Nichts vorwegnehmen können, für vieles offen sein, dem Unerwarteten neue Perspektiven abgewinnen - so könnte ein Imperativ des dialogischen Denkens lauten. Der Imperativ kann aber auch ein Erfahrungssatz sein. Das entspräche der Wirklichkeit des christlich-jüdischen Dialogs unserer Tage. Gelegentlich war der Dialog mit der jüdischen Forderung konfrontiert, die Christologie nicht zum Traktandum zu erheben, weil damit die jüdische Beteiligung in Frage gestellt werde. Anderseits hielt man in der christlichen Theologie das Messiasthema zwar für exegetisch unerläßlich, versprach sich aber unter systematischer Hinsicht wenig davon. Das Unerwartete bzw. Unerwünschte traf ein und zeitigte neue Perspektiven für Dialog und Theologie. Dies haben nicht zuletzt Momentaufnahmen und Bilanzen zur 40jährigen Wirkungsgeschichte der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen "Nostra Aetate", Artikel 4 vom 28. Oktober 1965 zu Bewußtsein gebracht.
Das Unerwartete in Dialog und Theologie
Wenn man aus der gegenwärtigen christologischen Diskussion im Umfeld des jüdisch- christlichen Dialogs zum Text der Konzilserklärung zurückkehrt, mag man überrascht sein, wie knapp dieser Text in seinen christologischen Aussagen ist. Stärker ist seine ekklesiologische Ausrichtung, die freilich christologisch verankert ist. "Nostra Aetate" erinnert daran: "Die Kirche glaubt, daß Christus, unser Friede, Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und beide in sich vereinigt hat (vgl. Eph 2,14-16)." Dieser zentralen Aussage der Kreuzeschristologie folgt unmittelbar eine Aussage zur Inkarnation Christi:
"Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels Paulus vor Augen, der von seinen Stammverwandten sagt, daß aus ihnen Christus dem Fleisch nach stammt‘ (Röm 9,4-5), der Sohn der Jungfrau Maria."(1)
Der inkarnationschristologische Hinweis hat in der theologischen Wirkungsgeschichte von "Nostra Aetate" seinen eigenen Stellenwert: Es wurde als "das" Dokument des Konzils für "die Herausforderung der Kirche im 21. Jahrhundert" gekennzeichnet(2). Seine Aussagen zur Kreuzeschristologie haben in der kirchlichen Konzilsrezeption eine große Rolle gespielt(3). Der katholisch-jüdische Dialog seit dem Konzil hat jedoch in seiner Thematisierung der Christologie die bemerkenswertesten Aussagen zur Inkarnationschristologie gefunden. Daneben ist es auch zu Erörterungen von Aspekten einer messianischen Christologie gekommen:
"Der tiefste Glaubensunterschied tritt angesichts des stärksten Bindegliedes zwischen Christen und Juden zutage. Der christliche Glaube an Jesus Christus, demgemäß der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus nicht nur als der verheißene Messias, sondern darüber hinaus als der wesensgleiche Sohn Gottes bejaht und verkündigt wird, erscheint vielen Juden als etwas radikal Unjüdisches."(4)
So kennzeichneten die deutschen Bischöfe in ihrer Erklärung über das Verhältnis der Kirche zum Judentum 1980 die Verbindung von Gemeinschaft und Ungemeinschaft zwischen Judentum und Christentum hinsichtlich des christlichen Glaubens an Jesus Christus. Für Jesus Christus nannten sie dabei zwei Titel: Messias und Sohn Gottes. Um diese beiden christologischen Titel ist der jüdisch-christliche Dissens zentriert, freilich mit unterschiedlichem Gewicht. Fundamentaler ist die Differenz im Verständnis der Inkarnation. Aufgrund des je anderen Gewichts in der jüdischen und der christlichen Tradition hat das messianische Thema nicht einen so fundamentalen Stellenwert. Aber Theologie und Dialog befassen sich dennoch mit dem Thema des Messias.
Die Frage nach Jesus Christus als Messias
In den ersten beiden Jahrzehnten nach "Nostra Aetate" konnte man den Eindruck haben: Es herrscht eine Scheu gegenüber dem Thema des Messias in der christlichen Theologie wie auch im jüdisch-christlichen Dialog. Von Arbeiten der Exegeten abgesehen, gab es kaum Wortmeldungen. Dies hat sich überraschenderweise in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten geändert. Wir können geradezu von einer Konjunktur zum Themenkreis von Messias und Messianismus sprechen. Es ist eine internationale jüdisch-christliche Diskussion im Gang(5). Das Ablegen der "messianischen Scheu" gilt auch für das wichtige Dokument der Päpstlichen Bibelkommission "Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel" vom 24. Mai 2001. Die Bibelkommission spricht das Messianische im Christusglauben in einer Weise an, die sowohl die Theologie als auch den christlich-jüdischen Dialog zur Vertiefung der Reflexion über das messianische Thema anleitet. Zu den aufregendsten Äußerungen der letzten Jahre gehört ihre Aussage: "Die jüdische Messiaserwartung ist nicht vergeblich" (Nr. 21/S. 43)(6). Die jüdische Messiashoffnung hat nach diesem vatikanischen Dokument nicht nur ihren Gegenstand, sondern ihren Grund, ihren Sinn, ihre Berechtigung, ihre Nichtvergeblichkeit. In negativer Formulierung wird der jüdischen Messiashoffnung von kirchlicher Seite eine höchst positive Qualität zugesprochen. Das ist theologiegeschichtlich außerordentlich.
Die Aussage meint gewiß die Messiashoffnung des Alten Testaments, zielt aber letztlich doch auf die nachbiblische Messiashoffnung des jüdischen Volkes. Denn das Dokument hat die nachbiblische und zeitgenössische Erwartung von Juden und Christen im Blick. In dieser Zuschärfung kommt ein Grundentscheid des Dokumentes zum Tragen: Es reflektiert die heilige Schrift des jüdischen Volkes (das "Alte Testament") und die christliche Bibel (als Einheit von Altem und Neuem Testament) nicht nur in ihrem historischen Verhältnis zueinander - als literarische Textgrößen, die nach Abschluß der Kanonbildung normativ geworden sind. Die biblischen Texte sind literarische Texte, die von einzelnen und ihren Gemeinschaften gelesen werden. Diese lesen denselben Text, entdecken aber in ihrer "Rück-sicht" Aspekte, welche die anderen so nicht gelesen und verstanden hatten. Zwischen Text und Lesegemeinschaft entsteht eine Dimension von Sinn, der in der Textebene allein nicht gegenwärtig war. Deshalb geht es dem Dokument auch um das Gegenüber der nachbiblischen jüdischen und christlichen Auslegungen bzw. "Leseweisen" der Bibel - hier die jüdische Auslegung der jüdischen Bibel aus Tora, Propheten und Schriften, dort die christliche der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament:
Die "Christen können und müssen zugeben, daß die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist. So ist die eine nicht auf die andere rückführbar" (Nr. 22/44).
Die jüdische Messiashoffnung, der die Qualität der Nichtvergeblichkeit zugesprochen wird, gehört zu dieser parallel zur christlichen Auslegungsgeschichte sich entwickelnden jüdischen Leseweise. Die jüdische Leseweise oder Kommentartradition ist nicht Abirrung oder Verfälschung eines ursprünglichen Sinns, sondern eine sich organisch aus der Bibel Israels ergebende Möglichkeit. Möglichkeit besagt Plausibilität, Angemessenheit und Legitimität. Und doch wird über die jüdische Leseweise noch mehr gesagt: Sie ist nicht beliebige Kommentierung biblischer Grundlagen, sondern Frucht und Ausdruck eines Glaubens, der auf die biblische Offenbarung positiv antwortet. All dies gilt von der jüdischen Messiashoffnung, wie sie in nachbiblischer jüdischer Überlieferung anzutreffen ist.
Diese positive Kennzeichnung hat deutlich vor Augen, daß das jüdische Volk mit seiner Messiashoffnung ein Nein zum Messias Jesus von Nazaret sagt und bei ihm rabbinische Überlieferungen in Geltung sind, "die den Glauben an Jesus als Messias und Gottessohn ausschließen" (Nr. 22/44). Aber wie kann seine Messiashoffnung dann von Christen positiv gedacht werden? Liegt ein christlicher Selbstwiderspruch vor? Die Spannung ist offenkundig. Das Dokument scheint eine Milderung dieser Spannung zu bieten, wenn es festhält: "Wie wir leben sie von der Erwartung" und direkt den Satz anschließt:
"Der Unterschied ist nur, daß Derjenige, der kommen wird, die Züge Jesu tragen wird, der schon gekommen ist, unter uns gegenwärtig ist und handelt" (Nr. 21/43).
Die Milderung der Spannung besteht also darin, daß zwar die jetzige jüdische Messiashoffnung den Glauben an Jesus als den Messias ausschließt, aber in der Parusie beim Wiederkommen des Herrn ihr Nein überwindet und zur Anerkennung des Wiederkommenden finden wird. Die Spannung erscheint hier als befristet. Damit aber ist ein Problem gegeben, über das nachzudenken der Theologie aufgegeben ist.
Der Bibelkommission ist klar, daß die nachbiblischen jüdischen Überlieferungen bis heute "den Glauben an Jesus als Messias" dezidiert ausschließen (vgl. Nr. 22/44). Diese Spannung nimmt das Dokument nicht weg, wenn es sein christologisches Verständnis ausdrücklich macht und vielfach - besonders im Punkt "Der Sohn und Nachfolger Davids" (Nr. 62-64/114-118) - messianisch entfaltet. Es spitzt die Spannung im messianischen Verständnis jedoch nicht in einer Weise zu, daß es etwa von einem christlich-jüdischen Grundunterschied spricht, aus dem alle anderen Unterschiede erwachsen. Es weiß um den Sachverhalt, daß in der jüdischen Lesart die Messiashoffnung nicht den Rang des grundlegenden Verständnisschlüssels hat (Nr. 62/115). Demgegenüber erkennt das Neue Testament und mit ihm die Kirche grundlegend und wesentlich "in Jesus von Nazaret den verheißenen, von Israel (und der gesamten Menschheit) erwarteten Messias, also denjenigen, der in seiner Person die Verheißung erfüllt" (Nr. 63/115). So grundlegend und wesentlich wie für das Christentum ist die Messiashoffnung für das Judentum nicht. Wir stehen hier vor einem Ungleichgewicht, ja einer Asymmetrie im christlich-jüdischen Verhältnis: hier der grundlegende und wesentliche Messiasglaube - dort die nicht von allen Juden als zentral verstandene Messiashoffnung. Dennoch gibt es eine jüdische Messiashoffnung. Von dieser sagt das Dokument: "Die jüdische Messiashoffnung ist nicht vergeblich." Es weiß um die Spannung zwischen kirchlichem Christusglauben und jüdischer Messiashoffnung und verkennt den Charakter des Widerspruchs nicht.
Gibt es eine Brücke zwischen christlichem Christusglauben und jüdischer Messiashoffnung? Ein jüdisch-christlicher Konsens ist nicht einzufordern. Der Christ, die Christin soll die jüdische Hoffnung, die mit einem kommenden Messias rechnet, mit Respekt hören. Kann er aber darüber hinaus sogar ein anerkennendes Verhältnis zu dieser jüdischen Messiashoffnung gewinnen, auch wenn diese ein Nein zu Jesus Christus einschließt? Das Dokument der Bibelkommission bejaht diese Frage, weil es die Kirche von Gott in die Nähe zum jüdischen Volk gestellt sieht. Sollten die Ungekündetheit des Bundes Gottes mit Israel (vgl. Nr. 42/80), die Fortdauer göttlicher Liebe zu Israel (vgl. Nr. 31-32/58-63), die unverbrüchliche Treue göttlicher Erwählung Israels (vgl. Nr. 33-36/63-71) wie auch die jüdische Treue zum Bund Gottes und die jüdische Liebe zum göttlichen Namen, von denen die große Karfreitagsfürbitte der katholischen Liturgie spricht(7), nicht eine eigene Schwerkraft auch im Blick auf die jüdische Messiashoffnung haben? Steht die jüdische Messiashoffnung nicht unter dem Segen des Gottes Israels? Man wird diese Fragen positiv beantworten dürfen; die Gaben Gottes an Israel behalten ihr heilvolles Gewicht für Israel, die jüdische Messiashoffnung steht unter dem Segen Gottes.
Allerdings knüpft die Bibelkommission ihre positive Würdigung der jüdischen Messiashoffnung daran, daß diese ihr Nein zu Jesus als Messias in der Parusie überwindet und zur Anerkennung des wiederkommenden Christus findet. Darf eine theologische Meinung in der Spannung zwischen heutiger jüdischer Messiashoffnung und dem christlichen Christusglauben weitergehen und fragen: Meldet sich hier vielleicht die Möglichkeit einer Pluriformität oder Polarität von Wahrheit - etwa in dem Sinn von Ps 62, 12: "Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört"? Stehen wir mit unseren Fragen vor einer Spannung bereits im christlichen Glauben und Hoffen selbst? Und bestünde diese darin, daß der christliche Glaube sich am messianischen Wiederkommen Jesu Christi festmacht und zugleich die jüdische Messiashoffnung positiv würdigt? Der Christ bzw. die Christin wartet nicht auf einen anderen als den wiederkommenden Jesus Christus und achtet zugleich die jüdische Messiashoffnung als einen Akt der Treue zum Gott Israels. So sieht der unverratene Christusglaube den Segen Gottes nicht einfach von der jüdischen Messiashoffnung zurückweichen. Haben wir die Auflösung dieser Spannung in das Geheimnis des Heilsplans Gottes zu stellen? Es gibt Fragen des Glaubens, die sich der bündigen, einfachen Antwort verweigern; sie führen bisweilen in eine Doppelheit von Antwortversuchen, deren Spannung und Gegenläufigkeit sich nicht vermitteln oder auflösen läßt. Offenbar - so die theologische Meinung - ist die Christus- Messias-Frage eine solche Frage.
Nicht der Messiastitel macht den zentralen Dissens im jüdisch-christlichen Dialog unserer Tage aus, sondern der andere Titel Jesu Christi, der des Mensch gewordenen Sohnes Gottes, und darin die Gottesfrage im engeren Sinn. Der christlichjüdische Dissens ist um das Gottesverständnis und hier näherhin das Thema der Menschwerdung, der Inkarnation des Sohnes Gottes in Jesus Christus zentriert. So stellte der jüdisch-orthodoxe Philosoph Michael Wyschogrod fest:
"Die schwierigsten unerledigten Fragen zwischen Judentum und Christentum betreffen die Gottheit Jesu, die Inkarnation und die Trinität - drei Stichworte, die zwar nicht gleichbedeutend sind, aber doch sämtlich unterstellen, Jesus sei nicht bloß ein menschliches Wesen, sondern zugleich Gott gewesen. Gegenüber diesem Anspruch werden alle anderen christlichen Behauptungen, wie die, daß Jesus der Messias sei, bestenfalls zweitrangig."(8)
Jüdische Kritik der "Idee" der Inkarnation und ihre Nuancen
Der bis zur Inkarnationsfrage vorangetriebene christlich-jüdische Dialog unserer Tage hat unterschiedliche jüdische Wortmeldungen hervorgebracht, ohne die Schärfe des Widerspruchs zu mildern. Es lassen sich mehrere Argumente und Denkfiguren des jüdischen Einwurfs gegen die Menschwerdung des Sohnes Gottes unterscheiden. Ein gewichtiger Einwurf bewegt sich auf der philosophischen Ebene. Emmanuel Levinas fragt von den Voraussetzungen seiner Philosophie, aber auch seines Offenbarungsverständnisses her nach dem philosophischen Wert der "Idee" der Menschwerdung (des Sohnes) Gottes und meint: Eine Gegenwart Gottes in der Zeit der Welt wäre "zuviel" für die Armut Gottes und "zu wenig" für seine Glorie, ohne die seine Armut keine Erniedrigung ist. Levinas verneint, daß Gott in seiner Dauer eine "Gegenwart" in Zeit und Welt werden kann. Er hält daran fest, daß Gott "nichtassimilierbare Andersheit, absolute Unterscheidung zu allem, was sich zeigt" bleibt. Deshalb spricht er von "Gottes ursprüngliche(r) Vorgängigkeit oder ursprüngliche(r) Letztgültigkeit in bezug auf die Welt, die Ihn nicht aufnehmen und beherbergen kann", so daß er sich "nicht ... inkarnieren, ... nicht in ein Ende, ein Ziel einschließen" kann(9).
In einem anderen quasi-jüdischen Einwurf sieht Jean-François Lyotard in der Inkarnationslehre eine Verobjektivierung der Transzendenz Gottes und eine Zerstörung des Bilderverbots; wo "im menschgewordenen Gott" das Wort klar und unterscheidbar geworden sei, werde das Gottsein Gottes verharmlost; die "Stimme" müsse nicht mehr in einem fortwährenden Forschen erhorcht werden, sondern habe dem Sehen eines Bildes Platz gemacht(10). Sodann hat Jacques Derrida mit seinen Reflexionen über Gen 22 und über die Gabe, die es nur gibt, "wenn es keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld", christliche Theologie dazu evoziert, Gott als Gabe in trinitarisch-inkarnatorischer Lesart zu verstehen(11). Ein weiterer Einwand argumentiert aposteriorisch: Die Menschwerdung des Sohnes Gottes kann das Judentum nicht annehmen, weil es diese Geschichte nicht hört, weil das Wort Gottes, so wie es vom Judentum gehört wird, ihm das nicht sagt, und weil der jüdische Glaube das nicht bezeugt(12). Die Menschwerdung sei also von der Tradition her kein jüdisches Diskussionsthema. Deshalb hat Martin Buber schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von der Inkarnationslosigkeit Gottes als einem unterscheidend Jüdischen gesprochen: "die Inkarnationslosigkeit des dem ,Fleisch‘ sich offenbarenden und ihm in der gegenseitigen Beziehung gegenwärtigen Gottes" sei "das letztlich Sondernde zwischen Judentum und Christentum"(13).
Die jüdische Kritik an der Menschwerdung des Sohnes Gottes findet in der katholischen Theologie durchaus ein aufmerksames Echo(14). Wo die Möglichkeiten und Grenzen christlicher Aufnahme dieser Einwürfe bedacht werden, geschieht dies nicht zuletzt unter Bezug auf das Christusverständnis des Konzils von Chalkedon (451) und eine sogenannte chalkedonische Hermeneutik. Das Konzil von Chalkedon hat in Christus das Zueinander von "Menschheit" und "Gottheit" als unvermischt und zugleich ungetrennt gedacht: Im menschlichen Antlitz Jesu von Nazaret schaut uns das göttliche Wort, der göttliche Sohn an; in Jesus verschmelzen Menschliches und Göttliches nicht miteinander und dürfen nicht voneinander getrennt werden. Die berühmte Formel lautet: "ein und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist" (DH 301f.). Diese konziliare Vorgabe hat ihre bleibende Bedeutung, wenn christliche Theologie auf die jüdische Kritik an der Menschwerdung des Sohnes Gottes einzugehen versucht.
In der aktuellen jüdischen Kritik begegnet eine jüdische Tradition, die auf eine mittelalterliche Diskussionslage im Judentum zurückgeht. Sie bildet in der Regel den unausgesprochenen Hintergrund für heutige jüdische Wortmeldungen zur Gottesfrage. Im Frühmittelalter bezeichnen Autoren im innerjüdischen Diskurs ihren Eindruck, die christliche Verehrung Jesu Christi als wesensgleicher Sohn Gottes trage in Gott selbst ein nichtgöttliches Element ein, mit dem hebräischen Begriff schittuf. Religionsgesetzlich ist der Begriff schittuf so etwas wie ein christentumsfreundlicher Begriff. Das Christentum sei jüdisch gesehen keine Götzenanbetung (awoda sara), mit deren Anhänger man keinen Kontakt haben dürfe, sondern eben ein schittuf: es trage in Gott ein Mischelement der Zugesellung, der Assoziation, der Vergesellschaftung ein und verdunkle die klare Offenbarung vom eineneinzigen Gott(15). Der schittuf-Begriff ist Reflex des jüdischen Unbehagens an der Menschwerdung (des Sohnes) Gottes, das sich durch Emmanuel Levinas in unseren Tagen so eindrücklich zu Wort meldet. Sein Einwand ist in der Bezogenheit auf den schittuf-Begriff aufzunehmen und für eine Christologie der "chalkedonischen Hermeneutik" zu bedenken.
Das Profil des christlichen Inkarnationsglaubens und das jüdische Wissen um Gottes Selbsterniedrigung
Wenn Christen im Glauben sagen: Wir glauben an die Fleischwerdung oder Menschwerdung des Sohnes Gottes in Jesus Christus, dann sagen sie damit, daß sie ein Ereignis der Geschichte der Welt bedenken, das nicht wie ein Meteorit auf die Erde gefallen ist, sondern uns aus einer bestimmten Geschichte der Welt und Gottes mit der Welt entgegenkommen ist und die Geschichte mitgeprägt hat. Der christliche Glaube ist so kühn zu sagen: Das Ereignis der Inkarnation des Sohnes Gottes ist ein Veränderungsdatum nicht nur in der Geschichte, sondern der Geschichte selbst. Es ist im Johannesevangelium mit dem Satz zum Ausdruck gebracht: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." Die Doppelaussage von Joh 1, 14 ist ganz ernst zu nehmen: Die Fleischwerdung ist ebenso wichtig wie das Wohnen des Wortes unter uns. Das Zeugnis von der Fleischwerdung des Wortes sagt aus, was "im Zeugnis von dem ,Zelten‘ Gottes und seines Namens ,inmitten‘ Israels schon ausgesagt war ... beides meint dasselbe"(16). Die erste Vershälfte sagt "christlich", was die zweite Vershälfte "jüdisch" ausspricht. Die biblische Sprache verwandelt sich in der Geschichte der Kirche andere Sprechkategorien an, so daß "jüdische" Kategorialität sich schließlich "philosophisch" ausspricht. Daß Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, durch den Sohn herabsteigt und sein Sohn und Wort Fleisch und Mensch wird, ist dem jüdischen Gottesverständnis sehr fremd. So hat Israel, in dessen Mitte das Ereignis der Fleisch- und Menschwerdung geschah und aus dessen Mitte es auf die Völker zugekommen ist, als ganzes von der Nähe Gottes nicht gesprochen, obwohl es innige Einsichten von Gottes Nähe hat. Dieses hat das jüdische Volk in seiner Mehrheit nicht gehört, weil das Wort Gottes, wie es von ihm verstanden wurde, ihm das nicht sagte.
In bezug auf die intime jüdische Kenntnis von Gottes Nähe bei seinem Volk und auf die jüdisch-christliche Verwandtschaft im Bekennen göttlicher Nähe hat Michael Wyschogrod sich nicht gescheut, zur Kennzeichnung des Judentums eine Formulierung zu wählen, die auf den ersten Blick wie eine Gegenthese zu Bubers Formel von der "Inkarnationslosigkeit" anmutet: Der Gott Israels ist "ein Gott, der in die Welt des Menschen eintritt und der, indem er das tut, die Parameter der menschlichen Existenz, einschließlich der Räumlichkeit, nicht scheut. Es stimmt, das Judentum vergißt nie das Dialektische, den transzendenten Gott ... Doch diese Transzendenz bleibt in dialektischer Spannung mit dem Gott, der bei Israel in seiner Unreinheit wohnt (Lev 16,16), der der vertraute Gefährte des Juden ist, ob im Salomonischen Tempel oder in den Tausenden von kleinen Gebetsräumen ... Das Judentum ist daher inkarnatorisch - wenn wir unter diesem Begriff die Vorstellung verstehen, daß Gott in die Welt des Menschen eintritt, daß er an bestimmten Orten erscheint und dort wohnt, so daß sie dadurch heilig werden." Für Wyschogrod bestehen "im Wesen der jüdischen Gottesvorstellung" keine Gründe, die von vornherein Gottes "Erscheinen in Menschengestalt" ausschließen; würde man dies jüdischerseits behaupten und von "einer logischen Unmöglichkeit" sprechen, dann würde man "ein philosophisches Schema an die Stelle der Souveränität Gottes" setzen. Das aber könne keine "biblisch orientierte, verantwortliche jüdische Theologie" Akzeptieren(17). Die Idee der Menschwerdung im allgemeinen ist nach dieser Position nicht grundsätzlich antithetisch zum Judentum(18).
Fällt dann der jüdische Einwurf gegen den christlichen Inkarnationsglauben dahin? Nein, vielmehr wird der jüdische Einwurf pointierter. Nicht eine philosophische Idee wird hier als Ablehnungsgrund ins Feld geführt, sondern mit der biblisch orientierten anthropomorphen Redeweise wird kritisiert, daß das, was dem jüdischen Volk als ganzem zukommt, im Christentum einem einzelnen aus diesem Volk zugeschrieben wird. Das sei der Differenzpunkt zwischen Judentum und Christentum. In Wyschogrods eigener Formulierung:
"Das Christentum hat diese Tendenz (Gottes, inkarnatorisch in die Welt des Menschen einzutreten) konkretisiert, sie so zugespitzt auf eine spezifische Inkarnation, daß die jüdische Tendenz zur Räumlichkeit dabei eine körperliche Form annimmt. Während im Judentum die Dialektik von Transzendenz und Immanenz immer recht scharf aufrecht erhalten wird, erfährt im Christentum der Aspekt der Immanenz vielleicht einen stärkeren Ausdruck - auch wenn man daran denken muß, daß die Trinitätstheologie den inkarnierten Sohn durch einen transzendenten Vater ergänzt."(19)
Auch wenn die Wahrung der Transzendenz im christlichen Gottesverständnis ausdrücklich anerkannt wird, liegt die christlich-jüdische Differenz in der Konzentration und Spezifizierung auf den einen Juden. Wyschogrod spitzt seinen Gedanken zu: Das Christentum, das nach der Zerstörung des Judenchristentums zum Heidenchristentum geworden war, "konzentrierte seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf Jesus".
Damit fehlte ihm "eine zentrale theologische Einsicht .. . Einfach ausgedrückt spreche ich von dem Axiom, daß Gott das jüdische Volk als ganzes erwählt hat und daß auch, obwohl er aus seinem Volk Propheten, Könige, Retter und Priester berufen hat .. . sie alle ihre Bedeutung nur insofern hatten, als sie aus Israel kamen und nach Israel zurückkehrten als Glieder der Nation .. . Wenn wir die Hebräische Bibel ernst nehmen, kann es keinen einzelnen geben, so bedeutend und prominent er auch sein mag, dessen Gottesbeziehung einseitig ist, so daß dabei das Volk Israel nicht der entscheidende Zweck wäre, dem diese Beziehung dient."(20)
Wenn das, was jüdisch vom ganzen Volk als inkarnatorische Bestimmung im Sinn der Indienstnahme als Ort der Einwohnung Gottes geglaubt wird, christlich dem einen Sohn des jüdischen Volks in und als Person zugesprochen wird, ist das jüdisch nicht akzeptiert und nicht akzeptierbar. Wir stehen hier vor einer jüdisch beschriebenen Dialektik von bleibender Differenz und doch gegebener Nähe.
Christliche Entgegnung auf jüdischen Einspruch
Was kann der Christ auf die jüdische Kritik am christlichen Glauben an die Inkarnation des Sohnes Gottes in Jesus Christus und zum jüdischen Selbstverständnis des Inkarnatorischen sagen? Die Antwort soll nicht philosophisch sein, sondern theologisch. Man kann an Wyschogrod anknüpfen. Es war nicht der Siegeszug einer philosophischen Idee, sondern die freie Entscheidung des souveränen Gottes Israels, so in dem einen Sohn des jüdischen Volkes Jesus von Nazaret Wohnung zu nehmen, daß wir von Gott nicht mehr ohne dessen Verhältnis zu diesem Sohn sprechen können und für die Kennzeichnung der Wohnungsnahme Gottes keinen besseren Begriff als den der Fleischwerdung des Wortes oder Sohnes Gottes aufbieten Können(21). Hier ist nochmals die Doppelaussage Joh 1, 14 in Erinnerung zu rufen: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." Das Zeugnis von der Fleischwerdung des Wortes sagt nach johanneischem Verständnis dasselbe aus wie das Zeugnis vom Wohnen Gottes in Israel, aber anders. Das ist den Christen aus den Völkern mitten aus Israel heraus bezeugt worden als freie Tat des Gottes Israels an dem Sohn des jüdischen Volkes Jesus von Nazaret.
Im Blick auf den Einwurf von Levinas, die Menschwerdung sei zuviel für Gottes Armut und zu wenig für Gottes Herrlichkeit, besteht die christliche Antwort in der schlichten und philosophisch wehrlosen Rückfrage: Was aber, wenn es dem Gott Israels gefallen hat, eine Nähe einzugehen, die in der Tat als ein Zuviel erscheint für die göttliche Armut, und eine Anwesenheit zu wagen, die als ein Zuwenig erscheint für Gottes Herrlichkeit, ohne die seine Armut keine Erniedrigung ist? Daß es so ist, darin besteht christlicher Glaube. Über ihn verantwortungsvoll nachzudenken, verbietet jeden triumphalistischen Zug, etwa in dem Sinn, unsere Rückfrage sei der bessere Glaube als der jüdische oder die größere Hoffnung oder tiefere Liebe als die jüdische. Ob es das alles ist, wird sich am Ende unseres Lebens oder - für uns alle - am Ende der Geschichte erweisen, wenn unser Glaube vom Herrn der Geschichte gewogen wird. Unser Glaube sei nicht zaghaft, wohl demütig, ohne Anspruch auf einen Komparativ, ohne Polemik gegen den jüdischen Glauben.
Der kritische Einwurf von Levinas gegen die Idee "Ein Gott Mensch?" ist Teil des Unbehagens, welches sich im Mittelalter mit dem schittuf-Begriff artikulierte. Es ging aus dem Eindruck hervor, die christliche Verehrung Jesu Christi als wesensgleicher Sohn Gottes trage in Gott selbst ein Mischelement ein. Wyschogrod hat die jüdische Beunruhigung beschworen, als er meinte:
"Es gibt eine gute Begründung für die Schärfe der jüdischen Ablehnung der Menschwerdung. Wenn Gott in der Hebräischen Bibel dem Menschen auch noch so nahe kommt, wenn er auch noch so einbezogen wird in menschliche Hoffnungen und Ängste - so bleibt er doch der ewige Richter des Menschen, dessen Natur zwar im Bilde Gottes ist (vgl. Gen 1,26f.), der aber nicht mit Gott vermischt werden darf ... In diesem Licht kann die Aussage, ein menschliches Wesen sei Gott gewesen, nur tiefste Beunruhigung in der jüdischen Seele auslösen."(22)
Christliche Theologie wird die jüdische Kritik und Beunruhigung nicht befriedigen können. Aber sie kann eine Sensibilität ihr gegenüber entwickeln, indem sie das Verhältnis von menschlicher und göttlicher Natur in Jesus Christus nicht mit Begriffen von Vermischung, Verschmelzung und Symbiose auslegt.
Im schittuf-Einwurf meldet sich eine Glaubenseinsicht, die in meinen Augen sachlich in Berührung steht mit jener Glaubenseinsicht, welche das Konzil von Chalkedon mit seinem Nachdruck auf den einen und selben Christus "in zwei Naturen unvermischt" bekannt und mit dem Zusatz "nirgends (ist) wegen der Einigung der Unterschied der Naturen aufgehoben" (DH 302) bekräftigt hat.
Walter Kasper hat in seiner Christologie unterstrichen, daß Chalkedon unzweideutig festhält, "daß Gott und Mensch keine Natursymbiose bilden; Gott wird in der Menschwerdung kein innerweltliches Prinzip; er wird weder verräumlicht noch verzeitlicht. Die Transzendenz Gottes wird ebenso gewahrt wie die Eigenständigkeit und Freiheit des Menschen."(23)
Das Konzil von Chalkedon hat eine Sensibilität artikuliert, welche die jüdische Beunruhigung nicht aufhebt, aber das sachlich verwandte Anliegen signalisiert: Es meint kein Zwischenwesen, das aus der Vermischung von Göttlichem und Menschlichem entsteht, sondern den einen und selben Christus "in zwei Naturen unvermischt".
Menschwerdung des Sohnes Gottes als Judewerdung
Michael Wyschogrod hat seinen Einspruch gegen das christliche Inkarnationsverständnis mit der Forderung verknüpft, Jesus nicht vom jüdischen Volk zu trennen. Das ist in der Tat oft genug geschehen und geschieht immer dann, wenn man von der Inkarnation in einer Weise redet, daß der Sohn Gottes in Jesus Christus ein "Mensch in abstracto, allgemein und neutral" geworden ist. Gottes Sohn, sein Wort ist in Jesus von Nazaret aber nicht Mensch in abstracto, nicht allgemein oder neutral Mensch geworden: Vielmehr ist er jüdisches Fleisch, Jude, Sohn einer jüdischen Mutter und als solcher konkret Mensch geworden. Darauf wies "Nostra Aetate", Artikel 4 hin, als es an die Worte des Paulus erinnerte, "der von seinen Stammverwandten sagt, daß ,aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt‘, der Sohn der Jungfrau Maria." Darin ist die theologische Aussage impliziert: Menschwerdung des Wortes, des Sohnes Gottes geschah als Judewerdung(24). Die Judewerdung des Sohnes Gottes ist ein Grunddatum christlicher Theologie! Die Konkretheit der Menschwerdung des Sohnes Gottes in Jesus Christus ist ernstzunehmen.
Lehramtliche Äußerungen der letzten beiden Jahrzehnte sind darauf eingegangen. So führen die vatikanischen Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche vom 24. Juni 1985 das Nachdenken über die jüdischen Wurzeln des Christentums mit einer christologischen Reflexion ein:
"Jesus war Jude und ist es immer geblieben; seinen Dienst hat er freiwillig auf ,die verlorenen Schafe des Hauses Israel‘ (Mt 15,24) beschränkt. Jesus war voll und ganz Mensch seiner Zeit und seines jüdisch-palästinischen Milieus des 1. Jahrhunderts, dessen Ängste und Hoffnungen er teilte. Damit wird die Wirklichkeit der Menschwerdung wie auch der eigentliche Sinn der Heilsgeschichte nur noch unterstrichen ... (Es) ist der Sohn Gottes in einem Volk und einer menschlichen Familie Mensch geworden (vgl. Gal 4,4; Röm 9,5)."(25)
Kein Geringerer als Papst Johannes Paul II. hat in seinen Aussagen zum Verhältnis der Kirche zum Judentum tiefsinnig über die konkrete Wirklichkeit der Menschwerdung des Gottessohnes nachgedacht. Am 11. April 1997 empfing er die Päpstliche Bibelkommission und ging in seiner Ansprache auf die menschliche Identität Jesu ein. Er bietet eine Art Kurzformel der Menschwerdung des Sohnes Gottes als Judewerdung:
"Die menschliche Identität Jesu wird von seiner Bindung an das Volk Israel her bestimmt, war er doch aus dem Geschlecht Davids und ein Nachkomme Abrahams, und es handelt sich dabei nicht nur um eine physische Zugehörigkeit. Jesus nahm an den synagogalen Zeremonien teil, bei denen die Texte des Alten Testaments gelesen und kommentiert wurden, und so nahm er auch auf menschliche Weise Kenntnis von jenen Texten. So wurde er ein echter Sohn Israels, tief verwurzelt in der langen Geschichte seines Volkes. Spricht man Christus seine Verbindung ... ab, dann bedeutet das, ihn von seinen Wurzeln zu trennen und sein Mysterium allen Sinnes zu entleeren. In der Tat bedurfte auch die Fleischwerdung einer Einbindung in Jahrhunderte der Vorbereitung, um ihren Sinngehalt erkennen zu lassen; denn sonst wäre Christus nur, gleich einem Meteoriten, der zufällig auf die Erde fällt, ohne jegliche Verbindung mit der menschlichen Geschichte empfunden worden."(26)
Diese theologische Konkretion ist dem Papst wichtig. Er greift den Gedanken wenig später nochmals auf. Im Rahmen der Vorbereitung des Großen Jahrs 2000 hatte er die Historisch-Theologische Kommission zur Vorbereitung der Jahrtausendfeier aufgefordert, sich bei der kirchlichen Gewissenserforschung besonders mit dem Problem der Wurzeln des Antijudaismus im christlichen Bereich auseinanderzusetzen. Er empfing die Teilnehmer einer vatikaninternen Konsultation am 31. Oktober 1997 und bedachte in seiner Ansprache das Verhältnis der Kirche Christi zum jüdischen Volk. Er bekräftigte dabei nicht nur sein Verständnis von der Fortdauer der Erwählung Israels und vom jüdischen Volk als "Volk des Bundes", sondern führte auch aus:
"Manche Menschen betrachten die Tatsache, daß Jesus Jude war und daß sein Milieu die jüdische Welt war, als einfachen kulturellen Zufall, der auch durch eine andere religiöse Tradition ersetzt und von der die Person des Herrn losgelöst werden könnte, ohne ihre Identität zu verlieren. Aber diese Leute verkennen nicht nur die Heilsgeschichte, sondern noch radikaler: Sie greifen die Wahrheit der Menschwerdung selbst an und machen eine authentische Auffassung der Inkulturation unmöglich."(27)
Die Zuwendung zur schwierigsten Frage im christlich-jüdischen Verhältnis und Dialog unserer Tage hat sich der jüdischen Kritik an der christlichen "Idee" der Menschwerdung des Sohnes Gottes in Jesus Christus zu stellen. Von dieser Kritik her kann nochmals das Profil des christlichen Inkarnationsglaubens deutlicher hervortreten und zugleich gefragt werden, ob es nicht auch im tiefsten Dissens beim Gottesverständnis ein Element der Nähe und Verbundenheit, ja des Gemeinsamen gibt. Dieses stellt sich tatsächlich ein - sowohl in der Verwandtschaft des Glaubens an Gottes Herabsteigen als Selbsterniedrigung wie auch in der Anleitung, in der christlichen Auslegung des Bekenntnisses von der Menschwerdung des Sohnes Gottes für die Bekräftigung der Verbundenheit der Kirche zum jüdischen Volk empfänglich zu bleiben.
Das ist eine tröstliche Erfahrung von Theologie und Dialog unserer Tage. Sie wurde angestoßen durch das Zweite Vatikanum. Die christologischen Anstöße seiner Erklärung "Nostra Aetate" haben sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Ihre Anregungen für die Theologie wirken weiter.
Stimmen der Zeit (2006) 43-56