moralischer Vollkommenheit ist: "Weder der Abendstern noch der Morgenstern sind so wunderschön."7 Sie wird von Thomas von Aquin unter die vier Kardinaltugenden gezählt. Aber der einzigartige Rang der Gerechtigkeit liegt wohl darin begründet, daß sie als die Grundnorm der politischen Ordnung gilt.
Für Platon besteht die Gerechtigkeit darin, das "Seinige zu tun", bzw. daß "jeder das Seinige und ihm Zukommende hat und tut". Diese Formel geht, wie Platon gesteht, auf den Dichter Simonides zurück, "jedem das zu geben, was ihm geschuldet ist", bzw. "was ihm zukommt"8. Der römische Rechtsphilosoph Ulpian wird später daran anknüpfen, wenn er die Gerechtigkeit als "beständigen und entschlossenen Willen, jedem sein Recht zu geben"9 (in der Kurzform: "Jedem das Seine") definiert. Der erste Bezugspunkt dessen, was einem zukommt, ist nach Platon die griechische Stadt, die wohlgeformte Gesellschaft, in der die Stände der Krieger, der Regierenden, der Kaufleute und der Weisen genau das tun, was ihnen angemessen ist, was ihren Talenten, ihrer Aufgabe und ihren Funktionen entspricht. Als zweiten Bezugspunkt nennt Platon die harmonische Ordnung der Seelenkräfte, nämlich der vernünftigen Einsicht, des Mutes und der klugen Überlegung. Wie eine Stadt in guter Verfassung und gerecht ist, wenn die Stände funktionsgerecht operieren, so ist der Mensch gut, glücklich und gerecht, wenn er seine Seelenkräfte in der Balance hält.
Aristoteles präzisiert die bei Platon unterschwellige Unterscheidung zwischen einer allgemeinen Gerechtigkeit, dem Sammelnamen für alle Formen moralisch richtigen Handelns, dem vollständigen Gehorsam gegenüber dem geschriebenen (und ungeschriebenen) Gesetz und einer speziellen Gerechtigkeit, die sich beide wie das Ganze zum Teil verhalten. Die partikuläre Gerechtigkeit tritt in zwei Varianten auf: als Verteilungsgerechtigkeit und als ausgleichende Gerechtigkeit. Die Verteilungsgerechtigkeit regelt die angemessene Zuteilung von Gütern, Ämtern, Ehren und Vorteilen in einer Gesellschaft. Als Zuteilungskriterium gilt ein geometrisches Verhältnis zwischen den verteilten Gütermengen und den Verdiensten der Personen. Beispielsweise ist das Verhältnis der Gütermengen x und y dem Verhältnis der Würde der Personen A und B gleich. Dagegen gilt für die ausgleichende Gerechtigkeit im freiwilligen oder unfreiwilligen Tausch (Diebstahl, Raub) das streng arithmetische Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ohne Ansehen der Person 10.
Thomas von Aquin hat zum einen die Präzisierungen des Aristoteles in bezug auf den Begriff der Gerechtigkeit übernommen. Zum andern bezog er die irdische Gerechtigkeit auf die Idee des christlichen Gottes von einer wohlgeordneten Welt und personifizierte damit das antike Naturgesetz in der Gestalt eines göttlichen Gesetzgebers. Die von Gott gedachte und vorgestellte Weltordnung spiegelt sich in der irdischen Gesetzgebung eines verantwortlichen, gläubigen Monarchen, der weise Gesetze erläßt. Die gehorsame Orientierung des gläubigen Christen an einem solchen Gesetz nannte Thomas, an Aristoteles angelehnt, "Allgemeine Gerechtigkeit" oder "Gesetzesgerechtigkeit".
Indem moderne Gesellschaften sich zunehmend aus der religiös-kirchlichen Verankerung lösten und in funktionale Teilsysteme ausdifferenzierten, zerbrach die in einer religiös gebundenen Welt plausible Vorstellung, daß die irdische Gerechtigkeit im schöpferischen Willen eines göttlichen Gesetzgebers verankert werden könne. Seitdem war eine Verständigung über verbindliche Normen der Gerechtigkeit nicht mehr vorgängig zu einem gesellschaftlichen Dialog, sondern nur mehr in dessen Verlauf möglich. Politisch wurde das absolutistische Regime von Gottes Gnaden durch die Französische Revolution der Bürger entmachtet, die ihre Entrechtung nicht mehr als gottgewollte gerechte Ordnung akzeptierten. Im Zug der industriellen Revolution, als die Masse der Arbeiter in beispielloses wirtschaftliches und soziales Elend getrieben wurde, brach die Idee einer wohlgefügten Gesellschaftsordnung und eines inhaltlich vorgegebenen Gemeinwohls vollständig zusammen.
In den Ruf nach "sozialer Gerechtigkeit" gossen politisch-soziale Bewegungen die normative Antwort auf die niederdrückenden Erfahrungen politischer Entrechtung und wirtschaftlicher Ausbeutung. Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft, als deren gleichberechtigter Teil sich zuerst die Bürger und dann die Arbeiter verstanden, müsse überhaupt erst hergestellt werden. Seitdem markiert der Begriff der sozialen Gerechtigkeit vorrangig einen kritischen Maßstab gesellschaftlicher Verhältnisse und Strukturen.
Kirchlich gebundene Sozialethiker wiesen diese Kampfformel zunächst als sozialistische Gleichmacherei zurück. Sie versuchten, den neuen Begriff in die traditionelle Systematik einzugliedern und entweder mit der gesetzlichen Gerechtigkeit gleichzusetzen oder zwischen der Tausch- und der Verteilungsgerechtigkeit zu verorten11. Mit dem Sozialrundschreiben "Quadragesimo Anno" (1931) ließ Pius XI. die soziale Gerechtigkeit in die kirchliche Verkündigung hereinholen. Der Begriff der "iustitia socialis" tauchte im Kontext der Verteilungsfrage, des Gemeinwohls und der sozialen Liebe auf12. Die deutsche Wortbildung der "Gemeinwohlgerechtigkeit", die den Eindruck vermeiden sollte, daß die soziale Gerechtigkeit der gesetzlichen Gerechtigkeit nachgebildet sei und bloß der Stabilisierung von Systemen diene, hat sich nicht durchgesetzt. In der Folgezeit haben kirchliche Amtsträger den Begriff der "sozialen Gerechtigkeit" als Verteilungsnorm im Klassenkonflikt der Tarifgegner und im weltwirtschaftlichen Nord-Süd-Konflikt, aber auch als Strukturnorm aufgegriffen13. Paul VI. zog eine Trennungslinie zwischen einer statischen Gerechtigkeit innerhalb des positiven Rechts zum Schutz einer bestehenden Ordnung einerseits und der dynamischen, fließenden, sozialen Gerechtigkeit, die eine bestehende Rechtsordnung am Maßstab des Gemeinwohls mißt und reformiert14. Die deutschen Kirchen haben sich in dem gemeinsamen Sozialwort diesen Gerechtigkeitsbegriff, der durch das Adjektiv "sozial" angereichert ist, zueigen gemacht15.
Gerechtigkeit als Gleichheitsvermutung kann als eine angemessene normative Antwort auf die Entdeckung der subjektiven, instrumentellen und autonomen Vernunft im Rahmen einer charakteristischen Selbstdeutung moderner Gesellschaften verstanden werden.
Gleiche Gerechtigkeit
Gegen die Behauptung, daß der Gerechtigkeitsbegriff im Kern eine Gleichheitsvermutung enthalte, werden starke Einwände erhoben. Erstens würden diejenigen, die Gleichheit fordern, übersehen, daß das moralische Subjekt, das normative Regeln als handlungsleitend bejaht, nie der generalisierte Andere, sondern immer die empirisch konkrete menschliche Person ist. Deren elementare Bedürfnisse an denen anderer zu messen, sei jedoch nicht gestattet. Denn sie verfüge über Kompetenzen und Interessen, die einzigartig und ihr zu eigen sind. Folglich ist sie berechtigt, differenzierte gesellschaftliche Positionen zu beanspruchen, die sie sich aufgrund eigener Talente und Anstrengungen erworben hat. Zweitens sei die Gesellschaft nicht die Eigentümerin eines verborgenen Reservoirs, aus dem sie alle individuellen Kompetenzen schöpfen könne. Drittens scheinen die Verfechter des Gleichheitsgrundsatzes darauf zu vertrauen, daß eine aufwendige sozialstaatliche Bürokratie die Gleichheit der Bürger herstellen könne. Folglich stürzten sie die weniger Talentierten während des Rennens um gesellschaftliche Positionen in eine aussichtlose Aufholjagd, die auf einen Ausgleich ziele, der nie erreicht werde. Viertens habe die Gesellschaft kein Mandat, das ihr gestatte, das Schicksal oder die Schöpfung zu korrigieren.
Solchen Einwänden kann mit dem formalen Hinweis auf die Begriffe der Gerechtigkeit und der Gleichheit begegnet werden: Der Begriff der Gerechtigkeit enthält nämlich immer den Bezug zu anderen; folglich läßt er auch den Vergleich mit anderen zu16. Und der empirische Begriff der Gleichheit bedeutet nicht Identität: Selbst Zwillinge sind gleich, aber nicht identisch. Gleichheit ist die qualitative Übereinstimmung von Subjekten oder Sachverhalten in einem Merkmal, während andere Merkmale verschieden sind. In welcher Hinsicht sind zwei Subjekte gleich? Hinsichtlich musischer Talente oder technischer Begabung, hinsichtlich der Herkunft aus einer Region oder hinsichtlich ihrer Kleidung?
Verhältnismäßige Gleichheit ist also ein erster Inhalt der Gleichheitsvermutung. In der programmatischen Forderung: "Gleiches soll gleich, Ungleiches soll ungleich behandelt werden" oder: "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" drückt sich diese Einsicht aus. In der antiken oder mittelalterlichen, feudal gegliederten Gesellschaft wird den einzelnen "das Gleiche" im Verhältnis zu ihren Talenten, Verdiensten, Funktionen und Positionen innerhalb einer wohlgeordneten Stadt oder Gesellschaft zugeteilt. Und den einzelnen gebührt "das Gleiche" an Anerkennung im Verhältnis zum Harmoniegrad ihrer Seelenkräfte. In der neuzeitlichen Moderne ist indessen eine kopernikanische Wende in der Bestimmung verhältnismäßiger Gleichheit vollzogen worden. "Das Gleiche" wird nun im Verhältnis zu sich selbst bestimmt - zum selbstbewußten, selbstbestimmten individuellen Subjekt und seiner Absicht, sich als Person selbst zu verwirklichen und darin eine eigenständige Identität zu finden. Die Gleichheitsvermutung legt sich daraufhin als Grundsatz moralischer Gleichheit aus17.
Moralische Gleichheit besagt, daß jede Person einen moralischen Anspruch darauf hat, mit der gleichen Rücksicht und Achtung behandelt zu werden wie jede andere. Sie ist von einem Standpunkt der Unparteilichkeit und der Allgemeinheit als autonomes Lebewesen zu achten und als Gleiche - nicht gleich - zu behandeln sowie mit einem doppelten Respekt zu würdigen, als generalisierte andere und als unvertretbar einzelne. Der Grundsatz moralischer Gleichheit ist zugleich als eine Verfahrensregel zur Bestimmung des Gerechten - eben unter dem moralischen Gesichtspunkt der Unparteilichkeit und der Allgemeinheit - zu verstehen. Was gerecht ist, wird durch den autonomen Gesetzgeber in eigener Sache festgestellt, nämlich durch die unterstellte Kommunikationsgemeinschaft moralischer Subjekte ohne Grenzen, das "Reich der Zwecke".
Aus dem Grundsatz moralischer Gleichheit läßt sich nicht direkt und unmittelbar eine Gleichheitsvermutung für die Verteilung von Grundgütern, Zugangschancen, wirtschaftlichen Verfügungsrechten und gesellschaftlichen Machtpositionen ableiten. Wer dies versuchen wollte, stolpert in eine politische Moralfalle. Dennoch kann eine Korrespondenz von moralischer Gleichheit und einer tendenziell gleichmäßigen Güterverteilung aufgewiesen werden, indem ein Umweg beschritten wird, nämlich über die demokratische Auslegung gleicher Menschenrechte sowie über die demokratische Aneignung kapitalistischer Marktwirtschaften.
Demokratische Auslegung der Menschenrechte
Die Proklamation gleicher Menschenrechte hat eine geschichtliche Abfolge: Zuerst wurden die individuellen und institutionellen Abwehrrechte gegen mögliche Übergriffe des Staates proklamiert, dann die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungsansprüche auf eine Grundausstattung von Gütern, die zu einem menschenwürdigen Leben erforderlich sind, und schließlich die politischen Beteiligungsrechte, die den Status verantwortlicher Bürgerinnen und Bürgern markieren.
Lange Zeit konnten Menschenrechte auf Männer, Bürger und Rassen begrenzt bleiben, bis feministische, soziale und ethnische Befreiungsbewegungen derartige Diskriminierungen beseitigten. Kapitaleigner konnten sich bürgerlicher Freiheitsrechte, etwa des Rechts auf den laufenden Gewerbebetrieb und des Rechts auf Privateigentum bedienen, um die Ungleichheit der Lebenschancen zu verfestigen, so daß der Anspruch formaler Abwehrrechte von denjenigen gar nicht eingelöst werden konnte, denen ein Mindestmaß materieller Voraussetzungen fehlte. Soziale Grundrechte sind bereits in der Französischen Revolution etwa als das Recht auf Unterhalt für alle hilfsbedürftigen Bürger proklamiert worden. Das herkömmliche System der freiwilligen Almosen und der kirchlichen Armenpflege wurde damit aufgekündigt18. In der Revolution von 1848 und in der Arbeiterbewegung wurde die Trennlinie zwischen sozialen Grundrechten und der Tugend feudaler Mildtätigkeit noch schärfer markiert. Armut und Verelendung wurden weder als Folgen individuellen Versagens gedeutet noch als unentrinnbare Schicksalsschläge hingenommen. Sie galten als Rechtsverletzungen. Folglich pochten in Not geratene Mitbürger auf ihre verbrieften Rechte, statt sich mit barmherzigen Gaben abspeisen zu lassen, und verlangten die Reparatur gesellschaftlich verursachter Schäden.
Aus den Konflikten der Arbeiterbewegung mit den damaligen Herrschaftseliten sind die wirtschaftlichen und sozialen Leistungsrechte formuliert und direkt als Staatsziele oder indirekt als Sozialklauseln verfassungsfest gemacht worden: Jeder Mensch sollte unabhängig von seiner Kaufkraft und seinem Arbeitsvermögen ein menschenwürdiges Leben führen können und vor gesellschaftlicher Ausgrenzung bewahrt werden. Eine dritte Dimension von Menschenrechten wurde eingefordert, als die repräsentativen Demokratien Westeuropas in Parteien-, Verbände- und Verwaltungsdemokratien oder in Verständigungssysteme politischer Klassen abzugleiten drohten. Gleichzeitig mit den Verfahren einer direkten Demokratie klagten zivilgesellschaftliche Bewegungen politische Gestaltungsrechte ein19.
Die geschichtliche Abfolge der jeweiligen Proklamation von Menschenrechten und des Auftretens sozialer Bewegungen mag erklären, daß zuerst die bürgerlichen Freiheitsrechte, dann die sozialen Grundrechte und schließlich die politischen Beteiligungsrechte genannt werden. Folgt man dagegen der logischen Rangfolge, wie sie die Option für die Demokratie als Lebensform nahelegt, dann steht den politischen Beteiligungsrechten der erste Rang zu. "Beteiligung" als neuzeitliche politische Dimension der Gerechtigkeit meint das gleiche Recht einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers, sich an den Prozessen der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung aktiv zu beteiligen und darin selbst zu vertreten. Beteiligungsgerechtigkeit ist in einer polarisierten, gespaltenen Gesellschaft eine Suchbewegung auf diejenigen hin, denen die Mitwirkung an politischen Entscheidungen versagt ist, eine Parteinahme zugunsten der Schwächeren am Rand der Gesellschaft.
Um dieses Beteiligungsrecht zu sichern, ist ein gleicher Mindestanteil am Volkseinkommen und Volksvermögen, also das sozio-kulturelle Existenzminimum einschließlich des Zugangs zu Bildungs- und Gesundheitsgütern zu garantieren, und zwar unabhängig davon, ob Menschen in der Lage oder bereit sind, sich an der gesellschaftlich organisierten Arbeit zu beteiligen. Denn der Wert eines Menschen gründet nicht in seiner Arbeitsleistung, sondern in seiner Würde als Mensch, die keinen Preis hat. Das wirtschaftlich-soziale Recht einer Grundsicherung auf dem Niveau des sozio-kulturellen Existenzminimums verhindert den Ausschluß der Menschen von denjenigen wirtschaftlichen und kulturellen Gütern, die für eine Gesellschaft als unverzichtbar gelten - gemäß dem Grundsatz der Bedarfsgerechtigkeit.
An dieses Recht auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum schließt das gleiche Recht auf Beteiligung an der gesellschaftlich organisierten Arbeit an, der Erwerbsarbeit, die auf absehbare Zeit gesellschaftliche Anerkennung, materiellen Wohlstand und persönliche Identität vermittelt. Es ist ein gleiches Recht auf sinnvolle Arbeit und ein sicheres Einkommen für alle, die arbeiten können und wollen - gemäß dem Maßstab der Leistungsgerechtigkeit. Diese wird in kapitalistischen Marktwirtschaften jedoch nicht material, sondern formal durch das Ergebnis kollektiver Vereinbarungen bestimmt, die zwischen Verhandlungspartnern auf gleicher Augenhöhe getroffen werden.
Demokratische Aneignung kapitalistischer Marktwirtschaften
Menschenrechte und Kapitalismus gelten als ein Kontrast wie Feuer und Wasser. Geschichtlich war die Ausbreitung des Kapitalismus von der Proklamation der Menschenrechte in den genannten drei Dimensionen begleitet. Der Kapitalismus wird einerseits als wirtschaftliches Funktionsgerüst verstanden. Seine Komponenten sind der marktwirtschaftliche Wettbewerb, ein hoher Technikeinsatz aus vorweg geleisteter Arbeit, eine elastische Geldversorgung und eine private Unternehmensorganisation, deren Ziel eine angemessene Güterversorgung ist und deren Markterfolg sich in einer hohen Nettowertschöpfung erweist20. Mehr noch ist der Kapitalismus ein gesellschaftliches Machtverhältnis - mit einer vierfachen Schieflage wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht. Im Unternehmen besteht das Entscheidungsmonopol derer, die Eigentümer der Produktionsmittel sind oder rechtmäßig darüber verfügen. Diese Schieflage der Macht überträgt sich auf die Arbeitsmärkte, auf die Verhandlungspositionen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und die Tarifverträge als Formen friedlicher Konfliktregelung. Auf den Gütermärkten treten die Produzenten meist stärker organisiert und konzentriert auf als die in der Regel atomisierten Verbraucher. Und an der Nahtstelle zwischen der monetären und realwirtschaftlichen Sphäre verfügt das Bankensystem über jene Geld- und Kreditschöpfungsmacht, mit der das Produktionsniveau und die Richtung der Produktion vorweg entschieden werden kann.
Die Funktionsregeln kapitalistischer Marktwirtschaften sind in gesellschaftliche Vorentscheidungen eingebettet - welche gesellschaftlich nützliche Arbeit der Marktsteuerung überlassen wird und welche der privaten Sphäre, ob solche Arbeiten mehr oder weniger geschlechtsspezifisch zugewiesen werden, wie unterschiedlich komfortabel sie entlohnt werden, wie stark gespreizt der Wert einzelner Arbeitsleistungen in einem arbeitsteiligen Produktionsprozeß festgelegt wird und wie die Anteile gesellschaftlicher Vorleistungen und individueller Arbeitsleistungen bewertet werden. In demokratischen Gesellschaften gilt eine Vermutung tendenziell gleichmäßiger Güterverteilung. Die auftretenden Ungleichheiten der Verteilung sollten sich durch Gründe rechtfertigen lassen, die ausschließlich in persönlichen Leistungen, etwa in der Mobilisierung natürlicher Talente oder Energiepotentiale verankert sind.
Der Grundsatz realer Chancengleichheit geht über den einer formalen Chancengleichheit hinaus. Formale Chancengleichheit ist gewahrt, wenn die Startlöcher auf exakt derselben Linie angelegt werden, so daß Menschen ungeachtet ihres unterschiedlichen Leistungsvermögens vom gleichen Startpunkt aus auf das Ziel loslaufen. Reale Chancengleichheit jedoch ist erst dann gegeben, wenn die Individuen ungeachtet ihrer unterschiedlichen Talente und Motivationen nicht nur die gleichen Startchancen für den Lauf, sondern auch effektiv die gleichen Erfolgschancen während des Laufens behalten, indem natürliche Beeinträchtigungen und gesellschaftliche Benachteiligungen fortlaufend korrigiert werden. Beispielsweise garantieren die gleichen Chancen im Bildungssystem noch längst nicht die Chancengleichheit im Beschäftigungssystem. Und gleiche Chancen des Zugangs zu Bildungsgütern oder zur Erwerbsarbeit sind noch keine Garantie gesellschaftlicher Integration. Eine ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ist nur selten ausschließlich auf die Mobilisierung natürlicher Talente und auf besondere Anstrengungen zurückzuführen. Sie könnte es sein, wenn nicht eingespielte Konventionen, Rollenmuster und wirtschaftliche Macht den stärkeren Einfluß ausüben würden. Folglich sind die natürlichen Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen Benachteiligungen, die nicht auf eine unterlassene Mobilisierung natürlicher Talente und fehlende Anstrengungen der Individuen zurückzuführen sind, also die Zufallsergebnisse der natürlichen und gesellschaftlichen Lotterie, gesellschaftlich auszugleichen.
Jene Ungleichheiten, die durch freiwillige Optionen von Individuen verursacht wurden und als voraussehbare Resultate diesen zugeschrieben werden könnten, stehen in demokratischen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften unter einem Schrankenvorbehalt individueller Verantwortung. Zum einen ist nämlich nicht eindeutig zu ermitteln, wie weit jeweils persönliche Verantwortung, natürliche Talente und besondere Anstrengungen einerseits oder gesellschaftliche Verhältnisse anderseits den Zugang zu Gesundheits- und Bildungsgütern oder die Kultivierung und Veredelung des Arbeitsvermögens blockiert haben. Zum andern sind trennscharfe Unterscheidungen zwischen natürlicher Beeinträchtigung und gesellschaftlicher Benachteiligung sowie zwischen privaten Risiken, die auf individuelles Fehlverhalten zurückgehen, und Risiken, die gesellschaftlich bedingt sind, nicht ohne weiteres möglich. Folglich ist eine demokratisch-gesellschaftliche Nachsicht gegenüber den Schwächen individueller Verantwortung und der Fahrlässigkeit persönlicher Lebensstile vertretbar.
Sozialreformen, die den Namen verdienen
Die schwarz-rote Koalition, die in ihrer sogenannten ersten Phase ein Klima des wechselseitigen Vertrauens zwischen den Politikern, die sich früher bekämpft hatten, sowie die Atmosphäre eines wohligen Wir-Gefühls verbreitet hat, scheint sich nun soziale und wirtschaftliche Reformen größerer Tragweite vornehmen zu wollen. Wie kann die Kohärenz moralischer Gleichheit, gleicher Rechte auf politische Beteiligung und einer tendenziell gleichmäßigen Güterverteilung in die Reformprojekte einfließen? Drei Anregungen scheinen dazu erwägenswert zu sein.
Für das erste Reformprojekt, die solidarische Absicherung von Gesundheitsrisiken, deren erwerbswirtschaftliche Grundlage brüchig geworden ist, bietet sich eine erweiterte, "demokratische" Grundlage an, die alle Personen einschließt, die im Geltungsbereich der Verfassung ihren Lebensmittelpunkt haben, und alle Einkommen, die dort entstehen, beitragspflichtig werden läßt. Sie hebt die Grenzen der Beitragsbemessung und der Versicherungspflicht auf, damit nicht die Wohlhabenden sich der Solidarität entziehen. Die solidarischen Leistungen bewegen sich in einem Korridor, der von unten her gesockelt und von oben her gedeckelt ist. Damit sind auch diejenigen, die über kein eigenes Einkommen verfügen, in die Solidargemeinschaft einbezogen, während sich die Wohlhabenden zusätzlich privat absichern können, falls ihnen die Standardleistungen nicht genügen. Die Solidarität der gesundheitlich Starken mit den Schwächeren und die Solidarität der Wohlhabenden mit den weniger Wohlhabenden und Armen sind damit in ein einziges Sicherungssystem integriert.
Ein zweites Reformprojekt bezieht sich auf die gesellschaftliche Gleichstellung und Autonomie von Männern und Frauen. Derzeit allerdings bewegt sich die politische Debatte in einer arbeits- und bevölkerungspolitischen Nebenarena, insofern die akademisierten Frauen zur kontinuierlichen Vollerwerbsarbeit und zum möglichst frühen Kindergebären gedrängt werden. Damit es diesen Frauen leichter gelingt, ihre Berufs- und Familienpflichten zu vereinbaren, werden öffentliche Betreuungseinrichtungen versprochen. Das demographische und ökonomische Gedröhne läßt jedoch die Forderung nach "Geschlechtergerechtigkeit" verstummen. Diese könnte vermutlich besser realisiert werden, wenn erstens drei gesellschaftliche Arbeitsformen, nämlich die herkömmliche Erwerbsarbeit, die private Betreuungsarbeit und das zivilgesellschaftliche Engagement in den Blick geraten; und wenn zweitens diese drei Arbeitsformen fair auf die beiden Geschlechter verteilt werden. Eine erweiterte Erwerbstätigkeit der Frauen sollte also von einer verkürzten Erwerbsarbeit der Männer begleitet sein. Und die Männer sollten gesetzlich und durch finanzielle Anreize dazu gedrängt werden, den ihnen zukommenden Anteil an der privaten Erziehungsarbeit zu übernehmen und darin einen Gewinn an Lebensqualität zu entdecken.
Die demokratisch-solidarische Absicherung gesellschaftlicher Risiken und ein Mehr an Geschlechtergerechtigkeit werden bei gegebener wirtschaftlicher Wertschöpfung massive Verteilungskonflikte auslösen. Deshalb ist ein drittes Reformprojekt, nämlich eine höhere wirtschaftliche Wertschöpfung, aus zwei Gründen erstrebenswert: Zum einen nämlich lebt die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland unter ihren Verhältnissen, solange unzählige vitale Bedürfnisse nicht befriedigt sind und dringende öffentliche Aufgaben unerledigt liegen bleiben, solange hochwertiges Arbeitsvermögen verschlissen und auf ein jährliches Volkseinkommen von mehreren 100 Milliarden Euro verzichtet wird. Zum andern bleibt auf absehbare Zeit die Beteiligung an der gesellschaftlich organisierten Arbeit ein Hauptschlüssel sozialer Integration. Zusätzliche Wertschöpfung und innovative Arbeitsplätze lassen sich in reifen Industriegesellschaften vorwiegend durch die "Arbeit am Menschen", also durch personennahe Dienste in den Sektoren Gesundheit, Bildung, Kultur und Freizeitgestaltung erschließen. Dorthin sollten folglich die Impulse öffentlicher und privater Netto-Investitionen verlagert werden.
In Deutschland wächst derzeit das Gespür für verschärfte sozio-ökonomische Bruchlinien: Die Binnenwirtschaft stagniert, während die Exportdynamik strukturell überhitzt ist. Die Industrie baut Arbeitsplätze ab, in Krankhäusern und Schulen wird unbezahlte Mehrarbeit angeordnet. Private Haushalte sammeln Geldvermögen an, während öffentliche Haushalte stark verschuldet sind. Das Angebot öffentlicher Güter wird reduziert, Privatunternehmen traut man zu, die Lücke zu füllen. Riskante und spekulative Operationen auf den Finanzmärkten erzielen Renditen, die für Investoren in der realwirtschaftlichen Sphäre unerreichbar sind. In einer solchen Situation wachsender Fliehkräfte ist die Neigung der politischen Klasse verständlich, die beobachteten technischen, biologischen und ökonomischen Megatrends als schicksalshaft und unvermeidbar zu begreifen. Ohnmächtige Anpassung scheint sich als vertretbare Reaktion anzubieten. Indem jedoch die Deutung der Gerechtigkeit als Gleichheitsvermutung in soziale Reformprojekte einfließt, kann der normative Gegenentwurf einer Gesellschaft wirksam werden, der den Überschuß demokratischer Erwartungen nicht allein an den Grenzen jener Erfahrungen festmacht, die für die politische Vergangenheit und Gegenwart bestimmend waren.
Stimmen der Zeit (2006) 516-530