Die Debatten über die Toleranzmöglichkeiten von monotheistischen Hochreligionen finden seit einiger Zeit auch in den Feuilletons von Tageszeitungen eine wiederkehrende Beachtung. Unter den zahlreichen Diskussionsteilnehmern haben vor allem die Thesen zweier Wissenschaftler nachhaltige Echos ausgelöst: die des Gießener Philosophen Odo Marquard und des Heidelberger Ägyptologen Jan Assmann.
Auf der Suche nach einer Erklärung
Odo Marquard hat vor Jahren die suggestive Formel ausgegeben: Polymythie versus Monomythie, was heißen soll: der biblische Ein-Gott mit seiner Ein-Wahrheit bedeute die Ermächtigung zu religiöser Allmacht. Dagegen helfe nur eine Gewaltenteilung im Absoluten, und diese Gewaltenteilung werde bewerkstelligt durch das große humane Prinzip der Vielgötterei. Denn wenn es viele Götter gebe, müsse man nicht dem einen Absoluten total parieren; man könne sich, wenn der eine Gott einen exklusiven Dienst verlange, mit dem Dienst für einen anderen Gott entschuldigen.
Marquard geht es um nichts Geringeres als das heutige Hauptproblem: die eine Welt und die vielen Mächte und Gewalten. Denn - so ist uns allen bewußt - um zu Verträglichkeit und Frieden zu kommen und um den "clash of civilisations", den "Kampf der Kulturen" zu vermeiden, ist gefordert, daß niemand gewalttätig eine für alle und für alles absolut gültige Religionswahrheit durchsetzt. Darum Marquards Gewaltenteilung, darum seine Propagierung der vielen Mythen, darum der Abschied vom einen absoluten Gott.
Jan Assmann hat diese Überlegung - so scheint es zunächst - noch weiter verstärkt, indem er seine inzwischen vieldiskutierte Mosaische Wende einbrachte. Erst mit Mose sei die Unterscheidung von "wahr" und "falsch" in die Religion gekommen, was in der Folge Ströme von Blut gekostet habe. Als "Urszene" religiöser Gewalt zitiert Assmann den Mose-Befehl, alle Anbeter des goldenen Kalbes niederzumachen1. Dennoch ist von vornherein klarzustellen: Marquard und Assmann stehen konträr. Marquards Formel lautet: "Das Individuum entsteht gegen den Monotheismus."2 Assmanns Formel lautet: "Der Mensch entwickelt sich in Partnerschaft mit dem ... Einen Gott zum autonomen bzw. theonomen Individuum."3
Mythologie - Ethnologie - Biologie
Bei näherem Zusehen treibt Marquard mit dem an sich höchst berechtigten weltpolitischen Postulat der Religionsverträglichkeit ein Sprachspiel mit der Ethnologie und nimmt dabei die religionssoziologischen Befunde der vielen Mythen letztlich nicht bei ihrer Realität. Denn aller Mythos ist nicht nur "Geschichte der vielen Götter", sondern immer auch "Geschichte des eigenen Volkes". Ethnologisch bedeutet solche mythische Volksgeschichte, folgt man dem am Essener Wissenschaftskolleg tätigen Klaus E. Müller, eine Verabsolutierung des je eigenen Lebenssystems: "Die eigene traditionelle Seinsordnung wird als die einzig vernünftige, bestausgebildete und daher auch (als) allein vertretbare Möglichkeit, kurz als das Nonplusultra menschlicher Lebensverwirklichung aufgefaßt." Das ist die Sicht des Mythos nach innen auf das eigene Volk. Dem korrespondiert eine abwertende Sicht nach außen auf die Anderen: "Außerhalb des Geltungsbereichs der eigenen Kultur können nicht eigentlich Verhältnisse herrschen, die dem entsprechen, was man unter einem menschengemäßen Dasein, unter Moral, Humanität oder Zivilisation versteht."4 Ja, die da draußen sind Untermenschen, Abkömmlinge des Teufels; deshalb sind sie zu meiden und sogar zu bekämpfen.
In der Konsequenz bedeutet das: Angesichts solch mythischer Verabsolutierung des eigenen Volkes gibt es keine Verträglichkeit, keine Toleranz. Im Gegenteil, Stammesreligionen erzeugen generell eine permanente Deklassierung der Anderen und proklamieren immerzu das eigene Bessersein:
"Man lokalisierte sich - die eigene Gruppe, das eigene Dorf - im Zentrum der Welt, erhob den Anspruch, in gerader Linie vom ersterschaffenen Menschen abzustammen, hielt die eigenen Leute für die tüchtigsten, klügsten und schönsten der Menschen, die eigene Kultur als ältestgestiftete auch für die höchstentwickelte."5
Das ist die Weltanschauung des Ethnozentrismus. Bestimmend wirkt hier eine in-group/outgroup-Moral: Sozialität für die Eigenen - Deklassierung, ja Feindschaft gegen die Anderen. Infolgedessen war und ist in Stammeskulturen der Krieg das Normale. Im Blick auf die homerische Welt bestätigt beispielsweise der Althistoriker Georg P. Landmann:
"Gerne geben wir uns der Illusion hin, zwischen Völkern sei Friede der Normalzustand und Krieg nur eine Störung. In Wirklichkeit muß Friede seit je vertraglich geschlossen und bewahrt werden. Wer nicht zur eigenen Gemeinschaft gehört, wer 'draußen' steht, ist zunächst 'echthros', Feind. ... In der Frühzeit gehören Frauenraub, Herdenraub (bei den Anderen) zum Alltäglichen."6
Für die germanische Welt glaubt der Bochumer Religionswissenschaftler Hans- Peter Hasenfratz feststellen zu sollen: "Alles, was außerhalb des Sippenfriedens steht, ist Feind, dazu gehört der 'Unfreie', der von seinem Herrn bußlos erschlagen werden kann." 7 Dem archaischen Recht Alteuropas bestätigt der Kieler Rechtshistoriker Hans Hattenhauer lapidar: "Der Fremde war zugleich der Feind."8 In der frühmittelalterlichen Welt sieht der französische Mediävist Georges Duby eine geradezu "natürliche Feindschaft zwischen den Volksstämmen"9. Man kann diese Feindschaft bis zu den ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts weiterverfolgen. Der amerikanische Historiker Norman Naimark, der den Begriff "ethnische Säuberung" eingeführt hat, schreibt, Ziel solcher Säuberungen sei es immer, das fremde Volk, ob nun ethnisch oder religiös gedeutet, auszurotten und das eigene Territorium zu reinigen, wobei Massenmorde geradezu selbstverständlich würden:
"Seit den Anfängen der dokumentierten Geschichte haben dominierende Völker weniger Mächtige und Gruppen, die sie als untergeordnet und fremd ansahen, angegriffen und von ihrem Territorium verjagt. Homers 'Ilias' ist voller brutaler und schockierender Beispiele dessen, was man ethnische Säuberung nennen könnte; gleiches gilt für die Bibel."10
Die Konzentration auf Volk und Clan erfährt neuerdings noch eine zusätzliche Erhellung durch die Biologie, die feststellt, unsere Gene seien "selbstsüchtig" und bewirkten eine "kin selection" (Verwandtschafts-Bevorzugung). Dem Göttinger Philosophen und Biologen Christian Vogel zufolge resultiert aus unserem uralten stammesgeschichtlichen Erbe das "Prinzip des genetischen Eigennutzes", das zwei unterschiedliche Verhaltensweisen bewirke:
"Einerseits das Mißtrauen, die Ablehnung oder gar die Feindlichkeit gegenüber Nichtverwandten, Fremden und Außenstehenden, und andererseits der Altruismus, die Hilfsbereitschaft und der Opfermut gegenüber Verwandten, uns 'nahestehenden' und vertrauten Menschen." 11
Ein Universalismus, verstanden als Ausrichtung auf das größere Ganze von Welt und Mensch, sei gerade nicht angeboren, so Vogel, sondern müsse der Menschennatur erst abgerungen werden; denn die ethische Zielinstanz "Menschheit" - und die damit verbundenen Prinzipien universaler Menschlichkeit und weltweiter Gleichheit - sei "unnatürlich", keineswegs angeboren und müsse kulturell aufgebaut werden: "Dies zu erreichen setzt eine enorme Kulturleistung voraus, die einer ständig widerstrebenden Natur des Menschen abzutrotzen ist."12 Im Ganzen kann es keinen Zweifel geben: Die Welt der Mythen ist ethnozentrisch und propagiert eine ingroup/outgroup-Moral. Für diese Welt ist Gewalt "natürlich". Polymythie schafft Krieg, nicht Frieden.
Niklas Luhmanns Entwurf
Wie wir uns demgegenüber eine entschränkte, universale Religion vorzustellen haben, läßt sich an einer Typisierung von "Weltreligion" veranschaulichen, wie sie von Niklas Luhmann entworfen wurde. Für Luhmann ist Weltreligion durch Grenzenlosigkeit gekennzeichnet. Universalreligion vermittelt Glaubensinhalte ohne ethnische, völkische oder territoriale Einschränkung:
"Wenn eine Weltreligion angeboten wird, muß auf ethnische oder regionale Abstützungen verzichtet werden. ... Es soll jedermann angesprochen werden, der als Mensch erkennbar ist. ... Weltreligionen nehmen gleichsam die Weltgesellschaft vorweg."13
Als dafür nötige Anforderungen benennt Luhmann: Abstrahierung von familialen, ethnischen oder sonstigen sozialstrukturellen Merkmalen und Deregionalisierung der Götter. Es komme in Religionsangelegenheiten rein auf den Glauben an14. Sofern es aber rein auf den Glauben ankommt, sieht Luhmann zu Recht eine neue Grenze, nämlich die gegenüber den Nichtgläubigen. Das heißt: Weltreligionen schaffen einen Universalismus und überwinden dafür die ethnozentrischen Schranken. Sie laufen aber zugleich Gefahr, statt der volklichen nun neue, rein religiös bestimmte Grenzen zu errichten: nämlich auf der einen Seite Rechtgläubige und auf der anderen Falschgläubige. In dieser Aufteilung kann sich dann die biogenetische ingroup/outgroup-Moral aufs neue aktivieren.
Angesichts dieser Befunde ist festzuhalten: Marquards Ausspielen von Polymythie gegen Monomythie ist ein Wortspiel, täuscht über die "natürliche Feindschaft" der Stammesgesellschaften hinweg und bringt keine Lösung für das Toleranzproblem. Weil die polytheistischen Stammesreligionen als Volks- bzw. Nationalreligionen mit entsprechenden "Volks- und Nationalgöttern" auftreten15, realisieren sie angeborene Feindschaft - das ist gegen Marquards Polymythie einzuwenden. Um zur Toleranz vorzustoßen, ist das polymythische Konzept der Stammesgötter wie der Stammesstrukturen gerade zugunsten von Universalität zu überwinden.
Jan Assmann und die "Psychohistorie"
Genau hier setzt der Ägyptologe Jan Assmann ein. Er argumentiert dabei mehrschichtig, nämlich mit der Unterscheidung von Primär- und Sekundärreligion. Assmann zufolge entfaltet sich beim Überstieg von der Primär- zur Sekundärreligion am und im Menschen eine "Psychohistorie", eine historisch beobachtbare Veränderung des menschlichen Inneren, eben seiner Psyche. Assmanns erhellende und höchst aktuelle These verdient besondere Aufmerksamkeit.
Als primäre Religion versteht Assmann die Einbettung in Welt und Volk. Dafür ist die typische Religion die der Nationalgötter und Nationalkulte, also die Polymythie. Ihr gegenüber propagiert Assmann als viel wesentlicher und wichtiger die Sekundärreligion: "Die sekundäre Religion ist in einem ganz neuen und emphatischen Sinne Religion und vor allem: die Sekundärreligion ist 'Herzenssache'."16 Dies ist der Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation.
Und wie hat man sich das zu denken? Ihren Entstehungsgrund hat die Sekundärreligion - überraschend genug - im Monotheismus. Denn im Monotheismus, und nur hier, trete Gott als Hüter von Recht, Wahrheit und Ethos auf. Das sei absolut neu, und genau deswegen dürfe der Monotheismus mit historischer Berechtigung den Ehrentitel "Gerechtigkeit" für sich in Anspruch nehmen, habe doch keine "heidnische" Religion jemals Recht und Ethos zu ihrer Hauptsache gemacht 17. Für Assmann stellt sich also der Monotheismus als vergeistigt und ethisiert dar. In der Regel verstehe sich der Monotheismus von einer Offenbarung her und erfordere zivilisatorisch das Buch, beruhe somit auf "Gedächtniskultur"; mit diesem Stichwort hat Assmann die wissenschaftliche Weltöffentlichkeit erreicht18.
Die Wirkung dieses monotheistischen Gottes mit seiner Geistigkeit und deren Folgen für das menschliche Selbstverständnis deutet Assmann als Psychohistorie, näherhin als Entstehung des "Inneren Menschen". Zwei Momente sind dafür als bedeutsam anzusehen: zum einen der "Durchbruch zur Transzendenz" - das betrifft die Götter; zum anderen die Vergrößerung des menschlichen Innenraums - das eben betrifft die Psychohistorie mit ihrer "Herausbildung des Inneren Menschen". Vor diesem Durchbruch erscheinen die Götter als menschengestaltig, als anthropomorph: Sie herrschen und hassen, essen und trinken, lieben und kämpfen. Eigentlich unterscheiden sie sich kaum von den Menschen.
Die sekundärreligiöse Wende führt demgegenüber zur Transzendenz, also dazu, daß die Götter bzw. der Gott alles Menschlich-Weltliche übersteigen. Die Götter seien rein geistig und damit - wie es die Religionsgeschichte ausdrückt - auch "bedürfnislos": Götter bzw. Gott bedürfen zu ihrem Leben - um etwa das Alte Testament zu zitieren - nicht des Blutes von Böcken und Stieren, überhaupt nicht der materiellen Gaben von Menschen. Das Göttliche ist von so überlegenem Geist, daß es überhaupt nur einen Gott gibt. Kurzum: Gott wird transzendent und monotheistisch. Was diesem einen Gott allein noch gefällt, ist Geist und Ethos, und das fordert er nun auch vom Menschen19. Der griechischen Philosophie zufolge sucht aller Gottesgeist die Verbindung mit dem denkendem Nus20, im israelitischen Prophetismus mit dem liebenden Herzen21 des Menschen.
In der Beziehung zu Gott hat folglich der Mensch nunmehr Herz und Geist wirken zu lassen. Assmann betont: "Der Eine und Einzige Gott findet im Akt seiner Weltzuwendung keinen anderen Partner als das Volk seiner Gläubigen und das menschliche Herz." 22 Es zählt allein, was geistig bzw. herzlich vom Menschen vor Gott vollzogen wird. Diese geistige Göttlichkeit habe die Menschen verwandelt, habe im menschlichen Inneren eine neue Dimension für Geist und Herz geweckt. Genau diese Erweckung bezeichnet Assmann als Psychohistorie: erst jetzt habe sich die menschliche Psyche voller ausgebildet, habe Eigenstand und Dominanz gewonnen.
Die zivilisatorische Voraussetzung für diesen Prozeß, so Assmann, sei das Buch: monotheistische Hochreligionen seien immer Buchreligionen. Überraschend ist dabei, wie radikal Assmann diese Wende zu Ethos, Wahrheit und Recht mit dem Monotheismus zusammenbringt. In diesem Punkt läßt er persönlich keinen Zweifel: "Ich plädiere weder für eine Rückkehr zum Mythos noch zur primären Religion."23 Ja, Assmann weist sogar ausdrücklich das "alte Klischee vom 'toleranten Polytheismus'" zurück24. Ähnlich denkt übrigens auch Niklas Luhmann: Die Buchreligionen und nur sie haben ausgeprägten Monotheismus hervorgebracht; dabei sei der eine Gott zum "Beobachtergott" geworden, der Erleben und Handeln, Kognitionsaktivität und Willensaktivität der Menschen übergreife25.
Toleranz und Intoleranz in Christentum und Islam
Diese Vergeistigung bzw. Ethisierung der Götter wie der Menschen mittels der Religion hat erhebliche Konsequenzen für das Gewaltproblem. Denn erst die Psychohistorie mit ihrer Innerlichkeit schafft Einsicht in die Unabdingbarkeit von Toleranz. Sobald nämlich Sekundärreligionen den Inneren Menschen mit seinem Einfühlungs- und Eindeckungsvermögen hervorbringen, entsteht Verständnis auch für die inneren Überzeugungen Anderer und damit die Fähigkeit, diese Anderen in ihrer Andersartigkeit anzuerkennen und zu belassen. Wer selbst Freiheit für je eigene Entscheidungen will, muß diese Freiheit auch anderen gewähren. Man weiß überdies, daß eine rein äußere Bekehrung nicht als Gott angemessen gelten kann und darum religiös gar nicht zählt. Daraufhin sieht man sich veranlaßt, den Anderen zu tolerieren. Von ihrem geistig-innerlichen Ansatz her müssen folglich monotheistische Sekundärreligionen auf dieser Freiheit von Zwang bestehen.
In diesem Kontext ist das Christentum zu verorten. Dessen erstes Gebot gewinnt hierbei ein besonderes Profil: Gott lieben aus ganzem Herzen, mit dem ganzen Verstand, mit allen Kräften (vgl. Mk 12, 29f.). Hierher gehört vor allem auch die bekannte Formel des Paulus: "Caritas tolerat omnia" (Die Liebe erträgt alles; vgl. 1 Kor 13, 7). Der Historiker Klaus Schreiner hat diese Formel als die Kernstelle christlicher Toleranz identifiziert:
"Der Begriff 'Toleranz' als Bezeichnung für Beziehungen zwischen Menschen ist eine Hervorbringung altchristlicher Latinität. Im klassischen Latein bezieht sich tolerantia vornehmlich auf dura et aspera (Hartes und Rauhes), auf das Ertragen von Unrecht, Folter und Gewalt, auf die Mühsal 'schmutziger Zwangsarbeit', auf das Erleiden von Schmerzen und Gefahren, das Ausharren in Hungersnöten, in Naturkatastrophen und militärischen Niederlagen, nicht aber auf Duldsamkeit gegenüber andersdenkenden Menschen. ... Daß Mitmenschen und Mitbürger den Charakter einer Last annehmen können, die in liebender Gesinnung getragen werden muß, kommt in dieser Begrifflichkeit nicht zum Ausdruck."26
In betonter Gegenüberstellung zum antik-heidnischen Toleranzverständnis hält Schreiner fest:
"Nicht die römischen Klassiker, sondern die Kirchenväter und frühmittelalterlichen Theologen haben aus 'tolerantia' eine soziale Tugend, einen Leitbegriff zwischenmenschlichen Verhaltens und christlicher Gemeinschaftsbildung gemacht."27
Ein biblischer Grundtext für Toleranz war vor allem auch das Gleichnis vom Unkraut und vom Weizen mit seiner Aufforderung: "Laßt beides wachsen bis zur Ernte" (Mt 13, 24-30). Die Auslegungsgeschichte dieses Gleichnisses zeigt die ganze christliche Toleranzdebatte bis in die Neuzeit28.
In seiner philosophischen Habilitationsschrift bestätigt Rainer Forst die Auffassung des antiken Toleranzverständnisses im Sinn des Ertragens von Schmerz, Unglück und Ungerechtigkeit; darüber hinaus charakterisiert er die christliche Toleranzauffassung wegen des Ertragens Anderer als intersubjektiv bedeutsam: "Die Fehler der Anderen werden aus Liebe geduldet."29 Das Neue Testament, so Forst, sei "für den gesamten europäischen Diskurs der Toleranz von zentraler Bedeutung", und zwar "bis in die Neuzeit hinein"30.
Die Folgen dieser Auffassung liest man bei den frühchristlichen Theologen31, etwa bei Tertullian († nach 220): Es muß "mir freistehen, zu verehren, wen ich will; ... niemand (auch Gott nicht) möchte doch wohl von jemand geehrt werden, der es nicht gerne tut. Das ist Menschenrecht und Sache der Freiheit." 32 Ähnlich heißt es bei Lactanz († nach 317):
"Gerade die Religion allein ist es, in der die Freiheit ihre Wohnstatt errichtet hat. Die Religion ist mehr als alles andere Sache der Freiwilligkeit und kann nicht jemandem mit Zwang auferlegt werden, daß er verehrt, was er nicht will."33
In derselben Weise begründete auch der Islam die Religionsfreiheit. Der Koran erklärt unmißverständlich: "Die Religion ist Sache der Freiheit."34 Er tritt damit, wie der Essener Theologe Hans Zirker schreibt, "allen Erwartungen entgegen, man könnte mit den Maßnahmen menschlicher Herrschaft den Willen Gottes in der Welt durchsetzen. Nur Gott selbst kann die hartnäckige Verweigerung der Menschen überwinden", und infolgedessen "ist die Absicht der gewaltsamen Bekehrung derer, die nicht freiwillig kommen, prinzipiell verwehrt"35.
Zur Begründung findet sich im Koran: "Wenn dein Herr wollte, würden alle zusammen, die auf der Erde sind, glauben. Und willst du die Menschen zwingen, gläubig zu werden?" (10,99). Insofern hat der Monotheismus aufgrund der ihm zugesprochenen "psychohistorischen Wirkungen" fundamentale Folgen für Humanität und Toleranz. Wenn Gewalt überwunden werden soll, so sind in den psychohistorischen Konsequenzen der Monotheismus-Religionen die Möglichkeiten dazu gegeben.
Erinnerungen und Folgerungen
Wenn es sich aber so verhält, wie steht es dann um die Mosaische Wende und den damit zusammenhängenden Gewaltfolgen? Sollte es sie etwa gar nicht gegeben haben? Natürlich hat es schrecklicher- und beklagenswerterweise genug Gewalt gegeben. Freilich an einer ganz bestimmten Stelle: nicht als Gewalt gegen die Heiden, sondern gegen die Abtrünnigen der eigenen Religion bzw. Konfession. Es sei noch einmal an Luhmanns These erinnert: jede Intensivierung der Glaubensanforderungen müsse notwendig "zu einer Verschärfung der Differenz ... von Rechtgläubigen und Häretikern oder gar Ungläubigen (führen)"36.
Zumeist wird ein gestuftes Verfahren befolgt: Für den, der sich bekehrt hat, gibt es bei Abfall noch eine Bedenkzeit zur Umkehr; wer aber dann nicht zurückkehrt, sondern endgültig abfällt, ist zu eliminieren, sogar durch Tötung. Hier also ist Assmanns "Urszene der Gewalt" mit ihren Strömen von Blut anzusetzen. Bereits die Verehrer des Goldenen Kalbes wurden vernichtet, weil sie vom Jahwe-Glauben abgefallen waren. In der Anfangszeit des Christentums, als die Christen selber noch zur Tempelgemeinde zählten, wurde der Grieche Stephanus als dissidenter Tempelkritiker gesteinigt, ebenso wie Jakobus der Ältere hingerichtet wurde37.
Dasselbe Muster ist auch im Islam zu erkennen. Der Koran mahnte noch, wie Frank Griffel herausarbeitete, "daß niemand über den wahren Glauben ('das Herz') eines Glaubensbruders urteilen könne"38; darum sollte kein Apostat bestraft oder getötet, sondern nur mit der Sanktion belegt werden, keine freundschaftlichen Beziehungen mit ihm zu pflegen39. Dennoch kam bald die Meinung auf, ein jeder, der eine große Sünde begangen habe, sei ein Ungläubiger und müsse getötet werden40. Die Christen, die eigentlich auf jede körperliche Gewalt in Religionsdingen hatten verzichten wollen, stimmten gleichwohl den spätantiken Kaisergesetzen zu, welche den Glaubensabfall mit Tod bedrohten. Das wird man als ihren großen Sündenfall bezeichnen müssen. Verschärfend kam hinzu, daß das Christentum "buchstäblich" wurde; es entstand die Ketzerschelte und damit ein Klima von Intoleranz und Gehässigkeit: "Die doktrinäre Zerstrittenheit gehörte zum Erscheinungsbild des Christentums", resümiert der Regensburger Altkirchenhistoriker Norbert Brox41. Die Ausformulierung des Dogmas geschah weitgehend durch Auseinandersetzung, nicht nur mittels Korrektur, sondern zusätzlich durch Einschüchterung und Denunziation, zuletzt mit gewaltsamer Unterdrückung. Somit erweist sich die Mosaische Unterscheidung als eine mögliche Konsequenz der Buchreligion.
Indes ist zur Korrektur des Allgemeinbewußtseins gleich anzufügen: Aus der westlichen Christenheit wissen wir für das erste Jahrtausend ausdrücklich nur von einer Hinrichtung: der des Priszillian 386 in Trier. Gegen diese Aktion erhoben freilich Martin von Tours und Ambrosius von Mailand sofort ihren Protest42. Die Zeit blutiger Verfolgung begann im Mittelalter und kam in der Frühen Neuzeit zu ihrem Höhepunkt. Die Opfer der mittelalterlichen Katharer-Inquisition werden auf einige Tausend geschätzt. Bei der römischen Inquisition waren es nach 1551 insgesamt 9743, bei der spanischen Inquisition in der "wilden Phase" von 1480 bis 1530 gegen 5000 Opfer; dann - wie die in Deutschland kaum bekannte "Henningsen-Datei" (benannt nach dem dänischen Volkskundler und Inquisitionsforscher gleichen Namens) ausweist - von 1540 bis 1700 genau 826 Opfer44. Die Zahl der reichsrechtlich in der Schweiz, Süddeutschland und den Niederlanden hingerichteten Täufer wird auf 2000 geschätzt45. Diese Hinrichtungen waren rein "staatlich", erfolgten nicht mehr wie im Mittelalter nach ausdrücklicher Glaubensverurteilung. Desgleichen waren die Hinrichtungen der Hexen "staatlich". Im Katalog der 2002 in Berlin gezeigten Ausstellung "Hexenwahn. Ängste der Neuzeit" heißt es:
"Mit besonderer Hartnäckigkeit hält sich das Vorurteil, Hexenprozesse hätten in ihrer großen Masse vor geistlichen Inquisitionsgerichten stattgefunden. ... In jenen Ländern, in denen die Hexenverfolgung in Händen der Inquisition lag, kann man gerade bei den neuzeitlichen Inquisitionsbehörden einen gemäßigten, ja vorsichtigen Umgang mit dem Hexereidelikt feststellen."46
Im ganzen bleibt festzuhalten: Gerade der biblische Monotheismus, sowohl jüdischer, christlicher wie auch islamischer Art fordert den Inneren Menschen. Weil Gott allein auf das Innere schaut, ist ihm alles, was nicht diesem Inneren entspringt, zuwider. Für die Frage der Gewaltfreiheit bedeutet das: Alles Erzwungene nimmt Gott nicht an. Folglich hat es auch keinen Sinn, Menschen zum wahren Glauben zwingen zu wollen. Dennoch sind die Monotheismen gewalttätig geworden, nämlich in der Verfolgung der Abweichler.
Stimmen der Zeit (2005) 319-328