Das Adjektiv "postsäkular" hat rasch Karriere gemacht und ist des öfteren geradezu zum Schlagwort geworden, nachdem Jürgen Habermas in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahr 2001 moderne Gesellschaften als "postsäkulare Gesellschaften" bezeichnet hat(1). Dabei erscheint dieser Begriff keineswegs klar, und er sollte daher nicht unbesehen verwendet werden; denn er ist auf jeden Fall höchst mißverständlich und somit möglicherweise nicht besonders glücklich gewählt. Bei einem ersten, unbefangenen Blick kann die Rede von einer postsäkularen Gesellschaft ja leicht die Vorstellung einer geradlinigen historischen Entwicklungslinie suggerieren. Danach wäre der präsäkularen Welt zunächst die Säkularisierung gefolgt, die nun ihrerseits von einer postsäkularen Gesellschaft abgelöst würde. Doch im Sinn einer solchen, möglicherweise sogar geschichtsphilosophisch aufgeladenen Entwicklungslogik ist es gerade nicht gemeint, wenn Habermas die gegenwärtige Gesellschaft als postsäkular bezeichnet, auch wenn dieses Adjektiv ein solches Mißverständnis nahelegen kann und insofern irreführend erscheint. Will man daher den zeitdiagnostischen Gehalt dessen, was der Begriff des Postsäkularen bei Habermas beinhaltet, ermessen sowie den dabei sich zeigenden Stellenwert von Religion bestimmen, bleibt es unerläßlich, zunächst diesen Begriff möglichst genau zu klären.
Was ist eine postsäkulare Gesellschaft?
Der neuzeitliche Säkularisierungsprozeß umfaßt eine Reihe von Phänomenen. Im Zentrum steht dabei die Emanzipation der weltlichen Bereiche von religiöser Vorherrschaft. Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Bildung, Kunst entziehen sich immer mehr den Vorgaben und der Kontrolle der Religion und entwickeln sich entsprechend einer je eigenen Logik. So wird Religion nach und nach aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit abgedrängt in den Bereich des Privaten - mit der Folge, daß religiöse Überzeugungen zu erodieren beginnen und ihre Tradierung immer häufiger nicht mehr gelingt. Dem korrespondiert der schwindende Einfluß der Kirchen, sowohl in der Gesellschaft wie in Bezug auf die Lebensführung der Individuen. Begonnen hatte diese Entkirchlichung ursprünglich mit dem, was der Begriff Säkularisierung juristisch beinhaltet: die erzwungene Übereignung von Kirchengut an den Staat.
Mit diesem Säkularisierungsprozeß sind beträchtliche Gewinne verbunden. Dazu zählt etwa eine erhebliche Vergrößerung des individuellen Freiheitsraums infolge des zurückgehenden Einflusses der Kirchen ebenso wie der enorme Erkenntniszuwachs einer von weltanschaulichen Einschränkungen unabhängigen Wissenschaft oder die weitgehende Eindämmung religiös motivierter Konflikte durch den säkularen Staat und ein entsprechendes Rechtssystem. Solche unbestreitbaren Gewinne haben nicht selten die Überzeugung genährt, der Säkularisierungsprozeß sei ein geradliniger Fortschrittsprozeß, der aus dem Dunkel unaufgeklärter Zustände unaufhaltsam in das helle Licht einer von wissenschaftlichem Denken, technischen Neuerungen und Erleichterungen sowie einer freiheitlichen Lebensweise bestimmten Zivilisation führen wird. Religion, so die Erwartung bei vielen, würde auf diesem Weg immer stärker marginalisiert werden, wenn nicht sogar völlig verschwinden.
Nun ist aber genau das nicht geschehen: Religion besteht vielmehr auch in säkularisierten Lebenszusammenhängen fort. Heute muß sogar eine neue Aufmerksamkeit für Religion konstatiert werden: nicht nur im privaten Lebensbereich, sondern gerade auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. In diesen Zusammenhang gehört es dann auch, wenn Habermas von einer postsäkularen Gesellschaft spricht. Zugrunde liegt dem die Beobachtung, daß sich das Verhältnis von säkularisierter Gesellschaft und Religion wandelt, und die Spannung zwischen beiden in neuer, veränderter Gestalt zutagetritt. Gleichsam als Menetekel für das gerade begonnene 21. Jahrhundert haben sich dabei die Ereignisse des 11. September 2001 als Ausdruck dieses Situationswandels in das Bewußtsein der säkularisierten Gesellschaften eingebrannt. Sie zeigen unübersehbar, daß in der globalisierten Welt trotz aller Säkularisierung Religion eine bedeutende Macht bleibt und ein gewaltiges Motivationspotential bereitstellt.
Im Blickpunkt bei Habermas steht dabei nun allerdings ein ganz bestimmter Problemkomplex, der es nach seiner Auffassung erforderlich macht, das Verhältnis von Säkularisierung und Religion neu zu reflektieren, nämlich die Entwicklung der Biowissenschaften. Insbesondere die durch sie eröffneten Möglichkeiten pränataler Eingriffe in die genetische Ausstattung eines Menschen könnten Konsequenzen zeitigen, die das "ethische Selbstverständnis der Menschheit im Ganzen"(2) erschüttern. Dieses ist in modernen Gesellschaften wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß die intersubjektiven Beziehungen einen egalitären Charakter haben, also Beziehungen zwischen grundsätzlich Gleichen sind. Dieser „egalitäre Universalismus" bietet „in weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften die einzige rational akzeptable Grundlage für eine normative Regulierung von Handlungskonflikten"(3). Es geht hier also um eine ganz elementare Frage eines freien und als gerecht empfundenen Zusammenlebens, das unter modernen Voraussetzungen nur möglich erscheint, wenn prinzipiell jeder Mensch sich selbst als Gleicher unter Gleichen verstehen kann.
Durch die von den Biowissenschaften eröffneten Möglichkeiten manipulativer Eingriffe in das menschliche Genom sieht Habermas die Grundlagen dieses egalitären Universalismus gefährdet und in Frage gestellt. Es geht ihm also, wohlgemerkt, nicht um gentechnische Eingriffe zu therapeutischen Zwecken; insofern diese einer "Logik des Heilens"(4) folgen, werden sie aufgrund der gut begründet erscheinenden Unterstellung vorgenommen, daß der Embryo dem zustimmen würde, wenn er dazu in der Lage wäre. Was Habermas vielmehr im Blick hat, sind Eingriffe, die vom Gutdünken derer bestimmt sind, die sie veranlassen. Solche manipulierenden Eingriffe in die genetische Ausstattung eines Menschen machen diesen zu einem Objekt fremder Intentionen und Projektionen; denn sie üben "über ihre genetisch manipulierten Erzeugnisse eine Art der Verfügung aus, die in die somatischen Grundlagen des spontanen Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit einer anderen Person eingreift und die, wie es bisher schien, nur über Sachen, nicht über Personen ausgeübt werden dürfte"(5).
Solche eugenische Eingriffe in manipulierender Absicht können beträchtliche Folgen zeitigen. Sie verändern zunächst das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst: Wer um die irreversible Programmierung des eigenen Genoms weiß, sieht sich und sein Leben durch eine Entscheidung anderer disponiert und festgelegt. Infolgedessen entsteht auch eine neue, in der bisherigen Menschheitsgeschichte unbekannte Art von interpersonalen Beziehungen, die Habermas folgendermaßen beurteilt:
"Diese Beziehung neuen Typs verletzt unser moralisches Empfinden, weil sie in den rechtlich institutionalisierten Anerkennungsverhältnissen moderner Gesellschaften einen Fremdkörper bildet. Indem einer für einen anderen eine irreversible, tief in dessen organische Anlagen eingreifende Entscheidung trifft, wird die unter freien und gleichen Personen grundsätzlich bestehende Symmetrie der Verantwortung eingeschränkt."(6)
Denn wer um das eigene genetische Manipuliertsein weiß, sieht sich möglicherweise nicht mehr in vollem Umfang für sich selbst verantwortlich; für unerwünschte Auswirkungen eines solchen Eingriffs kann er vielmehr die verantwortlich machen, die den Eingriff veranlaßt haben. In diesem Fall vermag er sich dann nicht mehr uneingeschränkt als Autor des eigenen Lebens zu begreifen.
Das hat insbesondere in moralischer Hinsicht beträchtliche Konsequenzen. Denn unter einer moralischen Person verstehen wir ja eine, die unvertretbar, in eigener Verantwortung urteilt und handelt, so daß, wie Habermas sagt, keine andere Stimme als die eigene aus ihr spricht(7). Eben dies erscheint nicht mehr zweifelsfrei gewährleistet, wo infolge eines veränderten Genoms das Selbstseinkönnen eines Menschen durch das manipulierende Eingreifen anderer eingeschränkt sein könnte. Habermas geht es also bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Biowissenschaften um grundlegende Intuitionen bezüglich eines freien, unbeeinträchtigten menschlichen Selbstverhältnisses. Denn die potentiellen Störungen, die im Hinblick darauf durch manipulative Eingriffe in das menschliche Genom nicht auszuschließen sind, drohen die Grundlagen der uneingeschränkten Verantwortung eines Menschen für sein eigenes Leben auszuhöhlen. Damit würde aber eine elementare moralische Voraussetzung eines freiheitlichen Zusammenlebens in modernen, pluralistischen Gesellschaften nachhaltig beschädigt.
In diesem Zusammenhang lenkt Habermas nun den Blick auf die Religionen, weil er weiß: Die philosophische Vernunft hat nicht selten auch von Religionen gelernt. Diese gehören daher zweifellos zur Geschichte der Vernunft.
Dabei bezieht Habermas sich ausdrücklich auf Hegel(8), ohne allerdings dessen Auffassung zu übernehmen, daß die Religion der Philosophie untergeordnet sei, weil sie lediglich in der Form der Vorstellung verbleibt und nicht die Form des Begriffs erreicht(9). Dagegen geht er von einer "Koexistenz" von Religion und Philosophie aus, bei der "Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können (wird)"(10). Denn beide sind zwei verwandte Gestalten des Geistes, insofern sie ihren gemeinsamen Ursprung in der Weltbildrevolution der Achsenzeit in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends haben:
"Unter dem Gesichtspunkt des kognitiven Schubs vom Mythos zum Logos rückt die Metaphysik an die Seite aller damals entstandenen Weltbilder, einschließlich des mosaischen Monotheismus. Sie alle ermöglichen es, die Welt von einem transzendenten Standpunkt aus als Ganzes in den Blick zu nehmen und die Flut der Phänomene von den zugrundeliegenden Wesenheiten zu unterscheiden. Und mit der Reflexion auf die Stellung des Individuums in der Welt entstand ein neues Bewußtsein von historischer Kontingenz und von der Verantwortung des handelnden Subjekts."(11)
Das hat auch noch Auswirkungen für die heutige säkulare Vernunft. Wenn nämlich "religiöse und metaphysische Weltbilder ähnliche Lernprozesse in Gang gesetzt haben, gehören beide Modi, Glauben und Wissen, mit ihren in Jerusalem und Athen basierten Überlieferungen zur Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft". Daraus ergibt sich für Habermas:
"Diese moderne Vernunft wird sich selbst nur verstehen lernen, wenn sie ihre Stellung zum zeitgenössischen, reflexiv gewordenen religiösen Bewußtsein klärt, indem sie den gemeinsamen Ursprung der beiden komplementären Gestalten des Geistes aus jenem Schub der Achsenzeit begreift."(12)
So kann es dann aber auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß Religionen auch heute angesichts neuer Herausforderungen ein wesentliches, ja vielleicht sogar unverzichtbares Vernunftpotential enthalten. Das gilt insbesondere auch für die durch die Biowissenschaften aufgeworfenen Fragen, denn "religiöse Überlieferungen besitzen für moralische Intuitionen, insbesondere im Hinblick auf sensible Formen eines humanen Zusammenlebens, eine besondere Artikulationskraft. Dieses Potential macht die religiöse Rede bei entsprechenden politischen Fragen zu einem ernsthaften Kandidaten für mögliche Wahrheitsgehalte, die dann aus dem Vokabular einer bestimmten Religionsgemeinschaft in eine allgemein zugängliche Sprache übersetzt werden können."(13)
Deshalb plädiert Habermas dafür, daß Religion auch in säkularisierten Gesellschaften nicht marginalisiert und aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen wird, damit dieses semantische Potential der Religion nicht verloren geht. Anders als etwa Max Weber versteht Habermas Religion in der "entzauberten" Moderne also nicht als "die irrationale und antirationale überpersönliche Macht schlechthin" (14). Sie bleibt nach seiner Überzeugung vielmehr auch bedeutsam für moderne, freiheitliche und egalitäre Gesellschaften, jedenfalls solange diese einen bestimmten "Sinn von Humanität"(15) bewahren wollen, der ursprünglich in Religionen zur Geltung gebracht worden ist.
Habermas erläutert dieses semantische Potential von Religion, das auch für moderne säkularisierte Gesellschaften von elementarer Bedeutung bleibt und daher immer wieder von ihnen eingeholt werden muß, etwa an folgendem Beispiel:
"Am jüngsten Tag tritt, so haben wir es als christlich Aufgewachsene gelernt, jeder von uns einzeln und unvertretbar, ohne den Schutz weltlicher Würden und Güter, vor das Angesicht eines richtenden Gottes, auf dessen Gnade wir gerade deshalb angewiesen sind, weil wir an der Gerechtigkeit seines Urteils nicht zweifeln. In Ansehung der Unverwechselbarkeit einer jeweils selber zu verantwortenden Lebensgeschichte dürfen alle, Einer nach dem Anderen, gleiche Behandlung erwarten. Aus dieser Abstraktion des Jüngsten Gerichtes ist auch jener begriffliche Zusammenhang von Individualität und Gleichheit hervorgegangen, auf den sich noch die universalistischen Grundsätze unserer Verfassung stützen, auch wenn diese auf die Fallibilität des menschlichen Urteilsvermögens zugeschnitten sind."(16)
Mit dem Begriff "postsäkulare Gesellschaft" verschafft sich diese Einsicht Ausdruck, daß auch moderne Gesellschaften angesichts ihrer fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Säkularisierung auf in den Religionen enthaltene Vernunftpotentiale verwiesen bleiben. Habermas möchte durch diesen Begriff deutlich machen, daß im Verhältnis der säkularisierten Gesellschaft und Kultur zur Religion eine neue Reflexionsstufe erforderlich ist. Denn es tritt immer klarer zutage, daß der Säkularisierungsprozeß nicht nur mit Gewinnen, sondern auch mit Verlusten und Gefährdungen einhergeht - eine Einsicht, die nach Auffassung von Habermas heute insbesondere durch die Entwicklung der Biowissenschaften befördert wird. Um nicht allmählich blind für diese Verluste und Gefährdungen zu werden, müssen auch säkularisierte Gesellschaften Religionen nach wie vor ernstnehmen und in den Prozeß gesellschaftlicher Selbstverständigung miteinbeziehen. Insofern sie das tun, sind sie postsäkulare Gesellschaften.
Damit stellt sich jedoch die Frage, unter welchen Voraussetzungen Religion angesichts solcher "Tendenzen einer entgleisenden Modernisierung"(17) in der politischen und kulturellen Öffentlichkeit einer pluralistischen Gesellschaft präsent sein und zur Geltung kommen kann, ohne daß dadurch deren freiheitliche und demokratische Prinzipien beschädigt werden. In einer solchen Perspektive wird Säkularisierung also nicht mehr als fortschreitende Marginalisierung von Religion verstanden, sondern als ein Prozeß, der mit dem Erbe der Religion verwoben und auf es verwiesen bleibt. Habermas spricht von einem "komplementären Lernprozeß", bei dem die nichtreligiösen und die religiösen Bürger "ihre Beiträge zu kontroversen Themen in der Öffentlichkeit dann auch aus kognitiven Gründen gegenseitig ernstnehmen" (18).
Religion und säkulare Öffentlichkeit
Religiösen Überzeugungen kommt in säkularisierten Kontexten keine privilegierte Bedeutung zu; sie werden als prinzipiell gleichwertig mit nichtreligiösen Weltanschauungen betrachtet. Ja, man wird sagen müssen: In den Augen nicht weniger Ungläubiger lassen sich religiöse Überzeugungen nicht in Einklang bringen mit einem modernen, vor allem von den Wissenschaften geprägten Weltbild. Es ist deshalb alles andere als trivial, wenn Habermas auch von nichtreligiösen Bürgern erwartet, daß sie bei religiösen Äußerungen in der politischen Öffentlichkeit "einen möglichen kognitiven Gehalt dieser Beiträge ... nicht ausschließen". Dabei ist er sich völlig im Klaren darüber: "Aufseiten der säkularen Bürger setzt das eine Mentalität voraus, die in den säkularisierten Gesellschaften des Westens alles andere als selbstverständlich ist."(19) Doch nur unter dieser Voraussetzung erscheint ein gemeinsamer Lernprozeß von nichtreligiösen und religiösen Bürgern nicht aussichtslos; ihm würde ja von vornherein die Grundlage entzogen, wenn dem anderen prinzipiell nicht zugebilligt wird, daß er möglicherweise relevante Einsichten beizutragen hat.
Habermas konkretisiert die Forderung eines solchen Mentalitätswechsels durch einen Vorschlag, den sicherlich nicht wenige als provokant empfinden. Danach dürfen säkulare Mehrheiten in elementaren Fragen, wie sie sich etwa im Bereich der Bioethik stellen, keine Beschlüsse fassen, durch die religiöse Bürger sich in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen, bevor sie nicht deren Einspruch in hinreichendem Maß Gehör geschenkt haben; die säkularen Mehrheiten "müssen diesen Einspruch als eine Art aufschiebendes Veto betrachten, um zu prüfen, was sie daraus lernen können"(20).
Gefordert ist also die Bereitschaft zu einem Perspektivenwechsel; denn ein Lernprozeß kann nur stattfinden, wenn auch die Perspektive des Anderen miteinbezogen und gewürdigt wird, um zu sehen, ob sich dabei neue, bedeutsame Hinweise und Einsichten ergeben. Die Bereitschaft zu einem solchen Perspektivenwechsel wird aber nur da gegeben sein, wo die eigene säkulare Sicht nicht verabsolutiert wird. Notwendig ist deshalb "eine epistemische Einstellung, die aus einer selbstkritischen Vergewisserung der Grenzen der säkularen Vernunft hervorgeht"(21). Die unabdingbare Voraussetzung einer postsäkularen Gesellschaft besteht demnach in der Einsicht, daß die säkulare Vernunft zumindest mit der Möglichkeit rechnet, in Religionen könnte ein bestimmter Vernunftaspekt verkörpert sein, der auch für sie bedeutsam bleibt.
Nun geht es aber eben nicht nur um einen Lernprozeß der Ungläubigen, sondern um einen komplementären Lernprozeß, einen Lernprozeß also, der von religiösen Bürgern ebenso wie von den nichtreligiösen zu absolvieren ist. Man kann sagen: Die religiösen Bürger müssen den Lernprozeß der nichtreligiösen wesentlich mit ermöglichen. Und das setzt voraus, daß sie selbst einen entsprechenden Lernprozeß durchlaufen haben. Die dabei an sie gestellten Anforderungen erscheinen nicht weniger schwerwiegend als die für die nichtreligiösen Bürger. Vor allem zweierlei ist dabei von ihnen zu erwarten: Sie müssen sich bemühen, ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache zu übersetzen, um sie auch für nichtreligiöse Bürger in ihrer Bedeutsamkeit verständlich zu machen. Und sie müssen dafür dann auch säkulare Gründe benennen, die diese semantischen Gehalte der Religion plausibel machen und stützen. Es genügt also beispielsweise nicht, auf die biblische Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu verweisen. Wenn das im Selbstverständigungsprozeß einer säkularisierten Gesellschaft relevant werden soll, muß dieses Theologumenon in einen säkularen Sprach- und Begründungszusammenhang transformiert werden.
Um dabei möglichst allen religiösen Bürgern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, unterscheidet Habermas allerdings zwischen den staatlichen Institutionen und dem vorinstitutionellen Bereich der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Für letzteren plädiert er dafür, daß hier auch politische Stellungnahmen in einer religiösen Sprache geduldet werden sollten, weil andernfalls ein Teil der religiösen Bürger faktisch aus dem politischen Diskurs ausgeschlossen wäre. Es gilt "der empirischen Feststellung" Rechnung zu tragen, "daß viele Bürger, die aus religiöser Sicht zu politischen Fragen Stellung nehmen, gar nicht kenntnis- und einfallsreich genug sind, um dafür säkulare, von ihren authentischen Überzeugungen unabhängige Begründungen zu finden"(22). Aber auch solchen Bürgern muß klar sein: Jenseits dieser informellen Öffentlichkeit, wenn die Schwelle zu den staatlichen Institutionen wie Parlamenten, Gerichten oder Verwaltungen überschritten wird, können nur eine säkulare Sprache und säkulare Begründungen akzeptiert werden:
"Ohne eine gelingende Übersetzung besteht keine Aussicht, daß der Gehalt religiöser Stimmen in die Agenden und Verhandlungen staatlicher Institutionen Eingang findet und im weiteren politischen Prozeß ,zählt'."(23)
Solche Übersetzungsprozesse erfordern ein Reflexivwerden religiöser Überzeugungen. Auch hier sind die Bereitschaft und die Fähigkeit zu einem Perspektivenwechsel gefordert. Religiöse Bürger können nicht nur in der Innenperspektive ihrer Glaubensüberzeugungen verbleiben; sie müssen den eigenen Glauben vielmehr auch aus der Außenperspektive, also aus der Perspektive der Nichtglaubenden reflektieren. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, religiöse Überzeugungen in nichtreligiöse Sprach- und Denkzusammenhänge hinein zu übersetzen und sie durch Gründe zu untermauern.
In seiner Friedenspreisrede von 2001 spricht Habermas genauerhin von einem dreifachen Reflexionsschub, der von Gläubigen im Kontext moderner Gesellschaften zu leisten ist:
"Das religiöse Bewußtsein muß erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muß sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muß es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen."(24)
Ohne diese Reflexionsschübe drohen Religionen im pluralistischen Kontext der Moderne in fundamentalistischen Verhärtungen zu erstarren. Durch ein solches Reflexivwerden hingegen stellen sie sich auf den Boden der modernen Gesellschaft und Kultur und können so auch als prinzipiell gleichberechtigte Dialogpartner anerkannt werden.
Abschließend sei nun noch gefragt, wie ein spezifischer Beitrag von Religionen im Prozeß gesellschaftlicher Selbstverständigung aussehen kann, angesichts der Gefährdungen, die heute im Zug einer einseitigen und blinden Modernisierung hervortreten.
Religion in einer postsäkularen Gesellschaft
Religion rückt bei Habermas in den Fokus der Aufmerksamkeit, weil er befürchtet, daß der Fortschritt der Biowissenschaften die Grundlagen der egalitären Gerechtigkeitsmoral erschüttern könnte. Es droht die Entstehung neuer, bisher unbekannter Abhängigkeitsverhältnisse, die das Prinzip autonomer Selbstbestimmung durchlöchern. Wenn der Blick dabei auf die Religion fällt, so geschieht das aus dem Bewußtsein heraus, daß unverzichtbare Voraussetzungen einer Moral, die prinzipiell alle Menschen als Freie und Gleiche betrachtet, auf Intuitionen beruhen, die ursprünglich in religiösen Zusammenhängen beheimatet sind(25). Habermas möchte diese semantischen Gehalte der Religion neu erschließen, um damit der Gefahr zu begegnen, daß der Fortgang der modernen Wissenschaft das Fundament der gesellschaftlichen Moderne zerstört.
Dieser immer deutlicher zutagetretende Zwiespalt macht es erforderlich, sich über elementare anthropologische Grundfragen zu streiten. Genauerhin geht es dabei, wie Habermas formuliert, um "das ethische Selbstverständnis der Menschheit im Ganzen", "um die Identität des Menschen als Gattungswesen"(26). In Frage steht also in einem ganz grundsätzlichen Sinn, wie die Menschheit ihr eigenes Menschsein versteht und wie sie von daher ihr soziales und gesellschaftliches Miteinander gestaltet. Hier sieht Habermas heute eine verschärfte Konfliktsituation gegeben, die in anthropologischer Hinsicht vor fundamentale Alternativen und Entscheidungen stellt:
"Naturalistische Menschenbilder, die in der Sprache von Physik, Neurologie oder Evolutionsbiologie ausbuchstabiert werden, liegen schon seit langem im Wettstreit mit den klassischen Menschenbildern der Religion und der Metaphysik. Die grundsätzliche Auseinandersetzung verläuft heute zwischen einem naturalistischen Futurismus, der auf technische Selbstoptimierungen setzt, und anthropologischen Auffassungen, die auf der Grundlage eines ,schwachen Naturalismus' den Einsichten des Neodarwinismus (und allgemein dem Stand der Wissenschaft) verpflichtet sind, ohne das normative Selbstverständnis von sprachund handlungsfähigen Subjekten, für die Gründe zählen, szientistisch zu unterlaufen oder konstruktivistisch zu überrunden."(27)
Die besondere Bedeutung von Religion in dieser Situation kann vor allem darin bestehen, daß sie den Menschen auf das verweist, was in theologischer Sprache seine Geschöpflichkeit heißt. Gemeint ist damit selbstverständlich nicht ein wissenschaftsfeindlicher Kreationismus, auch nicht in der etwas aufpolierten Gestalt einer Intelligent-Design-Theorie. In einem säkularen Kontext kann sich der Bedeutungsgehalt der theologischen Rede von der Geschöpflichkeit des Menschen zeigen, wenn ihre anthropologischen Implikationen erschlossen werden. Sie beinhalten im wesentlichen dreierlei: Der Mensch muß erstens davon ausgehen, daß sein Dasein unaufhebbar kontingent ist. Das besagt insbesondere auch, daß es immer mitbestimmt bleibt von seiner natürlichen Abstammung wie auch von seiner soziokulturellen Herkunft. Zum zweiten verweist die theologische Rede von der Geschöpflichkeit auf den anthropologischen Tatbestand, daß kein Mensch sich ursprünglich sich selbst, seinem eigenen Wollen und Wirken verdankt. So gründet auch die Fähigkeit, sein Leben in autonomer Weise zu bestimmen und daher dann auch die Verantwortung für es zu übernehmen, selbst nicht in einem Akt autonomer Selbstbestimmung. Dieser Anfang seines Daseins bleibt für den Menschen vielmehr uneinholbar. Und drittens lenkt die theologische Rede von der menschlichen Geschöpflichkeit den Blick darauf, daß der Mensch sich auch insofern selbst entzogen bleibt, als die Verfügbarkeit über sich selbst und das eigene Leben nicht unbegrenzt ist, unbeschadet etwa aller medizinischen Fortschritte.
Diese elementaren, nicht aufhebbaren Aspekte des Menschseins lassen jegliches Streben nach menschlicher Selbstvervollkommnung als illusionär und zum Scheitern verurteilt erscheinen. Menschenbilder, die das nicht berücksichtigen, erweisen sich als Ideologien. So stellt es dann aber eine gattungsethische Grundforderung dar, daß jeder Mensch sich selbst als ein immer irgendwie auch gebrochenes, endliches und unvollkommenes Wesen annehmen muß, wie dann auch die anderen in gleicher Weise als solche anerkannt und bejaht werden müssen. Von dem her, was theologisch Geschöpflichkeit heißt, zeigt sich die anthropologische Grundlage einer prinzipiell jeden Menschen miteinbeziehenden Solidarität, welchen Beeinträchtigungen die einzelnen auch immer unterliegen mögen. Wenn jeder Mensch unaufhebbar kontingent ist, sich nicht sich selbst verdankt sowie sich im letzten selbst entzogen bleibt, so müssen alle in ihrer Unterschiedlichkeit, Versehrtheit und Unvollkommenheit als prinzipiell gleichwertig angesehen und dementsprechend als Gleiche behandelt werden. Dieses Band der Solidarität verbietet dann auch willkürliche manipulative Eingriffe in das menschliche Genom nach Maßgabe selbstgemachter Ideale.
Der religiöse "Mehrwert" der Rede von der menschlichen Geschöpflichkeit bleibt allerdings auch angesichts einer solchen Übersetzung ihres anthropologischen Gehalts in eine säkulare Sprache erhalten. Dieser Mehrwert besteht darin, daß das menschliche Dasein auch in seiner vielfältigen Gebrochenheit und Unvollkommenheit als ein im ganzen sinnvolles begriffen und bejaht werden kann. Denn in einem religiösen Zusammenhang dürfen die Menschen sich gerade als solche unbedingt anerkannt und angenommen wissen. Dies erschließt sich jedoch nur in einem glaubenden Vertrauen und läßt sich als Glaubensaussage nicht bruchlos in eine säkulare Sprache übersetzen.
Ihren Grund hat diese spezifisch religiöse Überzeugung in der Erfahrung einer unbedingten Zuwendung zum Menschen, durch die ihm ein solches unbedingtes Anerkannt- und Bejahtsein vermittelt wird28. Nach christlichem Verständnis ist dies letztgültig in dem in Jesus Christus erfolgten definitiven Selbsterweis der Liebe Gottes geschehen, in dem diese sich als eine endgültig für alle Menschen entschiedene Liebe zeigt. Aufgrund dieses Mehrwerts bleibt Religion auch in einer postsäkularen Gesellschaft eine eigenständige Wirklichkeit und kann als solche dann immer wieder auch zum Stachel im Fleisch dieser Gesellschaft werden.
Stimmen der Zeit (2008) 270-280