Hirntod - Tod des Menschen?

In den Auseinandersetzungen um Organtransplantation geht es zentral um die Frage, wann der Mensch tot ist. Fuat Oduncu begründet medizinisch und philosophisch-anthropologisch, daß der Hirntod der Tod des Menschen ist - wie es auch das deutsche Transplantationsgesetz voraussetzt -, und nicht nur eine Phase des Sterbens.

In keinem anderen Bereich in der Medizin wurde in den vergangenen Jahren soviel diskutiert wie über die Hirntodproblematik im Zusammenhang mit der Organtransplantation. Der Mangel an sachkundigem Wissen spiegelt sich in der hierzulande zum Teil sehr emotional geführten Diskussion, in der unreflektierte ethische und weltanschauliche Einwände mit der Medizin vermischt werden. Resultat: Deutschland blieb bis vor kurzem ohne Transplantationsgesetz. Der zentrale Streitpunkt ist nach wie vor die Frage: Wann ist der Mensch tot? Zur Klärung dieser Grundsatzdebatte bedarf es der eingehenden, sachlichen Darlegung der wesentlichen medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen und ihrer anthropologisch-philosophischen Zusammenhänge, damit sie für eine interdisziplinäre Diskussion um den Tod des Menschen und damit um die Voraussetzungen der Organtransplantation fruchtbar werden können.

Hirntod und "erweiterte Zustimmung"

Der unübersehbare und zunehmende Notstand des Organmangels einerseits und die Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod andererseits fordern eine juristisch verbindliche Regelung in diesem Bereich. Zur Ausfüllung dieses juristischen Vakuums wurden in den vergangenen Jahren insgesamt drei Rechtsmodelle zur Organentnahme ausgearbeitet und vorgeschlagen:

1. Widerspruchslösung: Die Entnahme von Organen ist rechtlich nur dann erlaubt, wenn kein Widerspruch von seiten des Verstorbenen (zu Lebzeiten) vorliegt.

2. Zustimmungslösung: Die Entnahme von Organen ist rechtlich nur dann erlaubt, wenn eine Zustimmung von seiten des Verstorbenen (zu Lebzeiten) vorliegt.

3. Informationslösung: Wenn weder eine Zustimmung noch ein Widerspruch von seiten des Verstorbenen (zu Lebzeiten) vorliegen, werden die Angehörigen über eine mögliche Organentnahme informiert und erhalten eine Frist zum Einspruch.

International haben sich das Widerspruchs- und das Zustimmungsmodell durchgesetzt: In Frankreich, Belgien, Spanien, Österreich, Dänemark, Polen und Schweden gilt die Widerspruchslösung. Die Zustimmungslösung wird in den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Großbritannien praktiziert1. Von beiden Lösungsmodellen kann man jeweils eine enge und eine erweiterte Form bilden: Während bei den "engen" Formen lediglich die Stellungnahme des Verstorbenen zählt, wird bei den "erweiterten" Formen stellvertretend die Stellungnahme von Angehörigen herangezogen, wenn der Verstorbene zu seinen Lebzeiten sich zu dieser Frage nicht geäußert hat. Der Bundestag hat sich nach langer und harter Diskussion am 25. Juni 1997 mit einer Zweidrittelmehrheit für das folgende Modell entschieden:

Außer bei der gesondert geregelten Lebendspende ist vor der Organentnahme "der Tod des Organspenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen", festzustellen. "Die Entnahme von Organen ist unzulässig, wenn nicht vor der Entnahme bei dem Organspender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist... Liegt dem Arzt, der die Organentnahme vornehmen soll, weder eine schriftliche Einwilligung noch ein schriftlicher Widerspruch des möglichen Organspenders vor, ist dessen nächster Angehöriger (bezüglich einer Organspende) zu befragen." 2

In der Medizin galt bisher die Feststellung des Hirntods als der Tod des Menschen. Die Diagnose des Hirntods legitimiert das Abbrechen aller intensivmedizinischer Maßnahmen, die im weiteren Verlauf lediglich die folgenden Absterbeprozesse der einzelnen Organe unnötig verzögern würden. Damit markiert die Feststellung des Hirntods die entscheidende Zäsur im Sterbeprozeß. Eine Aufrechterhaltung des Kreislaufs durch das Weiterlaufen der Maschinen kann man nur im Fall einer Organentnahme zu Transplantationszwecken rechtfertigen. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Hirntote rechtlos geworden ist. Ihm kommen die gleichen Rechte und Schutzansprüche zu wie anderen Toten, weshalb der Leichnam des Hirntoten nicht willkürlichen Zugriffen ausgeliefert ist: Es tritt das fortwirkende Persönlichkeitsrecht in Kraft.

Hirntotkritiker dagegen erachten den Zustand des Hirntods nicht als den Tod des Menschen, sondern lediglich als eine Phase des Sterbens. Stellvertretend für den überwiegenden Teil der Kritik soll hier die jüngste Stellungnahme des Bundesjustizministers Edzard Schmidt-Jortzig zitiert werden. Danach dürfe man vom Tod als dem irreversiblen Zusammenbruch des "menschlichen Organismus" erst als Folge des eingetretenen, unumkehrbaren Herz-Kreislauf-Stillstands sprechen. Deshalb seien Hirntote nicht wirklich tot, sondern sterbende, das heißt noch lebende Patienten, die bis zu ihrem endgültigen Tod auch als solche zu betrachten seien. Dennoch wäre eine "Organentnahme während des Sterbens möglich"3. Hier sollen zunächst nur die juristischen Aspekte dieser Kritik dargelegt werden; ob und inwieweit der Hirntod als der Tod des Menschen angesehen werden kann, wird später erörtert.

Wenn manche Autoren den Hirntod nicht als den Tod des Menschen ansehen, muß man das respektieren. Problematisch wird es allerdings, wenn sie sich gegen den Hirntod aussprechen, aber gleichzeitig für eine Organtransplantation plädieren. Denn beides miteinander zu vereinen ist unmöglich, da man nur frische, das heißt lebende Organe verpflanzen kann, wenn man diese dem Spender nach Feststellung des irreversiblen Hirntods entnimmt. Wartet man dagegen den endgültigen Herz-Kreislauf-Stillstand ohne Beatmung des Betroffenen ab, gehen die übrigen Organe im Körper des Leichnams nacheinander zugrunde. Um so erstaunlicher ist es, daß Hirntotgegner eine Organentnahme beim Vorliegen des Hirntods und bei einer Einwilligung des Spenders billigen. Mit anderen Worten: Es ist legitim, Hirntoten, die ihrer Ansicht nach schwerkranke Lebende sind, Organe zu explantieren, wodurch ihr "endgültiger" Tod durch Herz-Kreislauf-Stillstand herbeigeführt wird.

Nicht weniger unproblematisch ist ihre Begründung, der hirntote Mensch habe den Anspruch, seine Todesart frei zu wählen, hier durch die Entnahme seiner Organe. Diese Begründung versuchen sie vom Grundrecht auf Leben abzuleiten, worin sie zugleich auch die "Grundlage der Freiheit des Sterbens im Sinne eines Rechts auf einen menschenwürdigen, mit selbstbestimmter Sinngebung erfüllten Tod" sehen4. Dieser Begründungversuch ist im Grunde die Legalisierung einer Tötungshandlung, die in deutlichem Gegensatz zur inhaltlichen Bestimmung des § 216 StGB steht: Eine Tötung auf Verlangen des Getöteten ist verboten (Tötungsverbot). Das kommt inhaltlich der Einwilligung eines Organspenders gleich, ihn im Zustand seines Hirntods durch Organexplantation zu töten. Das Leben wird strafrechtlich durch § 211 ff. StGB (Mord; Totschlag) und verfassungsrechtlich durch Art. 1 GG (unverlierbare und unverzichtbare Menschenwürde) sowie Art. 2 II 1 GG (Recht auf Leben) gegen fremdschädliche Einwirkungen geschützt. Bei einer Mißachtung oder Außerkraftsetzung des § 216 StGB ergeben sich die Probleme, die bei der illegalen aktiven Euthanasie auftreten, die hier nicht weiter dargelegt werden können.

Der Gesetzgeber benutzt das Hirntodkriterium zur Feststellung des Todes als Grundlage für die daraus abzuleitenden rechtlichen Normen. Dem Kriterium liegt ein Verständnis zugrunde, das dem Menschenbild des Grundgesetzes mit den darin verankerten Grundrechten entspricht (Art. 2 II 1 GG): Der Lebensschutz des Art. 2 II 1 GG entfällt, wenn der Mensch als Person, das heißt als befähigter Träger von Rechten tot ist.

Mit dem Hirntod müssen demnach das Ende des menschlichen Lebens und das Ende des rechtlichen Lebensschutzes zeitlich zusammenfallen, weil dadurch auch die Grundlagen des Personseins verlorengehen müssen. Ob und inwieweit das tatsächlich zutrifft, soll im folgenden erörtert werden. Es geht also um die Titel- frage der vorliegenden Arbeit: "Ist der Hirntod der Tod des Menschen?" Damit untrennbar verbunden sind die Fragen: "Ist der Hirntod der Tod des biologischen Organismus?" und "Ist der Hirntod der Tod der Person?"

Definition, Bedeutung und Feststellung des Hirntods

In den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer zur Feststellung des Hirntods heißt es: "'Hirntod' wird definiert als Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms bei einer durch kontrollierte Beatmung noch aufrechterhaltenen Herz-Kreislauf-Funktion ... Der Hirntod ist der Tod des Menschen." 5

Es kommt also auf den vollständigen und bleibenden Ausfall der gesamten Hirnfunktionen an, also aller intrakraniellen (sich im Schädel befindenden) Strukturen oberhalb des großen Hinterhauptlochs, der Ein- bzw. Austrittsöffnung des Rückenmarks (Foramen occipitale magnum). Die Forderung nach einem Funktionsausfall des gesamten Gehirns hat drei Konsequenzen: 1. Die Forderung, den Hirntod immer als Ganzhirntod zu verstehen, erteilt allen Teilhirntod-Konzepten, wie dem Großhirntod oder dem Hirnstammtod, eine eindeutige Absage. 2. Mit dem endgültigen Verlust der integrativen und regulatorischen Funktionsweise des Gehirns geht die zentrale Steuerung elementarer Lebensvorgänge zu einem übergeordneten ganzheitlichen Organismus verloren. 3. Die Diagnose "Hirntod" ist die Feststellung eines bereits eingetretenen Sachverhalts und ist daher keine prognostische Beurteilung.

Entsprechend den Empfehlungen der Bundesärztekammer erfolgt hierzulande die Feststellung des Hirntods nach einem dreistufigen Diagnoseschema. Im ersten Schritt werden die Voraussetzungen geprüft: Es muß zweifelsfrei eine schwere Gehirnschädigung vorliegen, die mit einem irreversiblen Funktionsausfall einhergeht. Im zweiten Schritt wird die Vollständigkeit des Gehirnausfalls durch das gleichzeitige Vorhandensein von bestimmten klinischen Todeszeichen untersucht. Hierzu gehören das tiefe Koma, der Ausfall der Hirnstammreflexe (Pupillen-, Hornhaut-, Okulo-zephale, Husten- und Würgereflexe und die Schmerzreaktion im Gesicht) und der Ausfall der eigenen Atem- und Herz-Kreislauf-Tätigkeit. Die Irreversibilität des Gehirnausfalls läßt sich klinisch nicht direkt feststellen. Diese kann im dritten Schritt der Hirntoddiagnostik auf zweierlei Weise geprüft werden: Entweder durch den klinischen Verlauf, das heißt durch mehrmaliges Wiederholen der klinischen Untersuchungen mit Bestätigung desselben Befunds, oder durch den Einsatz von technischen Geräteuntersuchungen (EEG, Evozierte Potentiale, transkranielle Dopplersonographie, zerebrale Angiographie und Perfusionsszintigraphie), die die Schwere des Gehirnschadens belegen.

Die Bundesärztekammer versucht, mit ihren Richtlinien bzw. Entscheidungshilfen für die Hirntoddiagnostik mögliche Fehlerquellen auf verschiedenen Stufen weitestgehend zu minimieren: 1. Die Feststellung des Hirntods umfaßt mehrere verschiedene klinische Einzeluntersuchungen, die nur dann eine zweifelsfreie Diagnose erlauben, wenn alle Ergebnisse in der Annahme des Hirntods miteinander vereinbar sind. 2. Geräteuntersuchungen wie etwa das EEG haben nur in der Zusammenschau mit den klinischen Befunden Aussagekraft. Mit dem Einsatz der technischen Methoden sollen die klinischen Todeszeichen zusätzlich dokumentiert und die Beobachtungszeit verkürzt werden. 3. Es wurden Beobachtungszeiten festgelegt, innerhalb deren eine Wiederholung der klinischen Untersuchungen vorgeschrieben ist, wodurch der klinische Verlauf dokumentiert und die diagnostische Sicherheit zusätzlich erhöht werden. 4. Die Feststellung des Hirntods wird von zwei Ärzten durchgeführt, die unabhängig voneinander den klinischen Befund am Patienten erheben.

Bei den untersuchenden Ärzten handelt es sich in der Regel um Intensivmediziner und Neurologen, die über eine mehrjährige Erfahrung in der Behandlung von Patienten mit schweren Hirnschädigungen verfügen müssen. Die Untersucher dürfen keinem Transplantationsteam angehören. Die Hirntoddiagnostik erfolgt in jedem Fall völlig unabhängig von einer möglichen Organentnahme. Bei gewissenhafter Einhaltung der empfohlenen Richtlinien wird ein Höchstmaß an diagnostischer Sicherheit erreicht, wodurch die ärztlich bedingte Fehlerwahrscheinlichkeit weitestgehend ausgeschaltet werden kann. "Bis heute konnte weltweit nicht ein einziger Fall nachgewiesen werden, in welchem nach sachgerecht durchgeführter Hirntod-Feststellung eine Umkehr des klinischen Verlaufs - oder gar ein Überleben - beobachtet wurde. Die Diagnose 'Hirntod' ist damit wahrscheinlich die sicherste in der ganzen Medizin überhaupt."6

Sichtbare Lebenszeichen beim Hirntoten

Die stärkste Kritik des Hirntodkriteriums geht davon aus, daß der Hirntod nicht als der tatsächliche Tod des Menschen angesehen wird, sondern lediglich als eine Phase innerhalb des Sterbeprozesses. Das beruht im wesentlichen darauf, daß Hirntodkritiker die Unanschaulichkeit des Hirntods nicht hinnehmen können oder wollen. Sie lassen sich in ihrem Denken und Argumentieren vom äußerlichen Augenschein leiten und verweisen auf die in der Sensationspresse bekanntgewordenen Fallbeispiele. An erster Stelle wird der "Erlanger Fall" zitiert, in dem Ärzte des Erlanger Universitätsklinikums versucht haben, die intakte frühe Schwangerschaft in einer hirntoten Mutter intensivmedizinisch aufrechtzuerhalten, was jedoch nach mehreren Wochen mit einem Spontanabort der Frucht endete. Allerdings sollte man dabei nicht vergessen, daß eine Fortführung der Schwangerschaft nur deshalb möglich war, weil der hirntote Leichnam der Mutter mit Sauerstoff und anderen Substraten von außen versorgt wurde. Damit konnte man den nach dem Hirntod normalerweise eintretenden Absturz der übrigen Körperteile intensivmedizinisch abfangen.

Daß es sich beim Hirntod nur um einen Zustand des Sterbens handle, suchen die Kritiker ferner damit zu belegen, daß Hirntote durchaus noch zu "menschen-typischen Lebensäußerungen" fähig sind: Hirntote seien Lebende, weil sie ihre Extremitäten bewegen7, Fieber entwickeln, schwitzen, ihren Blutdruck und ihre Pulsfrequenz steigern (was als Zeichen einer Schmerzempfindung gedeutet wird), ja sogar eine Erektion bekommen und erröten können. Unter der Überschrift "Lazarus-Syndrom" behauptet Detlef Bernhard Linke, daß Hirntote durchaus leben können:

"Beim Hirntoten ist an Lebensäußerungen noch vieles möglich, was ihm im Leben vielleicht manches Mal sogar verwehrt war. So kann es bei einem solchen 'Toten' durchaus noch zu einer dauerhaften Erektion kommen. Aus der Sicht der Neurophysiologie handelt es sich dabei lediglich um einen Rückenmarksreflex. Aber was heißt hier 'lediglich?' Irgendwann wird auch das neurophysiologische Korrelat unserer sublimsten Lebensregungen - Liebe, Staunen, Dankbarkeit etwa - aufgewiesen sein. Werden wir dann sagen, daß es sich dabei auch lediglich um ein neurophysiologisches Geschehen handele und wir, die wir diese Lebensregungen empfinden, eigentlich tot seien?" 8

Dabei wird übersehen, daß alle genannten "Leistungen" vollständig darauf zurückzuführen sind, daß hier eine Abkoppelung des Gehirns vom Rückenmark und dem übrigen Körper vorliegt. Diese Leistungen werden von hirntoten Leichen weder in irgendeiner Form wahrgenommen noch bewußt ausgeführt. Es handelt sich um rein spinale Phänomene, das heißt um reine Reflexautomatismen, die allein vom Rückenmark ausgehen und ohne zerebrale Regulation stattfinden. Mit anderen Worten: Gerade das Vorliegen solcher Phänomene belegt die Aufhebung einer zentralen Integration durch das Gehirn. Spinale Reflexautomatismen kommen dadurch zustande, daß der Ausfall des Gehirns mit dem Ausfall des aktivierenden und hemmenden Einflusses der Gehirnzellen auf das Rückenmark einhergeht. Im Ergebnis resultiert eine Enthemmung der Rückenmarksneurone, wodurch es zu den beobachteten Reflexbewegungen kommen kann.

Hirntodkritiker wenden sich aber gegen die Annahme einer "Zentralsteuerung" des körperlichen Organismus durch das Gehirn: Das Gehirn sei nur eines von vielen Steuerzentren des Organismus. Grundlage ihrer Vorwürfe ist die Bewertung des beim Hirntod noch vorhandenen Restlebens. Sie gehen davon aus, daß das Leben des Menschen, ganz gleich in welcher Form, heilig sei. Deshalb müsse der Mensch, solange auch noch das geringste Leben in ihm sei, als Lebender behandelt werden. Gegen diese Haltung sei daran erinnert, daß in Zellen auch noch nach dem Zeitpunkt, in dem nach einhelliger Meinung traditionell vom Tod des Menschen ausgegangen wird, biologische Prozesse ablaufen: Lebensvorgänge von Haut, Haaren, Spermien u. a. sind noch Tage und Wochen nach Herz-Kreislauf- Stillstand nachweisbar. Hierbei handelt es sich unbestritten um Lebensvorgänge von Subsystemen in unterster Form, aber doch nicht um die spezifisch menschliche Lebendigkeit. "Damit schafft das Hirntodkriterium eine sinnvolle Grenzziehung zwischen dem eigentlichen personalen menschlichen Leben und einer residualen Lebensform, welche sich auf der Ebene einfacher vegetativer Restfunktionen verwirklicht."9

Verschiedene Stufen des Todes

Wie ist es möglich, mit dem Funktionsausfall nur des Einzelorgans Gehirn den unbezweifelbaren Tod des Menschen als ganzen zu diagnostizieren? Da der Todeseintritt nicht alle Teile des Körpers zur gleichen Zeit und im gleichen Maß erfaßt, verbleibt in einigen Körperteilen des Leichnams ein gewisses Restleben. Der Grund dafür liegt in der unterschiedlichen Sauerstofftoleranz der verschiedenen Körperteile. So können biologische Vorgänge noch eine Zeitlang nach dem Eintritt des Hirntods weiterlaufen. Aber mit dem Todeseintritt ist das Sterben des kranken Patienten beendet, es handelt sich nunmehr um eine Leiche, nämlich um den Zustand des Totseins. Das Sterben und der Tod beziehen sich im eigentlichen Sinn auf Sterben und Tod des Organismus als ganzen, also des Menschen als ganzen. Der Tod des Menschen schließt nicht aus, daß noch Lebensvorgänge auf anderen, untergeordneten Organisationsstufen vorhanden sein können. Diese Organisationsstufen bilden die Organe, die ihrerseits aus Gewebeverbänden bestehen, die wiederum aus einzelnen Zellen zusammengesetzt sind. Diese drei Stufen stellen selbständige Systeme dar, das heißt Organe, Gewebe und Zellen können auch außerhalb des menschlichen Körpers in entsprechenden Nährlösungen ihre Stoffwechselprozesse fortführen. Mit dem Tod des Organismus tritt sukzessiv der Tod der Organe, der Tod der Gewebe und der Tod der letzten Zelle ein, wobei solche Absterbeprozesse dem Tod des Menschen auch vorausgehen und ihn verursachen können. Für die weitere Diskussion ist eine klare Unterscheidung dieser Todesebenen von großer Bedeutung.

Wird die Durchblutung des Gehirns, zum Beispiel infolge eines Herzstillstands, für längere Zeit unterbrochen und bleiben die Reanimationsversuche ohne Erfolg, kommt es zur irreversiblen Schädigung des Gehirns und zum Tod des Patienten. Gelingt es, Atmung und Kreislauf erst nach der "Wiederbelebungszeit" des Gehirns wieder in Gang zu bringen, oder stirbt das Gehirn durch den Stillstand nur seines Kreislaufs vor dem Herz- und dem allgemeinen Kreislaufstillstand, resultiert der "dissoziierte Hirntod". Diese Entdeckung geht auf die französischen Ärzte Pierre Mollaret und M. Goulon zurück, die als erste 1959 ein neues Syndrom in der Intensivmedizin beobachteten. Sie beschrieben es als "Coma dépassé" ("überschrittenes Koma")10.

Durch die maschinelle Langzeitbeatmung und künstliche Ernährung wurde es also der Intensivmedizin möglich, die drei lebensnotwendigen Organe Lunge, Herz und Gehirn "auseinanderzudividieren"11. Dadurch, daß der Hirntod zeitlich vor dem Erlöschen der übrigen Körperfunktionen eintritt, wird eine neue Situation geschaffen, in der die Intensivmedizin das weitere Absterben der übrigen Körperteile abzufangen sucht. Für diesen "Zustand eines beatmeten Menschen mit abgestorbenem Gehirn" verwendet der Neurologe Heinz Angstwurm den plastischen Ausdruck der "inneren Enthauptung", nämlich einer "Enthauptung, deren Auswirkungen auf den Rumpf und die Kopfweichteile intensiv-medizinisch verhütet werden"12. Dieser innere Zustand ist im Gegensatz zum Atem- oder Herzstillstand für den außenstehenden Beobachter nicht unmittelbar wahrnehmbar. Er kann nur auf der Intensivstation durch die Anwendung spezifischer Untersuchungsverfahren erkannt werden.

"Doch auch wenn außerhalb der Intensivmedizin üblicherweise der Stillstand von Atmung und Kreislauf als Todeszeichen festgestellt werden, ist Tod immer wesentlich Hirntod, nie nur Lungentod und Herztod. Und zwar nicht weil - wie das in der Diskussion bestkultivierte Mißverständnis besagt - das den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnende bewußte Denken verlorengeht, sondern weil in ganz animalischer Weise wie bei jedem Wirbeltier mit dem Verlust der physiologischen Regelungs- und Steuerungsfunktionen des Zentralnervensystems ein Überleben des Organismus ausgeschlossen ist. Jedes Empfinden und Denken, jede Bewußtseinsfähigkeit ist außerdem zwangsläufig damit verloren."13

Die Rolle der Person in der Hirntoddiskussion

Im Rahmen der Hirntoddiskussion wird immer wieder auf den Zusammenhang von Person und Bewußtseinsfähigkeit sowie von Person und Handlungsfähigkeit hingewiesen. Dabei kommt dem Begriff der Person eine Art Schlüsselfunktion zu, weil die Frage, ob jemand oder etwas eine Person sei, darüber entscheidet, ob jemand oder etwas ein Recht auf Leben hat, das es zu schützen gilt. Anhänger des Teilhirntodkonzepts sehen den Tod der Person im alleinigen Funktionsausfall der kognitiven Großhirnleistungen. Hier könnte man sich mit Uwe Körner fragen:

"In welchem Stadium wäre dann ein Alzheimer-Patient vielleicht schon 'tot' und was wäre die Konsequenz? Wenn jemand als 'Person' ... gestorben ist, als Lebewesen aber noch existiert, sollte man sich um den noch bemühen? Ihn als - wie auch immer spezifiziert - 'tot' zu bezeichnen, hat eher eine Ausgrenzungsfunktion von sozialen Verpflichtungen, als daß sie eine Bestimmung des Todes wäre. - Da liegt die eigentliche Problematik, eine solche Grenze des Menschseins zu bestimmen, jenseits deren es dann um 'lebensunwertes' und 'erhaltensunwertes' Leben ginge. Was hier 'noch', was 'nicht mehr' als Mensch gilt, ist nicht objektivierbar, unterliegt tendenziell subjektiver Willkür." 14

Im folgenden geht es um die zentrale Frage, ob der "Hirntod" gleichgesetzt werden kann mit dem Tod des biologischen Organismus und dem Tod der Person. Wenn ja, wäre der Hirntod tatsächlich der Tod des Menschen. Zur Erörterung dieser Streitfrage ist es unausweichlich, die Bedeutung und Tragweite des Personbegriffs ein Stück weit darzulegen, um das Verhältnis von "Person" und "Mensch" bzw. von "Person" und "Organismus" zu erörtern.

Ein Mensch ist von Natur aus Mensch, weil dessen Eltern selbst Menschen sind. Der Begriff drückt also eine reale Wesenheit aus, die ursprünglich und vorgegeben ist. Wir erfahren einen Menschen stets interpersonal als ein Ganzes, dem verschiedene personale, das heißt körperliche und geistige Eigenschaften zukommen, die ihm aufgrund seiner Artzugehörigkeit zukommen müßten, aber keinesfalls immer zukommen müssen. Zu den Eigenschaften zählen animalische, vernunftbegabte, soziale und moralische Aspekte. Man könnte diese Gesichtspunkte auch als Zugangsweisen der interpersonalen Mitteilung beschreiben. Damit steht "Person" für alle möglichen Mitteilungs- und Erscheinungsformen des Menschen: Die Person ist demnach die Explizierung der biologischen Art "Mensch". Allerdings führt ein Nichtvorhandensein (Embryonen) oder ein Fehlen (Komatöse) dieser Eigenschaften nicht zum Verlust der eigenen Person, weil dies das Wesen des Menschen nicht ändert. Allein die reale Wesenheit Mensch begründet die Person: Person ist also wesenhaft mit dem Menschen verbunden. Um mit Gerd Haeffner zu sprechen, muß Person nicht erst geleistet werden: "Das, was eine Person an spezifischen Akten hervorbringen kann - wenn die Bedingungen dafür gegeben sind -, ist also eine Manifestation dessen, was sie schon wesenhaft ist, und nicht dasjenige, wodurch ein Naturwesen sich erst zu einer Person qualifizierte." 15

Mit der Geburt wird der Mensch Mitglied der bestehenden Solidargemeinschaft ungeachtet aller körperlichen und psychischen Eigenschaften und Fähigkeiten. Es zählt einzig und allein dessen Lebendigkeit. Als Person werden diesem Menschen Rechte und Pflichten in gleichem Maß zuteil wie den übrigen Mitgliedern der Gemeinschaft. Daraus folgt die Identität von Mensch und Person, allerdings nicht als eine geisthafte Daseinsform, sondern als konkretisierte Individualität des Organismus. Wenn man dagegen - nach John Locke und Peter Singer - ein "kognitivistisches Personverständnis" zugrunde legt und dadurch Mensch, Person und Organismus wesenhaft voneinander trennt, so müßte man bei einem Fehlen der Bewußtseinsleistungen Säuglingen, geistig Schwerstgeschädigten, dementen sowie komatösen Patienten konsequenterweise das Mensch- und Personsein absprechen. Die Unsachlichkeit dieser Position ist selbstredend.

Die personal-geistige Erscheinungsform des Menschen wird nicht unabhängig vom Körper wahrgenommen. Wir erfahren eine Person, einen Menschen immer als eine untrennbare Einheit von Körper und Geist bzw. von Leib und Seele. Der Aspekt des Körpers ist genauso wichtig wie der des Bewußtseins, vielleicht sogar wichtiger, da er dem Bewußtsein vordergründig ist und dieses erst ermöglicht16. Alle personal-geistigen Akte verschaffen sich ihren Ausdruck nur durch den Körper. Der Körper konstituiert die Person, er macht sie sichtbar und wahrnehmbar. Die Person kommt dem Menschen als Menschen zu. Es ist unbestritten, daß der Begriff "Mensch" nur die Bezeichnung einer Spezies von vielen anderen Spezies darstellt. Allerdings erfolgt die Zuschreibung "Person" nicht aufgrund einer biologischen Natur - denn das wäre in der Tat Speziezismus -, sondern aufgrund der Vernunftnatur des Menschen. Allein der Mensch ist prinzipiell befähigt, wie es bei Aristoteles heißt, ethisch zwischen Gut und Schlecht sowie Gerecht und Ungerecht durch sein Gewissen zu unterscheiden. Dagegen können die übrigen Lebewesen nur Lust und Schmerz empfinden17.

Von dieser Vernunftnatur läßt sich auch die unantastbare und unverlierbare Würde des Menschen ableiten. Der Begriff Person ist im ethischen Kontext die Zuschreibung einer Entität, die jedes menschliche Lebewesen als ein sittliches Subjekt identifiziert. Diese Zuschreibung bewirkt die Achtung der menschlichen Würde, das heißt die Respektierung der Unantastbarkeit des sittlichen Subjekts. Die Menschenwürde wird mit dem Leben gesetzt. Sie besitzt einen universellen Charakter und erlaubt keine Ausgrenzung: Würde kommt dem Menschen nicht aufgrund bestimmter Merkmale wie Rasse, Geschlecht, Kultur, Religion, Gesundheit usw. zu, sondern allein aufgrund seines Menschseins. Menschenwürde ist ein Selbstwert, der uns zur Achtung der Person veranlaßt: "Würde wird durch Achtung nicht erst hergestellt, sondern Würde ist zu achten." 18

Die Begriffe "Mensch" und "Person" sind also zwar inhaltlich verschieden, aber sie bezeichnen beide dieselbe natürliche Art Homo sapiens sapiens. Der Mensch ist Mensch und ist Person, solange er als biologischer Organismus lebt. Der "personale Tod" muß daher mit dem "Tod des Menschen" zeitlich zusammenfallen. Dieser tritt dann ein, wenn der Tod des biologischen Organismus eintritt. Deshalb kann der Tod der Person weder dem Tod des Menschen zeitlich vorausgehen (Teilhirntod) noch diesen überdauern (Ganzkörpertod). Die Frage, ob jemand als Mensch bzw. Person noch lebt oder tot ist, hängt davon ab, ob dessen biologischer Organismus noch besteht oder nicht. Wenn die Feststellung des Hirntods sicher den Tod des biologischen Organismus anzeigt, so gilt der Hirntod als der sichere Tod des Menschen.

Hirntod - Der Tod des Menschen?

Fragt man, ob ein Mensch lebt, so fragt man nach dessen Existenzweise als Lebewesen. Das gilt für das Lebewesen Mensch in gleicher Weise wie für das Lebewesen Tier, auch wenn sich der Mensch durch personal-geistige Eigenschaften wie Selbstbewußtsein, Sittlichkeit, Wissen um den eigenen Tod usw. vom Tier zu unterscheiden vermag. Empfindungen und Handlungen des Menschen betreffen ihn immer in seiner Ganzheitlichkeit. Diese wiederum läßt sich verstehen als eine emergente Erscheinungsweise auf dem Boden integrativer und regulativer Gehirnvorgänge. Hier könnte man auch von einer "Zentralisierung im menschlichen Organismus" sprechen. Umgekehrt ist mit dem Hirntod die zentralnervale Ganzheitlichkeit nicht mehr gegeben. Die Integrationsfunktion mit dem Ziel der Ganzheitlichkeit ist verlorengegangen, weil alle zuführenden Impulse (Afferenzen) aus dem Inneren des Organismus und aus der Umwelt nicht mehr integrativ verschaltet und adäquat beantwortet werden können.

Als Merkmale des Lebens werden üblicherweise aufgezählt: Stoffwechsel, Selbstreproduktion, Selbstorganisation, Informationsfluß, Wachstum, Differenzierung, Mutation bzw. genetische Variabilität, Evolution, Anpassung, Reizbarkeit, Motilität usw.

"'Existenzweise des Lebewesens' bedeutet insbesondere dessen ganzheitliche Aktivität als Organismus, was nach innen die über eine unendliche Vielzahl regulativer Rückkopplungen sich vollziehende funktionelle Integration aller Organsysteme in ganzheitlichem Zusammenwirken beinhaltet, nach außen die auf Energiegewinn, Sicherheit und Fortpflanzung gerichtete Wahrnehmungs- und Bewegungsaktivität in der dem Individuum gegenüberstehenden Umgebung."19

Zur Aufrechterhaltung dieser Funktionen benötigt der Organismus Transportmechanismen, die Sauerstoff und Nährstoffe wie Glukose den Zellen als kleinster Grundeinheit des Lebens zuführen und deren Abbauprodukte wieder abführen. Mit dem Funktionsausfall der Kreislaufzentren im Zustand des Hirntods kann dieser Substrattransport durch künstliche Beatmung und andere Intensivmaßnahmen fortgeführt werden, so daß die Organe und Zellen weiterhin ihren Stoffwechsel betreiben können. Jedoch fehlt diesen Vorgängen jegliche Form einer ganzheitlichen Existenzweise des Lebewesens, wie sie oben beschrieben wurde. Bei der maschinellen Beatmung handelt es sich nicht um eine Kompensation der integrativen Gehirnfunktionen. Vielmehr wird Luft in die Lunge ein- und ausgepumpt, so daß über den im Herzen autonom funktionierenden Sinusknoten (Ort der Erregungsbildung), der nur Sauerstoff benötigt, die Pumpfunktion des Herzmuskels fortgeführt und damit der Substrattransport erhalten werden kann. Mit anderen Worten: Man kann das Herz aus dem Körper herausschneiden und unter entsprechenden Laborbedingungen mehrere Stunden lang schlagen lassen. Wenn die Funktion des Gesamtgehirns unumkehrbar zerstört ist, fehlt dem Menschen die Integrationskraft für die Lebensfähigkeit des Organismus sowie die Zusammenfassung aller menschlichen Organfunktionen zu einer übergeordneten Einheit des selbständigen Lebewesens, das unbestritten mehr und etwas qualitativ anderes ist als die bloße Summe seiner Organe. Nach dem Tod des Menschen zu fragen, heißt nach dem Subjekt des Todes zu fragen: Wer oder was stirbt? 20

Die Frage nach dem Subjekt des Todes ist gleichzeitig die Frage nach dem Subjekt des Lebens. Dieses Subjekt ist das menschliche Individuum in seiner bewußtseinstragenden leiblich-geistigen Ganzheit und Einheit. Diese Einheit aus Körper und Geist ist untrennbar; der Geist kann ohne seine stoffliche Grundlage nicht sein. Deshalb können alle personal-geistigen Mitteilungsformen immer nur im Leib und durch den Leib zum Ausdruck kommen - soweit hierfür bestimmte materielle Strukturbedingungen vorhanden und geordnete neurophysiologische Abläufe möglich sind. Umgekehrt findet der menschliche Leib seinen Ausdruck nur im geistig-personalen Sein.

Deswegen kann das Subjekt des Todes weder der menschliche Körper noch der menschliche Geist sein. Es macht auch wenig Sinn zu fragen, ob der Körper tot oder lebendig sei, da es den menschlichen Körper als solchen isoliert für sich nicht geben kann. Ist der Mensch tot, so reden wir vom Toten oder vom Leichnam, aber nicht vom toten Körper. Es ist der Mensch in seiner Ganzheit, der lebt und stirbt. Ebenso reicht es auch nicht zu sagen, die "Person" im oder des Menschen sei gestorben. Durch den Eintritt des Hirntods wird der Patient subjektlos: "Das Subjekt, das ein Verhältnis des Habens zu diesem Leben und zu diesem Leib haben könnte, ist verschwunden, da es eine Zentrierung in irgendeiner Form des Innewerdens und der Steuerung der eigenen Zustände und Handlungen nicht nur faktisch nicht (mehr) gibt, sondern gar nicht mehr geben kann." 21

Der Tod des Menschen geht der Verwesung lange voraus, weil das Gehirn im Gegensatz zu den anderen Organen eine extrem kurze Reanimationszeit gegenüber Sauerstoffmangel besitzt. Der Übergang vom Leben zum Tod wird also nicht durch den Untergang der letzten Körperzelle charakterisiert, sondern dadurch bestimmt, daß die einzelnen Organe nicht mehr zu Organsystemen und zu einem übergeordneten Ganzen zentral integriert und gesteuert werden. Der biologische Tod drückt sich nicht durch einen Stillstand von Wachstums- und Stoffwechselvorgängen in allen Organen und Zellen aus, sondern durch den Zusammenbruch ihrer Wechselbeziehungen und den Verlust ihrer Integration.

Im Hirntod liegt ein "bloß vegetativer Restbestand eines menschlichen Lebens, das selbst den Punkt der möglichen Wiederkehr unwiderruflich überschritten hat ... Es ist ein Zustand vegetativer Lebendigkeit, dem schon die typisch animalischen Lebenszeichen der Empfindung und Wahrnehmung und der sinnvoll der Umgebung antwortenden Bewegung fehlen. Natürlich fehlen erst recht alle Zeichen der typisch menschlichen Lebendigkeit, die man in der Hemmung des Handlungsimpulses und die Ausfüllung des dadurch entstandenen Freiraums durch erkennende und überlegende Tätigkeit, die sich sprachlich ausdrückt, erkennt." 22

In diesem Fall spricht man nicht mehr von einem lebendigen Organismus, wenngleich manche Körperteile (Organe, Gewebe und Zellen) noch Leben haben. Dabei übersehen Kritiker des Hirntodkriteriums, wenn sie argumentieren, "der Mensch sei noch nicht ganz tot, wenn nur sein Gehirn abgestorben sei, den Unterschied zwischen dem Ganzen als Einheit und dem Ganzen als Summe seiner Teile. Ganzheit bedeutet Einheit als Lebewesen, nicht nur Summe aller Zellen, Gewebe und Organe."23 Mit der Feststellung des Hirntods ist die ganzheitliche Existenzweise des Lebewesens zu Ende gegangen, das Lebewesen als Individuum ist tot. Der Organismus hat aufgehört, ein Lebewesen zu sein. Damit ist die Diagnose "Hirntod" keine prognostische Beurteilung, sondern eine Feststellung. Die danach folgenden Leichenerscheinungen wie Starre, Totenflecken und Fäulnis sind also späte Folgen des längst eingetretenen Todes und können nicht als erste Kriterien für den Todeseintritt angesehen oder abgewartet werden.

Die vielen Todesbegriffe, die sich hierzulande eingebürgert haben, erwecken den Eindruck, als gebe es mehrere verschiedene Tode. In der Hauptsache sind dies neben dem Hirntod der klinische Tod, der Herz-Kreislauf-Tod und der biologische Tod. Diese Begriffe verwirren mehr, als daß sie Klarheit bringen. Die Wahl dieser Ausdrücke hängt ursprünglich mit der Todesursache zusammen. So wäre es verständlicher, vom Tod nach Herz-Kreislauf-Versagen oder vom Tod durch Ausfall des Gehirns zu sprechen. Die Begriffe beziehen sich alle auf denselben Sachverhalt: Tod des Menschen. Deshalb wird der Tod nicht neu- oder umdefiniert24.

Für die Beantwortung unserer Titelfrage kann man daher festhalten: Der Tod eines jeden höher entwickelten Lebewesens ist eingetreten, wenn es als biologischer Organismus in seiner funktionellen Ganzheit, nicht erst durch den Zerfall aller Teile seines Körpers gestorben ist. Der Organismus stirbt, wenn die einzelnen Organe und Organsysteme nicht mehr zur übergeordneten Einheit des Lebewesens im Sinn einer funktionellen Ganzheit integriert werden; denn das bedeutet den Verlust der Selbständigkeit, der Selbsttätigkeit und der Integration des Organismus. Dieser Zustand liegt vor, wenn das Gehirn vollständig und irreversibel ausgefallen ist (Hirntod). Mit dem Tod des Organismus gehen die Grundlagen sowohl für das "Menschsein" als auch für das "Personsein" verloren. Der Hirntod ist also der Tod des Menschen.

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