Habermas und das religiöse Erbe

Hans-Ludwig Ollig, Professor für Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt, fragt, wie sich die Einstellung von Jürgen Habermas zur religiösen Über­lieferung verändert hat. Er stellt hierzu die Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in den weiteren Kontext der Entwicklung seines Denkens.

Im Denken von Jürgen Habermas begegnen immer wieder „Spuren einer Auseinandersetzung mit Fragestellungen, die dem Traditionsbestand religiöser Sprache und Praxis zuzurechnen sind.“(1) Das Thema „Religion“ wird von Habermas also nicht einfach ignoriert, wenngleich es gewiß auch nicht im Zentrum seiner philosophischen Arbeit steht. Matthias Lutz-Bachmann spricht von einem „vorsichtigen Interesse“ am Bestand der religiösen Überlieferung, das sich in zahlreichen der Habermasschen Schriften seit der „Theorie kommunikativen Handelns“ nachweisen lasse. Er belegt das neben Habermas’ Auseinandersetzung mit dem späten Max Horkheimer auch anhand von seiner Auseinandersetzung mit theologischen (Helmut Peukert, Johann B. Metz) sowie philosophischen (Michael Theunissen) Gesprächspartnern. Die von Lutz-Bachmann beschriebene Tendenz ist zweifellos auch in Habermas’ jüngsten Veröffentlichungen nachweisbar. Im folgenden soll das an einem Interview verdeutlicht werden, das Eingang gefunden hat in den Sammelband „Zeit der Übergänge“ und das den Titel „Ein Gespräch über Gott und die Welt“ trägt, anhand von Habermas’ Auseinandersetzung mit dem christlichen Existenzphilosophen Kierkegaard und anhand seiner vielbeachteten Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels.

Ein Gespräch über Gott und die Welt

In seinem Interview mit dem in New York lehrenden Philosophen Eduardo Mendieta stellt Habermas gleich zu Beginn klar: Nicht die gesellschaftliche, wohl aber die kulturelle Modernisierung des Abendlandes lasse sich aus Motiven der jüdisch- christlichen Überlieferung erklären. Denn aus soziologischer Sicht müsse man sagen: Die Bewußtseinsformen des modernen Rechts, der modernen Wissenschaft und auch der modernen Kunst hätten sich nicht ohne die Organisationsformen des hellenisierten Christentums und der römischen Kirche und nicht ohne Universitäten, Klöster und Kathedralen entfalten können. Erst recht gelte das für die mentalen Strukturen. Schon der Gedanke des einen und verborgenen Erlösergottes habe gegenüber den mythischen Göttergeschichten den Durchbruch zu einer ganz anderen Perspektive bedeutet. Damit habe nämlich der endliche Geist einen alles Innerweltliche transzendierenden Standpunkt gewonnen. Gleichzeitig weist Habermas darauf hin, daß erst mit dem Übergang zur Moderne sich das erkennende und moralisch urteilende Subjekt den Gottesstandpunkt in der Weise zu eigen machte, daß es zwei folgenreiche Idealisierungen vornahm. Einerseits objektivierte es die äußere Natur zur Gesamtheit gesetzesartig verknüpfter Zustände und Ereignisse; anderseits vollzog es eine Ausweitung der bekannten sozialen Welt zu der grenzenlos-inklusiven Gemeinschaft aller zurechnungsfähig handelnden Personen. Damit aber waren wesentliche Voraussetzungen für eine rationale Durchdringung von Natur und Gesellschaft geschaffen.

Weiter betont Habermas, daß das Christentum für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen ist. Vielmehr seien die modernitätsspezifischen Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und individueller Gewissensmoral, von Menschenrechten und Demokratie ein unmittelbares Erbe der jüdischen Gerechtigkeitsethik und der christlichen Liebesethik. Zu diesem Erbe gebe es bis heute keine Alternative. Anderslautende Behauptungen seien postmodernes Gerede.

Auf einem ganz anderen Blatt steht freilich, daß die christlichen Kirchen heute durch die Globalisierung vor neuen Herausforderungen stehen, der sie nur durch eine radikalere Ausschöpfung ihres normativen Potentials begegnen können. Denn es ist für Habermas keine Frage:

„Die Ökumene wird erst heute in einem nicht-paternalistischen Sinne ökumenisch, erst heute wird die Kirche zur polyzentrischen Weltkirche ... Der Universalismus der Weltreligion wird erst heute in einem strengen Sinne universalistisch, die christliche Ethik erweitert sich heute erst zu einem wahrhaft inklusiven Weltethos.“ (2)

Wichtiger ist für Habermas freilich noch, daß der Modernisierungsprozeß auch zur Entstehung einer säkularisierten Gesellschaft und eines weltanschaulichen Pluralismus geführt hat. Jede Form von Verkündigung begegnet heute nicht nur einem Pluralismus verschiedener Glaubenswahrheiten, sondern auch der Skepsis eines wissenschaftlichen Profanwissens, das seine gesellschaftliche Autorität der eingestandenen Fallibilität sowie einem auf Dauerrevision beruhenden Lernprozeß verdankt. In einer solchen Situation wird der Glaube, wie Habermas sich ausdrückt, reflexiv. Er kann sich nämlich nur im selbstkritischen Bewußtsein der nicht-exklusiven Stellung stabilisieren, die er einnimmt. Habermas hält dieses Bewußtsein von der Relativierung des eigenen Standorts - die freilich keine Relativierung der eigenen Glaubenswahrheiten selbst zur Folge haben darf - für das Proprium der modernen Form religiösen Glaubens.

Kritisch setzt er sich in diesem Zusammenhang mit fundamentalistischen religiösen Bewegungen auseinander, welche die Rückkehr zu vormodernen Verhältnissen propagieren und praktizieren. Der Fundamentalismus, so seine These, sei die falsche Antwort auf eine Situation, die die Einsicht in die Unausweichlichkeit religiöser Toleranz aufdrängt und damit den Gläubigen die Bürde auferlegt, den Pluralismus der Weltbilder unbeschadet eigener Glaubensüberzeugungen auszuhalten.

Relativ vorsichtig äußert er sich zum Thema „Neue Religiosität“: Daß alle großen Weltreligionen institutionskritische Erneuerungsbewegungen kannten, ist für ihn zwar keine Frage, aber mit diesen Erneuerungsbewegungen möchte er das, was in den Buchhandlungen derzeit als Esoterik angeboten wird, nicht in Verbindung bringen. Besagte Esoterik erscheint ihm eher ein Symptom von Ich- Schwäche und Regression zu sein, wie auch Ausdruck des Versuchs einer unmöglich gewordenen Rückkehr zu mythischen Denkweisen, zu magischen Praktiken und geschlossenen Weltbildern, welche die Kirchen bei ihrem Kampf gegen das Heidentum einst überwunden haben. Da auch Sekten innovativ sein können, räumt er zwar ein, daß vielleicht nicht alles im Bereich der Neuen Religiosität nur kalifornischer Schnickschnack und Neuheidentum ist; was ihm in diesem Bereich aber auf jeden Fall fehlt, ist die diskursive Auseinandersetzung. Diesen Hinweis verbindet er mit folgender Feststellung:

„Wenn ich in die ,Summa Contra Gentiles‘ des Thomas von Aquin hineinschaue, bin ich von der Komplexität, dem Grad der Differenzierung, dem Ernst und der Stringenz der dialogisch aufgebauten Argumentation hingerissen. Ich bin ein Bewunderer von Thomas. Er repräsentiert eine Gestalt des Geistes, die ihre Authentizität aus sich selbst heraus verbürgen konnte.“(3)

Was seinen eigenen philosophischen Ansatz angeht, so bestreitet Habermas nicht, daß seine Konzeption der Sprache und des verständigungsorientierten Handelns vom christlichen Erbe zehrt. Der Begriff des diskursiv erzielten Einverständnisses etwa lasse sich durchaus so verstehen, daß in ihm das Erbe eines christlich verstandenen Logos fortwirkt, der sich in der kommunikativen Praxis der Gemeinde verkörpert. So wenig Habermas ein solcher Nachweis christlicher Erbschaftsverhältnisse stört, so deutlich insistiert er auf der Differenz der Diskurse von Religion und Philosophie.

In seiner Auseinandersetzung mit Horkheimers Satz: „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott ist eitel“, macht er etwa deutlich, daß sich nachmetaphysisches Denken von Religion dadurch unterscheidet, daß es den Sinn des Unbedingten rettet ohne Rekurs auf Gott oder ein Absolutes. Ein solches Denken kenne zwar die Unbedingtheit der Wahrheitssuche, aber sein Thema sei nicht die Unbedingtheit eines religiösen Heilsversprechens, das Not, Einsamkeit, Krankheit und Tod in ein anderes Licht rückt und ertragen lehrt. Gleichzeitig betont Habermas in seinem Werk „Nachmetaphysisches Denken“ freilich auch:

„Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird die Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können.“(4)

Eine Schwierigkeit ist hier zweifellos das in Klammern eingefügte „vorerst?“. Die Frage seines Interviewpartners, ob er davon ausgehe, daß es Ziel der Philosophie sei, die bewahrenswerten religiösen Gehalte vollständig zu assimilieren und auf diese Weise „aufzuheben“, oder ob er erwarte, daß sich die Religion allen Versuchen dieser Art gegenüber resistent erweise, läßt sich nach Habermas im Augenblick noch nicht beantworten. Eine Antwort darauf sei erst dann möglich, wenn die Philosophie ihre Arbeit am religiösen Erbe mit größerer Sensibilität als bisher fortgesetzt habe.

Was das Verhältnis von Theologie und Religion angeht, so gibt Habermas seinem Gesprächspartner recht: Die Theologie würde ihre Identität einbüßen, wenn sie versuchte, sich vom dogmatischen Kern der Religion und damit von jener Sprache abzukoppeln, in der sich die Gebets-, Bekenntnis- und Glaubenspraxis der Gemeinde vollzieht. Denn in dieser Praxis bezeugt sich der religiöse Glaube, den die Theologie auszulegen hat, freilich ohne ihn je ganz einholen und ausschöpfen zu können. Wenn das aber schon für die Theologie gilt, gilt das - so könnte man einwenden - nicht erst recht für die Philosophie? Wäre es nicht der pure Intellektualismus, wenn die Philosophie von sich behaupten würde, sie könne sich auf dem Übersetzungsweg die in der religiösen Sprache angeeigneten Erfahrungsgehalte mehr oder weniger vollständig aneignen? Habermas merkt zu diesem Einwand an: Sicherlich könne die Philosophie die Religion nicht substituieren, denn ihre Wahrheit zehre von dem offenbarten Wort. Allerdings habe die Philosophie eine ganz andere Stellung zur Religion. Was sie von dieser lernen kann, wolle sie in einem Diskurs ausdrücken, der von der offenbarten Wahrheit gerade unabhängig ist. Deshalb bleibe bei jeder philosophischen Übersetzung die Vollzugsebene des gelebten Glaubens auf der Strecke. Gleichwohl hält Habermas nichts von einer Philosophie, die trösten will. Eine solche Philosophie wäre für ihn keine Philosophie mehr. Das philosophische Übersetzungsprogramm zielt, so betont er, allenfalls darauf, den profanen Sinn der bisher nur in religiöser Sprache angemessen artikulierten zwischenmenschlichen und existentiellen Erfahrungen zu retten.

Habermas’ Deutung des christlichen Existenzphilosophen Kierkegaard

Wie ein solcher Rettungsversuch konkret aussieht, läßt sich an Habermas' Kierkegaard- Rezeption verdeutlichen(5). Kierkegaard hat die Frage nach dem Gelingen und Mißlingen des eigenen Lebens anders beantwortet als seine existenzphilosophischen Nachfolger Martin Heidegger, Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre. Er ist nämlich davon überzeugt, daß die ethische Existenzform nur im Verhältnis des Gläubigen zu Gott stabilisiert werden kann. Seine Begründung dafür lautet: Solange wir die Moral, die den Maßstab für die Selbsterforschung liefert, im sokratischen oder kantischen Sinn allein auf menschliche Erkenntnis gründen, fehlt die Motivation zur Umsetzung moralischer Urteile in die Praxis.

Kierkegaard wendet sich also gegen ein intellektualistisches Mißverständnis von Moral. Wenn die Moral den Willen allein durch gute Gründe in Bewegung setzen könnte, so argumentiert er, dann wäre der gegenwärtige desolate Weltzustand, den er in seiner Zeitkritik anprangert, nicht denkbar. Grund für diesen Weltzustand ist nicht ein Defizit an Wissen, sondern eine Korruption des Willens. Die Menschen, die es besser wissen könnten, wollen nicht verstehen. Kierkegaard spricht in diesem Zusammenhang nicht von Schuld, sondern von Sünde, um deutlich zu machen, daß wir auf Vergebung angewiesen sind und unsere Hoffnung auf eine absolute Macht setzen müssen, die in den Lauf der Geschichte eingreifen und die verletzte Ordnung wiederherstellen kann. Für Kierkegaard bildet erst dieses Heilsversprechen die motivierende Verbindung zwischen einer unbedingt fordernden Moral und der Sorge um sich selbst.

Um diesen Rekurs auf die christliche Erlösungsbotschaft gegenüber einem immanenten Denken, das sich in den Grenzen weltanschaulicher Neutralität bewegt, zu begründen, greift Kierkegaard auf eine - wie Habermas es nennt - „psychologische Phänomenologie“ zurück. Konkret beschreibt er verschiedene Gestalten einer am Ende heilsamen „Krankheit zum Tode“, die zeigen, daß der Versuch, man selbst zu sein, am Ende scheitern muß. Dieses Scheitern aber bewegt den endlichen Geist zur Transzendierung seiner selbst und zur Anerkennung der Abhängigkeit von einem Anderen, worin die eigene Freiheit gründet. Wörtlich heißt es bei Kierkegaard in diesem Zusammenhang: „Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.“(6)

Obwohl die wörtliche Bezugnahme auf eine Macht, in der das Selbstseinkönnen gründet, nicht in einem religiösen Sinn verstanden werden muß, geht Kierkegaard davon aus, daß der menschliche Geist nur durch das Sündenbewußtsein zum richtigen Verständnis seiner endlichen Existenz gelangen kann. Das Selbst existiert folglich für Kierkegaard wahrhaftig allein im Angesicht Gottes, und es überlebt auch die Situation hoffnungsloser Verzweiflung nur in der Gestalt eines Gläubigen, der, indem er sich zu sich selbst verhält, sich zu einem absolut Anderen verhält, dem er alles verdankt.

Habermas räumt bezüglich dieser Kierkegaardschen Argumentation zunächst ein, auch ein Denken, das sich versagen müsse, auf offenbarte Wahrheiten zu rekurrieren, könne akzeptieren, daß der endliche Geist von Ermöglichungsbedingungen abhängt, die sich seiner Kontrolle entziehen. Denn die ethisch bewußte Lebensführung dürfe nicht als bornierte Selbstermächtigung verstanden werden. Ebenso könne ein solches Denken Kierkegaard darin beipflichten, daß die Abhängigkeit von einer unverfügbaren Macht nicht naturalistisch zu verstehen ist, sondern zunächst ein personales Verhältnis betrifft.

Probleme sieht Habermas freilich bei der theologischen Deutung des Unverfügbaren, von dem wir als sprach- und handlungsfähige Subjekte in der Sorge, unser Leben zu verfehlen, abhängig sind. Denn die moderne Sprachphilosophie erlaubt auch eine nichttheologische Deutung des ganz Anderen. In den Kommunikationsformen, in denen wir uns über etwas in der Welt und über uns verständigen, begegnet uns nämlich die Sprache als eine transzendente Macht. Die Sprache, die wir sprechen, ist ja nicht unser privates Eigentum. Niemand von uns besitzt eine exklusive Verfügung über das gemeinsame Medium der Verständigung, das wir uns intersubjektiv teilen müssen. Weiter ist klar, daß sich die Struktur und der Verlauf von Verständigungsprozessen nicht von einem einzelnen Teilnehmer solcher Prozesse kontrollieren läßt. In der Sprache verkörpert sich also eine Macht, die der Subjektivität der Sprecher vorausliegt. Anderseits gilt freilich auch, daß wir als die sprach- und handlungsfähigen Subjekte es sind, die sich in diesem Medium der Sprache miteinander verständigen.

Habermas' Fazit: Das richtige ethische Selbstverständnis ist uns weder vorgegeben noch offenbart. Vielmehr kann es nur in gemeinsamer Anstrengung gewonnen werden. In dieser Perspektive erscheint dasjenige, was solches Selbstsein möglich macht, eher als transsubjektive denn als absolute Macht.

Habermas versucht also zu zeigen, daß auch eine postreligiöse Lesart von Kierkegaards Ethik möglich ist, deren Bedeutung er im übrigen darin sieht, daß sie sich eine postmetaphysische Enthaltsamkeit auferlegt, weil sie sich zwar nicht der Beurteilung des existentiellen Modus, wohl aber der bestimmten Ausrichtung individueller Lebensentwürfe und partikulärer Lebensformen enthält. Gleichzeitig betont er freilich, sobald das ethische Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte im ganzen auf dem Spiel stehe, komme die Philosophie um inhaltliche Stellungnahmen nicht herum.

Nach Habermas ist diese Situation durch die Fortschritte der Biowissenschaften eingetreten. Bisher konnten nämlich das säkulare Denken der europäischen Moderne ebenso wie der religiöse Glaube davon ausgehen, daß die genetischen Anlagen und damit die organischen Ausgangsbedingungen für dessen künftige Lebensgeschichte der Programmierung und absichtlichen Manipulation durch andere Personen entzogen sind. Unsere Lebensgeschichte schien aus einem Stoff gemacht, den wir uns zu eigen machen und im Sinn Kierkegaards verantwortlich übernehmen können. Mittlerweile zeigt sich als Möglichkeit am Horizont, daß Erwachsene eines Tages die wünschenswerte genetische Ausstattung von Nachkommen als formbares Produkt betrachten und dafür nach eigenem Gutdünken ein passendes Design entwerfen(7).

Mit einer solchen irreversiblen Entscheidung, die eine Person über die natürliche Ausstattung einer anderen Person trifft, entsteht aber eine interpersonale Beziehung neuen Typs, die - wie Habermas betont - unser moralisches Empfinden verletzt. Seine Begründung: Indem einer für einen anderen eine irreversible, tief in dessen organische Anlagen eingreifende Entscheidung fällt, wird die unter freien und gleichen Personen grundsätzlich bestehende Symmetrie der Verantwortung eingeschränkt. Denn dem heranwachsenden Jugendlichen ist es durchaus möglich, eines Tages selbst die Verantwortung für seine eigene Lebensgeschichte zu übernehmen. Er kann sich nämlich reflexiv gegenüber seinem eigenen Bildungsprozeß verhalten und die asymmetrische Verantwortung, die Eltern für die Erziehung ihrer Kinder tragen, retrospektiv ausgleichen. Gegenüber genetisch manipulierten Anlagen ist diese Möglichkeit einer selbstkritischen Aneignung der eigenen Bildungsgeschichte nicht in derselben Weise gegeben. Vielmehr würde in diesem Fall die erwachsene Person blind von der nicht revidierbaren Entscheidung einer anderen Person abhängig bleiben und keine Chance haben, die für einen Umgang unter „peers“ notwendige Symmetrie der Verantwortung herzustellen. Es bliebe ihm vielmehr nur die Alternative zwischen Fatalismus und Ressentiment.

Diese Überlegung macht nach Habermas deutlich, daß die neuen Technologien uns einen Diskurs über das ethische Selbstverständnis der Menschheit im ganzen aufzwingen. Die Philosophie könne hier nicht abseits stehen und diesen Streitgegenstand Biowissenschaftlern und Science Fiction-begeisterten Ingenieuren überlassen.

Habermas’ Friedenspreisrede

Daß freilich auch die Religion bei diesem Streit nicht abseits steht, ist eines der Themen von Habermas' Friedenspreisrede. Habermas spricht von einem Kampf der Glaubensmächte, der zwischen den Wortführern der organisierten Wissenschaft und der Kirchen über die Gentechnik entbrannt sei, weist aber zugleich darauf hin, daß die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion am 11. September 2001 noch auf ganz andere Weise explodiert sei. Denn ohne Zweifel waren die bis zum Selbstmord entschlossenen Mörder, die zivile Verkehrsmaschinen zu lebenden Geschossen umfunktionierten und gegen die kapitalistischen Zitadellen der westlichen Zivilisation lenkten, durch religiöse Überzeugungen motiviert. Für sie verkörperten die Wahrzeichen der globalisierten Moderne den großen Satan.

Beide Ereignisse - sowohl der Streit um die Gentechnik als auch das Attentat vom 11. September - machen es Habermas zufolge erforderlich, daß wir uns darüber klar werden, was Säkularisierung in unseren postsäkularen Gesellschaften bedeutet. Habermas unterzieht sich in seiner Friedenspreisrede dieser Aufgabe und nimmt damit das alte Thema „Glauben und Wissen“ wieder auf.

Er unterscheidet zunächst zwei Lesarten von Säkularisierung. Nach der einen Lesart werden religiöse Denkweisen und Lebensformen durch vernünftige und auf jeden Fall überlegene Äquivalente ersetzt; nach der zweiten werden die modernen Denk- und Lebensformen als illegitim entwendete Güter diskreditiert. Habermas spricht im ersten Fall von einem Verdrängungs- und im zweiten Fall von einem Enteignungsmodell. Das erste Modell lege eine fortschrittsoptimistische, das zweite eine verfallstheoretische Deutung der Moderne nahe. Beide Modelle greifen nach Habermas freilich zu kurz. Denn sie betrachten die Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften von Wissenschaft und Technik einerseits und den haltenden Mächten von Religion und Kirche anderseits, bei dem nur eine Seite auf Kosten der anderen gewinnen kann. Eine solche Sicht der Dinge paßt nach Habermas aber nicht zu einer postsäkularen Umgebung, die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Gesellschaft einstellt. Zudem unterschlägt eine solche Sicht die zivilisierende Rolle des „Common sense“, der gewissermaßen eine dritte Partei zwischen Religion und Wissenschaft darstellt.

Ehe Habermas auf die Rolle dieses Common sense näher eingeht, stellt er zunächst einmal klar, daß nur solche Religionsgemeinschaften aus der Sicht des liberalen Staates das Prädikat „vernünftig“ für sich in Anspruch nehmen können, die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten verzichten. Diese Einsicht aber verdankt sich, wie Habermas weiter ausführt, einer dreifachen Reflexion der Gläubigen auf ihre Stellung innerhalb der pluralistischen Gesellschaft: Denn in dieser müsse das religiöse Bewußtsein erstens die Begegnung mit anderen Konfessionen und Religionen verarbeiten, zweitens sich auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol von Weltwissen haben, und sich drittens auf Prämissen eines Verfassungsstaates einlassen, der sich aus einer profanen Moral begründet. Ohne diesen Reflexionsschub entfalten monotheistische Religionen in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften ein destruktives Potential.

Das Wort „Reflexionsschub“ darf freilich Habermas zufolge nicht im Sinn eines einseitig vollzogenen und abgeschlossenen Prozesses verstanden werden; vielmehr bedarf es bei jedem neu auftauchenden Konflikt reflexiver Arbeit. Wenn beispielsweise eine existentiell relevante Frage wie die Gentechnik auf die politische Agenda gelangt, dann prallen die unterschiedlichen Überzeugungen von Gläubigen und Ungläubigen aufeinander. Beide erfahren sozusagen hautnah das Faktum des weltanschaulichen Pluralismus, und in diesem Fall ergibt sich für beide Seiten die Notwendigkeit, daß sie mit diesem Faktum im Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit gewaltlos, d. h. ohne das soziale Band eines politischen Gemeinwesens zu zerreißen, umgehen. Der weltanschaulich neutrale Staat kann bei diesem Streit zwischen Wissens- und Glaubensansprüchen für keine der beiden Seiten Partei ergreifen.

Der Common sense stellt für Habermas eine kritische Instanz dar gegenüber einer wissenschaftlichen Aufklärung, die unser überkommenes Selbstverständnis radikal in Frage stellt. Denn in dem Maß, wie die Natur der objektivierenden Beobachtung und kausalen Erklärung zugänglich gemacht wird, wird sie auch entpersonalisiert und fällt damit aus dem sozialen Bezugssystem von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen, die sich gegenseitig Motive und Handlungen zuschreiben, heraus - so daß sich zwangsläufig die Frage stellt: Wie steht es mit dem intuitiven Bewußtsein von Autorschaft und Zurechnungsfähigkeit, das alle unsere Handlungen begleitet? Habermas stellt klar:

„Wenn man beschreibt, wie eine Person etwas getan hat, was sie nicht gewollt hat und was sie auch nicht hätte tun sollen, dann beschreibt man sie - aber eben nicht so wie ein naturwissenschaftliches Objekt. Denn in die Beschreibung von Personen gehen stillschweigend Momente des vorwissenschaftlichen Selbstverständnisses von sprach- und handlungsfähigen Subjekten ein. ... Dieses Bewußtsein von rechenschaftspflichtiger Autorschaft ist der Kern eines Selbstverständnisses, das sich nur der Perspektive eines Beteiligten erschließt, aber einer ... wissenschaftlichen Beobachtung entzieht. Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie ... Der Common Sense ist also mit dem Bewußtsein von Personen verschränkt, die Initiativen ergreifen, Fehler machen und Fehler korrigieren können. Er behauptet gegenüber den Wissenschaften eine eigensinnige Perspektivenstruktur.“(8)

Umgekehrt begründet dieses Autonomiebewußtsein auch den Abstand von der religiösen Überlieferung, von deren normativen Gehalten wir gleichwohl zehren. Der Religion gegenüber beharrt der Common sense auf Gründen, die nicht nur für Angehörige einer Glaubensgemeinschaft akzeptabel sind. Das weckt bei den Gläubigen leicht den Eindruck, daß der Säkularisierungsprozeß mit einer ungleichen Lastenverteilung verbunden ist. Denn von ihnen wird die Übersetzung ihrer religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache verlangt, ehe sie mit ihren Argumenten Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden. Habermas meint freilich, dieser Eindruck einer ungleichen Lastenverteilung lasse sich zerstreuen, wenn die säkulare Seite um ein Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bemüht bleibt.

Grundsätzlich muß nach Habermas davon ausgegangen werden, daß die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen fließend ist. Daher sollte seiner Meinung nach die Festlegung einer solchen Grenze als eine kooperative Aufgabe verstanden werden, die von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive des jeweils anderen einzunehmen. Desgleichen wäre es seiner Meinung nach falsch, wenn der liberale Staat den Streit über das säkulare Selbstverständnis der Gesellschaft externalisieren, sprich in die Köpfe der Gläubigen abschieben würde. Denn der Common sense sei kein Singular, sondern beschreibe die mentale Verfassung einer vielstimmigen Öffentlichkeit.

Im Blick auf den Streit über die Gentechnik wird Habermas dann konkret und betont, säkulare Mehrheiten dürften in diesem Fall keine Beschlüsse durchdrücken, bevor sie nicht dem Einspruch von Opponenten, die sich davon in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen, Gehör geschenkt haben. Sie müßten diesen Einspruch als eine Art aufschiebendes Veto betrachten, um zu prüfen, was sie daraus lernen können.

Als Beispiel für eine säkularisierende und zugleich rettende Deutung von Glaubenswahrheiten bemüht er Immanuel Kant. Denn die Autorität göttlicher Gebote finde bei diesem ein unüberhörbares Echo in der unbedingten Geltung moralischer Pflichten. Weniger überzeugend findet Habermas Kants Versuch, den Begriff des radikal Bösen in die Sprache der Vernunftreligion zu übersetzen. Gleichwohl räumt er auch hier ein, daß die Philosophie derzeit noch nicht über einen angemessenen Begriff für die semantische Differenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was zutiefst böse ist, verfügt.

Es genügt also nach Habermas nicht, daß man sich bei einer Übersetzung religiöser Gehalte in die säkulare Sprache darauf beschränkt, das ursprünglich Gemeinte zu eliminieren. Als sich Sünde in Schuld und das Vergehen gegen göttliche Gebote in einen Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelten, ging etwas verloren. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbinde sich zwangsläufig auch der Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Erst recht sei für uns die Unumkehrbarkeit vergangenen Leidens beunruhigend. Habermas nennt hier konkret das Unrecht an den unschuldig Mißhandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgehe. Auch in diesem Fall, so meint er, hinterlasse die verlorene Hoffnung auf Auferstehung eine spürbare Lücke.

In diesem Zusammenhang teilt er Max Horkheimers Skepsis gegenüber Walter Benjamins Hoffnung auf die wiedergutmachende Kraft des humanen Eingedenkens, so wenig er auch den ohnmächtigen Impuls, am Unabänderlichen doch noch etwas zu ändern, diskreditieren möchte. Ein ähnliches Problem stellt sich seines Erachtens auch bei der im Nachkriegsdeutschland betriebenen Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Klage über die Unangemessenheit der Praxis einer solchen Aufarbeitung deutet Habermas wie folgt:

„Die ungläubigen Söhne und Töchter der Moderne scheinen in solchen Augenblicken zu glauben, einander mehr schuldig zu sein und selbst mehr nötig zu haben, als ihnen von der religiösen Tradition in Übersetzung zugänglich ist - so, als seien deren semantische Potentiale noch nicht ausgeschöpft.“(9)

Die Ambivalenz einer ebenso heillosen wie notwendigen Praxis der Aufarbeitung der Vergangenheit kann freilich auch dazu führen, daß man von der Religion Abstand hält, ohne sich deren Perspektive zu verschließen. Habermas ist der Überzeugung, daß eine solche Einstellung es ermöglicht, die Selbstaufklärung einer hinsichtlich der Nutzung der Gentechnik innerlich zerrissenen Bürgergesellschaft in die richtige Richtung zu lenken.

Denn die postsäkulare Gesellschaft setze die Arbeit, die Religion am Mythos vollbracht habe, an der Religion selbst fort, freilich nicht in der hybriden Absicht einer feindlichen Übernahme, sondern aus dem Interesse, im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource „Sinn“ entgegenzuwirken. Denn auch der Common sense müsse die mediale Vergleichgültigung und plappernde Trivialisierung aller Gewichtsunterschiede fürchten. Nach Habermas ist es durchaus möglich, daß moralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, allgemeine Resonanz finden, sofern sich für ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermißtes eine rettende Formulierung finden lasse. Als Beispiel führt er hier an, wie sich in der gegenwärtigen Kontroverse über den Umgang mit Embryonen immer noch viele Stimmen auf den Schöpfungsbericht berufen. Die Geschöpflichkeit des Menschen als Ebenbild Gottes drücke eine Intuition aus, die auch den religiös Unmusikalischen, zu denen er sich zählt, etwas sagen könne. Gott bleibe nur so lange ein Gott freier Menschen, wie die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht eingeebnet wird. Man müsse nicht an die theologischen Prämissen der biblischen Schöpfungslehre glauben, um zu verstehen, was eintreten würde, wenn die im Schöpfungsbegriff angenommene Differenz verschwände und ein Mensch nach eigenen Präferenzen in die Zufallskombinationen von elterlichen Chromosomensätzen eingreifen würde, ohne dafür einen Konsens mit dem betroffenen Anderen wenigstens kontrafaktisch unterstellen zu dürfen. Müßte ein solcher Mensch, so fragt Habermas, indem er einen anderen Menschen nach eigenem Belieben in seinem natürlichen Sosein festlegt, nicht jene Freiheiten zerstören, die unter Ebenbürtigen bestehen?

Fazit: Die Relevanz des religiösen Erbes

Diese Frage macht deutlich, von woher Habermas denkt. In einem Interview, das Anfang der 80er Jahre mit Axel Honneth, Eberhard Knödler-Bunte und Arno Widmann mit ihm geführt haben(10), spricht er, befragt über die Antriebe und Motive seiner Arbeit, von einem Gedankenmotiv, das für ihn bestimmend geworden sei: nämlich die Vorstellung, Formen des Zusammenlebens zu finden, in der Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis miteinander treten, so daß man aufrecht gehen könne in einer Gemeinsamkeit, die keinerlei Rückfall in fragwürdige rückwärtsgewandte Gemeinschaftlichkeit impliziert. Weiter spricht er dann davon, daß dieser Vorstellung die Intuition unversehrter Intersubjektivität zugrundeliege und nennt als Kronzeugen für eine solche Intuition Jakob Böhme, Friedrich Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Theodor W. Adorno, läßt aber zugleich keinen Zweifel daran, daß diese Intuition im letzten religiöse Wurzeln hat.

Daher wendet er sich gegen Versuche, dieses Erbe für irrelevant zu erklären, und plädiert umgekehrt für dessen kritische Aneignung. Denn nach wie vor zehren wir in seiner Sicht von den normativen Gehalten der religiösen Überlieferung. Daß eine solche Aneignung freilich ihre Grenzen hat, räumt er durchaus ein. Denn so, wie Habermas diese Aneignung versteht, besteht deren Ziel lediglich darin - und das unterscheidet sie zweifellos von einer theologischen Aneignung des religiösen Erbes -, die religiösen Gehalte in einen säkularen Kontext zu übersetzen. Solche Übersetzungsversuche sind nach Habermas’ Meinung unverzichtbar, um der Gefahr des Sinnverlusts entgegenzuwirken, von der moderne Gesellschaften ständig bedroht sind. Das Sinnpotential der Religion gilt es also nicht etwa zu eliminieren, sondern durch Übersetzung zu retten.

Entsprechend redet Habermas auch nicht der Aufhebung der Religion das Wort, sondern geht von einem Fortbestand religiöser Gemeinschaften aus, die freilich zu einem „modus vivendi" mit der säkularen Gesellschaft finden müssen. Gelingt es der Religion nicht, einen solchen zu finden, so besteht die Gefahr einer fundamentalistischen Engführung, die, wie die Ereignisse des 11. September deutlich machen, im Extremfall sogar terroristische Akte im Gefolge haben kann.

Nicht alle Übersetzungsprozesse gelingen freilich in gleicher Weise. So ist Habermas der Meinung, daß Katholiken und Protestanten, die für die befruchtete Eizelle außerhalb des Mutterleibs den Status eines Trägers von Grundrechten reklamieren, den wahrscheinlich vorschnellen Versuch machen, die Gottebenbildlichkeit des Menschengeschöpfs in die säkulare Sprache des Grundgesetzes zu übersetzen. Umgekehrt kann man freilich auch fragen, ob Habermas’ nichttheologische Deutung des christlichen Existenzphilosophen Kierkegaard dessen Denken nicht um eine wesentliche Dimension verkürzt. Habermas nimmt diese Verkürzung freilich in Kauf, da für ihn die Verständigung unter den Bedingungen eines unaufhebbaren weltanschaulichen Pluralismus im Vordergrund steht.

Um solche Verständigung geht es ihm auch bei dem Streit, der zwischen Kirche und Wissenschaft um die Frage der Nutzung der Gentechnik entbrannt ist. Für Habermas geht es bei diesem Streit nicht um die Alternative „religiöser Obskurantismus oder wissenschaftlicher Fortschritt?“, sondern faktisch werden für ihn hier Fragen des ethischen Selbstverständnisses der Menschheit im ganzen berührt. Zur Frage steht, ob wir uns noch länger als normative Wesen verstehen können bzw. als solche, die voneinander solidarische Verantwortung und füreinander gleichen Respekt erwarten können. Angesichts des Gewichts solcher Fragen greift für Habermas der Hinweis auf Marktgesetzlichkeiten ebenso zu kurz wie auch der Hinweis auf die säkulare Mehrheitsmeinung, die es schlichtweg zu respektieren gilt. Über den Streit der Wissens- und Glaubensansprüche führt vielmehr nur der Versuch einer Übersetzung religiöser Gehalte hinaus, auf den sich beide Seiten in gleicher Weise einlassen müssen.

Über die Schwierigkeiten einer solchen „kooperativen Übersetzung“ macht sich Habermas freilich keine Illusionen. Denn die Sprache des Marktes ist heute sozusagen allgegenwärtig, und sie preßt alle zwischenmenschlichen Beziehungen - wie er es formuliert - in „das Schema der selbstbezogenen Orientierung an je eigenen Präferenzen“. Dabei gerät aus dem Blick, daß das soziale Band, das aus gegenseitiger Anerkennung geknüpft wird, in den Begriffen der rationalen Wahl und der Nutzenmaximierung gerade nicht aufgeht. Die biblische Tradition hat dies immer gewußt. Daher ist Habermas dieses religiöse Erbe kostbar, und er greift darauf zurück bei seinem Versuch, eine Lanze zu brechen für eine Sicht menschlichen Zusammenlebens, die sich orientiert an der Intuition unversehrter Intersubjektivität.

Stimmen der Zeit (2002) 219-231

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