Leben ohne PapiereGlobalisierung - illegale Migration - Armutsbekämpfung

Es überrascht immer wieder, wie geschickt "illegale“ Migranten Elemente der "Globalisierung“, nutzen, um ihre Migrationsprojekte zu planen und umzusetzen. Unter Globalisierung wird dabei nicht nur die neoliberale Globalisierung des Wirtschafts- und Finanzsystems verstanden, sondern die generelle "Verdichtung und Beschleunigung grenzüberschreitender Interaktionen, die faktisch oder der Möglichkeit nach alle Individuen, Institutionen und Staaten zu einem komplexen Gefüge wechselseitiger Abhängigkeiten miteinander vernetzen.“(1) Das beinhaltet verbesserte Verkehrsinfrastruktur, elektronische Kommunikationsmöglichkeiten, die Ausbreitung von Englisch als Unterrichtsfach und die Intensivierung des grenzübergreifenden Personen- und Warenverkehrs.

Wer sich mit den Zusammenhängen zwischen Globalisierung, illegaler Migration und Armutsbekämpfung befaßt, merkt schnell, daß es dazu kaum empirisch fundierte Informationen gibt; bestenfalls gibt es Forschungen im Bereich legaler Migration. Dies ist nachvollziehbar: "Illegale“ Migranten sind stets bemüht, sich vor Sozialwissenschaftlern oder Behörden zu verbergen. Das bedeutet, daß man in diesem Bereich auf sehr fragmentarische Informationen bzw. auf grobe Schätzungen angewiesen ist. Neben der Abschottung des "Illegalenmilieus“ gegen Außenseiter spielen hier Definitionen eine Rolle, nämlich, wer genau als "illegaler Migrant“ zu gelten hat: Sind etwa bereits Migranten, die im Besitz einer behördlich ausgestellten "Duldung“ sind oder lediglich jene, die über keinerlei von den Behörden ausgestellte oder anerkannte Papiere verfügen?

Ein dreijähriger Forschungsaufenthalt in Belize (dem früheren Britisch-Honduras) und in den USA ermöglichte mir einen Einblick in das illegale Migrations - geschehen zwischen Mittelamerika und den Vereinigten Staaten von Amerika. Mit Methoden der qualitativen Sozialforschung wurden Informationen unter "illegalen“ Migranten, deren Angehörigen und Experten gesammelt. Die so gewonnenen Erkenntnisse wurden anschließend unter Hinzuziehung von Fachliteratur geprüft, reflektiert und in einen weiteren Kontext gesetzt. Außerdem wurden Ergebnisse früherer Feldstudien unter der Perspektive des geschilderten Forschungsinteresses neu gesichtet und - wo möglich - aktualisiert(2).

Globalisierungsprozesse erzeugen illegale Migration

Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß illegale Migration durch Strukturanpassungsprogramme, Freihandel oder ausländische Direktinvestitionen - Kernelemente der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung - zumindest mitverursacht wird. In der Ukraine etwa kam es aufgrund von Strukturanpassungsmaßnahmen (zum Beispiel durch die Schließung unprofitabler Staatsbetriebe) zu einem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit, in Mexiko durch die Freihandelszone NAFTA, in El Salvador durch die große ausländische Direktinvestition eines Minenkonsortiums. Allein aus diesen drei Ländern wurden nach Schätzungen mehrere Millionen Menschen in die illegale Migration getrieben(3).

Die Auswertung von Interviews, Migrationsstatistiken sowie polizeilicher Aufgriffs- und Abschiebungsstatistiken legt dabei eine Parallele zwischen illegalen "Migrationsflüssen“ und dem "Fluß von Finanz-, Waren- und Dienstleistungsströmen“ nahe: In Ländern, zwischen denen Geld und Waren in hohem Ausmaß zirkulieren, ist auch eine größere Anzahl "illegaler“ Migranten nachweisbar. Umgekehrt sind Länder, in die kaum ausländische Direktinvestitionen fließen und die vom Welthandel abgeschnitten sind, zugleich jene, aus denen kaum "illegale“ Migranten anzutreffen sind. Recherchen in diesem Feld erhärten die These, daß man keine globale Integration der Märkte erstreben und gleichzeitig sicherstellen kann, daß Migranten von dieser Zirkulation ausgeklammert bleiben.

Allerdings handelt es sich nicht um eine Einbahnstraße: Verbesserungen der wirtschaftlichen Situation der Herkunftsländer bewegen "illegale“ Migranten zu einer Rückkehr. Im Sommer 2006 konnte in Berlin beispielsweise nur noch ein Bruchteil jener ukrainischen "Illegalen“ angetroffen werden, die sich zwischen 1995 und 2005 dort aufgehalten haben, weil danach die wirtschaftliche Lage zuhause deutlich besser war als in den Jahren nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjet - union. Freilich: Dieser positive Trend wird durch die Auswirkungen der gegenwärtigen Finanzkrise erneut in Frage gestellt, da in der Ukraine wieder Arbeitsplätze verlorengehen.

Strukturanpassungsprogramme, Freihandel und ausländische Direktinvestitionen sind dabei nicht als solche migrationsverursachend, sondern ihre praktische Ausgestaltung und Umsetzung. Wenn durch Protektion und Subvention bestimmte Partner begünstigt werden, zeigt sich, daß Freihandel nicht wirklich "frei“ ist und Strukturanpassungsmaßnahmen werden durchgeführt, ohne daß man sich über die soziale Absicherung betroffener Bevölkerungsgruppen ausreichend Gedanken macht. Joseph Stiglitz, der damalige Chefökonom der Weltbank, meinte bereits 1999 im Hinblick auf die vom Internationalen Währungsfonds eingeforderten Strukturanpassungsprogramme in der Ukraine: "Lehrbuch-Ökonomie ist eine gute Sache, wenn es darum geht, Studenten zu unterrichten, nicht aber, wenn man Regierungen berät, von Grund auf eine Marktwirtschaft aufzubauen.“(4)

Vor allem in Regionen, wo Arbeitslosen- und Sozialversicherungen kaum existieren, ist Migration dorthin, wo man Jobs vermutet, oft die einzige Alternative zu einem Leben in Armut und Perspektivlosigkeit. Haben aber Menschen Grund zur Annahme, anderswo Arbeit zu finden, dann fällt kaum ins Gewicht, wenn eine Migration nur illegal möglich ist. Die Hoffnung auf Besserung ist stärker als die Gewißheit andauernder Armut. Für diese Hoffnung ist man - falls nötig - auch bereit, sich gegenüber "Schleusern“ hoch zu verschulden, weil dies als eine Investition in eine finanziell gesichertere Zukunft gesehen wird.

Durch das weltweite Zusammenwachsen werden inzwischen selbst solche Regionen in das illegale Migrationsgeschehen einbezogen, wo Menschen bis vor kurzem noch den Weg in die eigene Provinzhauptstadt als "Weltreise“ betrachteten. Dies ist beispielsweise anhand von Migrationsnetzwerken der Q'eqchi Maya zwischen dem Toledo Distrikt in Belize und Los Angeles nachweisbar. Toledo ist eine Gegend, in die bis vor 30 Jahren kaum Straßen führten, wo noch heute weite Teile nicht einmal elektrifiziert sind und viele Menschen noch von Subsistenz- und Tauschwirtschaft leben. Neuere Entwicklungen wie die Möglichkeit, Kinder auf die Highschool zu schicken, ein palmblattgedecktes Holzhaus durch ein Betongebäude zu ersetzen oder ein kleines Geschäft zu gründen, erfordern Bargeld. Wenn nun der Ertrag der kleinbäuerlichen, familiären Landwirtschaft zu gering ist, um diese Kosten durch Verkauf auf dem Wochenmarkt zu decken oder wenn man aus verschiedenen Gründen nicht für einen Bankkredit qualifiziert ist, dann bleibt illegale Migration eine Option für jene, die intelligent, unternehmensfreudig und abenteuerlustig sind.

Globalisierungsprozesse erleichtern illegale Migration

Das Beispiel des Toledo Distrikts zeigt die Bedeutung transnationaler Netzwerke von Verwandten und Bekannten bei illegalen Migrationsprojekten: Wann immer belizeanische Maya erfolgreich emigrieren, liegt es an den Kontakten zu ihren guatemaltekischen Verwandten. Letztere wanderten schon vor Jahrzehnten, etwa aufgrund der Repression durch das guatemaltekische Militär, in die USA aus und leben und arbeiten dort seither legal oder illegal. Der Informationsfluß zwischen diesen Familien ist heute einfacher denn je: Detaillierte Informationen über Migrations-, Beschäftigungs- und Unterkunftsmöglichkeiten können per Handy übermittelt werden, weil die belizeanische Grenzregion zu Guatemala, die weder ein Stromnoch Telefonnetz besitzt, vom guatemaltekischen Handynetz erreicht wird. Über diese Verwandten bzw. in der Region ansässige kommerzielle und kriminelle "Reise agenturen“ wird dann die Reise abgewickelt und (in der Regel durch Verschuldung) finanziert.

Sodann gewinnt das Internet an Bedeutung, was man bei Highschool-Absolventen im Toledo Distrikt beobachten kann: Diese jungen Männer und Frauen sind gut ausgebildet, finden aber vor Ort aufgrund einer Jugendarbeitslosigkeit von 39 Prozent keine Arbeit. Deshalb wollen sie ihr Glück in den USA versuchen. Ihr Bild von Amerika und den Lebensverhältnissen dort ist aber entscheidend durch die sich allmählich verbreitenden Videos und DVDs geprägt oder durch Recherchen im (an den Highschools verfügbaren) Internet. Gerade Filme tragen aber dazu bei, daß sie ein unrealistisches, viel zu optimistisches Bild von den USA haben und sich nach einer Migration oft in unerwartet ernüchternden Lebensumständen wiederfinden. Ein letzter - globalisierungsbedingt - typischer Einfluß auf die Entscheidung zu illegaler Migration sind Kontakte mit Touristen, die aufgrund billiger und verbesserter Reiseangebote vermehrt nach Belize kommen, sich mit örtlichen Bewohnern anfreunden, auch nach dem Urlaub per E-mail mit ihnen kommunizieren und sie irgendwann zu sich in die USA einladen. Geschieht dies aber, wandelt sich ein Besuch oft in unerlaubten Aufenthalt und unerlaubte Arbeitsaufnahme.

Mit der Zunahme globaler Vernetzung legen Migranten immer weitere Entfernungen zurück: Im Zentralamerika der 70er Jahre migrierten 50 Prozent der Menschen innerhalb der Region, 50 Prozent verließen sie in Richtung USA. 1980 verließen bereits 80 Prozent der Migranten die Region in Richtung USA, 1990 sogar 93 Prozent(5). Dies ist auch anderswo erkennbar, etwa beim Migrationsgeschehen zwischen Afrika und der Europäischen Union. Allein Marokko registrierte zwischen den Jahren 2000 und 2005 eine Verzehnfachung der über Algerien eingewanderten schwarzafrikanischen Migranten:

"Es gibt gute Gründe zur Annahme, daß diese Tendenz sich beschleunigt, weil das subsaharische Afrika über ein höheres Emigrationspotential in die EU verfügt als jede andere Weltregion. Einige Experten vermuten gar, daß sich die Bevölkerungsbewegungen aus Afrika mittel- und langfristig zu einer der größten in der Geschichte entwickeln könnten.“(6)

Wohlgemerkt: mittel- und langfristig. Kurzfristig ist ein Sinken der Migration anzunehmen: Erste Zahlen legen nahe, daß die Neuzuwanderung von "illegalen“ Migranten aus Afrika in die Europäische Union aufgrund der Weltwirtschaftskrise abnimmt. Auf dem Hintergrund der Auswirkungen aber, die diese Krise südlich der Sahara haben dürfte, wird dieser Rückgang vermutlich nicht von Dauer sein.

Illegale Migration und Armutsbekämpfung

Illegale Migration hat eine lindernde Auswirkung auf die Armut im Herkunftsland. Zunächst verlassen Menschen das Land, die dort ohnehin keine Arbeit hätten und deshalb ihren Familien zur Last fallen würden. Sodann sind die Gelder, die diese Migranten nach Hause überweisen, von enormer Bedeutung. Diese Rücküberweisungen werden aufgrund der englischen Bezeichnung "remittances“ auch als "Remissen“ bezeichnet. Nach Weltbankschätzungen handelte es sich hier im Jahr 2008 um 305 Milliarden US-Dollar - und dies trotz der sich bereits seit 2007 anbahnenden Wirtschaftskrise(7). Der reale Betrag dürfte noch um einiges höher liegen, da Rücküberweisungen, die außerhalb des formalen Bankensystems transferiert werden (etwa per Kurier oder per Telephon), sich der statistischen Erfassung entziehen; gerade "Illegale“ sind, da ihnen mangels gültiger Papiere etwa die Einrichtung eines Bankkontos nicht möglich ist, auf informelle Kanäle angewiesen(8).

Rücküberweisungen von Migranten entsprechen dem Doppelten von dem, was die Staaten der Welt jährlich zusammen an Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen. Sie betragen zwei Drittel der ausländischen Direktinvestitionen. In vielen Ländern sind sie die Haupteinnahmequelle an ausländischem Kapital, noch vor Einnahmen durch Tourismus, ausländische Direktinvestitionen, Rohstoffexport oder Handel(9). Gewöhnlich wird eingewendet, daß diese Gelder von den Familien zuhause "nur“ für Konsum und Hausbau verwendet werden. Trotzdem schafft dieses Geld vor Ort Arbeitsplätze, etwa weil Frauen, deren Männer "illegale“ Migranten sind, örtliche Arbeitskräfte für die Erledigung der Feldarbeit oder den Hausbau anstellen. Darüber hinaus sichern Rücküberweisungen die Ausbildung von Kindern und heben das Gesundheitsniveau, weil Ärzte bezahlt werden können.

Rücküberweisungen legaler und "illegaler“ Migranten senken das Armutsniveau im Herkunftsland: Eine Studie, die Daten aus 71 Entwicklungsländern berück - sichtigt, erbrachte den Nachweis, daß "ein zehnprozentiger Anstieg des Migrantenanteils an der Bevölkerung eines Landes zu einem Rückgang zwischen 2,1 bis 3,5 Prozent jenes Bevölkerungsanteils führt, der weniger als einen US-Dollar am Tag zum Leben hat.“(10) Rücküberweisungen senken Armut quantitativ, vor allem aber qua litativ: Für Guatemala beispielsweise ergeben Studien, daß 60 Prozent der Einnahmen von Haushalten im untersten Einkommenszehnt aus Rücküberweisungen bestehen. Diese Haushalte gelten immer noch als "arm“, sind aber relativ besser gestellt als zuvor:

"Internationale Remissen haben einen größeren Einfluß auf die Reduzierung des Aus - maßes von Armut als auf die Anzahl der Armen. Anders gesagt: Sie sind tatsächlich hilfreich für die Ärmsten der Armen.“(11)

Das Potential der Rücküberweisungen für Armutsbekämpfung und Entwicklung könnte optimiert werden, wenn diese Gelder auch in die Entwicklung örtlicher Infrastruktur gelenkt werden könnten. Hier ist Mexiko mit dem sogenannten "Tres por uno“-Programm beispielhaft: In bestimmten Regionen schießen kommunale, bundes- und zentralstaatliche Stellen jedem Dollar, den Migranten oder ihre Angehörigen in öffentliche Projekte (z.B. Straßen, Schulen, Sportplätze) investieren, je einen weiteren Dollar zu. Hinderlich für die Gründung arbeitsplatzschaffender Betriebe ist in vielen Weltgegenden, daß vorhandene Gelder nicht durch Kredite aufgestockt werden können, daß keine Rechtssicherheit für Betriebsgründer existiert, oder daß Absatzmärkte und Vertriebswege für mögliche Erzeugnisse fehlen.

Allerdings: Illegale Migration ist auch auf dem Hintergrund der Armutsbekämpfung nicht nur positiv zu bewerten - vor allem aufgrund der monetär nicht quantifizierbaren sozialen Kosten, die damit einhergehen. Kontakte mit "illegalen“ Migranten in Deutschland, den USA und Mittelamerika zeigen, daß die Familien unter der Abwesenheit der Eltern leiden. In Mittelamerika, wo der Mann im Haus das Sagen hat, steigen Spannungen in der Familie, weil es Müttern schwerfällt, Autorität gegenüber ihren Söhnen durchzusetzen; in Osteuropa zerbrechen Familien, weil die Väter während der Abwesenheit ihrer Frauen mit Kindererziehung und Haushaltsführung überfordert sind. Sodann kann im Fall von längerer Abwesenheit das Phänomen der "dependency“ beobachtet werden: Angehörige legen im Herkunftsland die Hände in den Schoß, weil sie sich an den im Ausland verdienten Geldsegen gewöhnen. Es geht ihnen so viel besser als dem Bevölkerungsdurchschnitt um sie herum, daß es sich für sie nicht lohnt, sich selbst anzustrengen und mehr aus ihrem Leben machen zu wollen.

Hinzu kommen die physiologischen und psychischen Schäden, die ein illegales Migrationsprojekt bei den Migranten selbst hinterlassen kann: Gerade weil sie auch in Notzeiten ihren Familien Geld überweisen wollen und Schulden abzahlen müssen, arbeiten sie zu viel, schlafen zu wenig und essen ungesund. Es braucht nicht einmal "Streßbewältigungshilfen“ wie Drogen, Zigaretten und Alkohol, um sich dabei zu ruinieren. An Krankheit scheitert letztlich oft sogar der Traum von der Heimkehr ins Herkunftsland zum Altwerden: Dort gibt es keine medizinische Versorgungsmöglichkeiten für die vielen Krankheiten, die sie sich im Lauf ihres Migrantendaseins erworben haben.

Grenzabschottung in einer globalisierten Welt?

Im Umgang der Industriestaaten mit dem Phänomen der illegalen Migration in der globalisierten Welt herrscht immer noch der im Nationalstaatsdenken verwurzelte Abschottungsansatz vor, der sich vor allem auf Außengrenzkontrollen konzentriert. Weltweit beachtet wurden zwischen 2004 und 2007 die Initiativen von USPräsident George W. Bush, dem "Illegalenproblem“ in den USA (deren Zahl damals auf etwa elf bis zwölf Millionen geschätzt wurde) mit zwei aufeinander bezogenen Initiativen beizukommen: Einer verschärften Grenzsicherung sowie einer Reform der Einwanderungsgesetze. Letztere sollte einen einfacheren Modus für legale Kurzaufenthalte ("Gastarbeiterprogramm“) und eine kriteriengeleitete Legalisierungsmöglichkeit für "Illegale“ miteinschließen. Diese Reform scheiterte 2007 nach zähem Ringen im Senat, die Grenzsicherungspläne hingegen wurden umgesetzt: Für einen Hightech-Zaun, der ein Drittel der Grenze zwischen den USA und Mexiko abriegeln sollte, wurden im Oktober 2006 1,2 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Im Sommer 2008 war der Zaun noch nicht einmal zur Hälfte fertiggestellt, und die Kosten waren von ursprünglich geplanten 4,4 Millionen auf 7,2 Millionen US-Dollar pro Meile gestiegen(12).

Dabei läßt sich durch empirische Beobachtungen des Migrationsgeschehens an den Außengrenzen der Europäischen Union ebenso wie an der Grenze zwischen den USA und Mexiko feststellen, daß Zäune, Sensoren und Mauern illegale Migration nicht verhindern können, sondern sie lediglich umlenken, verzögern - und verteuern(13). Die Folgen der Grenzsicherung sind: "Illegale“ nehmen höhere Kredite auf, um sich kenntnisreichere Schleuser oder längere Umwege leisten zu können und geraten so in eine Art Schuldknechtschaft; außerdem nehmen Verletzungen und Todesfälle zu. An der Südgrenze der USA ist zwischen 1998 und 2004 eine Zunahme der Todesfälle - etwa beim Versuch der Wüstendurchquerung - um 29,1 Prozent zu verzeichnen(14).

Entscheidender für die geringe Effizienz der Kontrollbemühungen ist aber, daß der Personen- und Warenverkehr, der sich im Zeitalter der Globalisierung täglich über die Grenzübergänge wälzt, nicht angemessen auf Mißbrauch kontrolliert werden kann. In den USA passieren den größten (und laut "illegalen“ Gesprächspartnern für sie populärsten) Grenzübergang Tijuana - San Diego pro Jahr 50 Millionen Menschen. Pro Tag bedeutet dies 45000 Autos mit einem oder zwei Insassen sowie 20000 bis 30000 Fußgänger. Alle müssen zwar eine Form von Identifikation vorweisen; aber zum einen gibt es hier aufgrund der vielen verliehenen oder gekauften "border crossing cards“ eine Reihe von Betrugsmöglichkeiten; zum andern bedeutet jede genauere Inspektion vorgezeigter Papiere lange Wartezeiten, gegen die sich wiederum Protest erhebt(15). Daran werden auch neue computerlesbare Karten nichts ändern, denn auch diese müssen eingelesen und ihre Informationen abgeglichen werden. Hinzu kommen Durchschlupfmöglichkeiten mit falschen Papieren bzw. echten Papieren mit falschen Identitäten, durch Korruption von Grenzbeamten und in Lastern und Containern für den Warentransport: Nur ein geringer Prozentsatz der Frachtcontainer kann beim Grenzübertritt kontrolliert werden, und es überrascht nicht, daß all jene "illegalen“ Gesprächspartner, die diesen Weg wählten bzw. ihn finanzieren konnten, beim ersten Anlauf erfolgreich waren.

Im Zeitalter der Globalisierung wird der grenzüberschreitende Personen- und Warenverkehr weiter zunehmen. Der ehemalige deutsche Innenminister Otto Schily gab bei der Einführung biometrischer Pässe zu Protokoll: Die neu ge speicherten Daten "ermöglichen die automatisierte Erkennung des Paßinhabers als Ergänzung zur herkömmlichen Kontrolle durch die Augen der Grenzbeamten“(16). Das will heißen: Nur bei "Anfangsverdacht“ durch Augenkontrolle erfolgt eine gründliche Kontrolle durch das biometrische Hightech-Erzeugnis! Schilys Pressesprecherin, Gabi Holtrup, meinte seinerzeit:

"Trotz intensivierter grenzübergreifender Kooperation und mehr Geld für Personal und technische Ausrüstung (ist) eine lückenlose Kontrolle unmöglich ... Natürlich wird nicht jedes Auto an einer Schengengrenze kontrolliert, sonst würde der Verkehr zusammenbrechen.“(17)

Präsident Barack Obama scheint wieder den zweigeteilten Ansatz zu befördern: Zwar hat auch er bereits 400 Millionen US-Dollar aus seinem ersten Konjunkturpaket in den Ausbau der Grenzübergänge gelenkt. Es gibt aber darüber hinaus Anzeichen, daß er die Einwanderungsrechtsreform wieder aufleben lassen will(18).

Politische Gestaltung der illegalen Migration

Illegale Migration ist eine Begleiterscheinung der globalisierten Weltgesellschaft, die mit herkömmlichen Mitteln nicht unterbunden werden kann: Solange es Menschen gibt, für die illegale Migration Hoffnung auf ein besseres Leben bedeutet, solange man mit diesem "business“ Geld verdienen kann, solange Arbeitgeber und Privathaushalte "illegale“ Billigarbeiter einstellen und ihre Arbeitskraft nutzen - so lange werden Mittel und Wege gefunden werden, auch die ausgeklügeltsten Kontrollen zu umgehen. Wenn aber illegale Migration nicht verhindert werden kann, sollte man versuchen, sie so zu gestalten, daß ablaufende Prozesse besser reguliert und innewohnende positive Potentiale besser genutzt werden können. Verbesserungen müssen beim Individuum ebenso ansetzen wie in den zwischenstaatlichen und internationalen Verbrechensbekämpfungs-, Migrations- und Entwicklungs - politiken.

Zum Beispiel kann man nicht weltweit Menschenrechte einfordern, wenn man nicht bereit ist, diese den im eigenen Land lebenden Menschen zu gewähren: In Deutschland ist "Illegalen“ nach wie vor der Weg zur Gesundheitsversorgung oder der Schulbesuch verbaut, weil sie Kontrolle und die Aufdeckung ihres "illegalen“ Status befürchten müssen. Für die Gewährung dieser Rechte sprechen auch rein pragmatische Gründe, etwa eine Verringerung von Ansteckungsgefahr bei bestimmten Krankheiten (z.B. Tbc) oder der Vorbeugung krimineller Karrieren bei Kindern und Jugendlichen. Eine Kohärenz in den Interessen von Aufnahmegesellschaft und "Illegalen“ besteht ebenso im Bereich der Verbrechensbekämpfung: Könnten "Illegale“ Ausbeutung, Mißbrauch, die Verletzung von arbeitsrechtlichen Standards oder gar Verbrechen zur Anzeige bringen, ohne befürchten zu müssen, daß Abschiebung das einzig sichere Ergebnis ihres Mutes ist, wäre Schwarzarbeit und Menschenhandel effektiver bekämpfbar, als es derzeit der Fall ist.

In der Migrationspolitik sollte zunächst und vor allem der mittelfristige Bedarf an legaler Zuwanderung aufgrund demographischer Entwicklung nüchtern festgestellt werden: Im "Alterungsbericht 2009“ verwies EU-Kommissar Vladimír S?pidla darauf, daß das Verhältnis von Personen im erwerbsfähigen Alter zu Personen im Rentenalter von gegenwärtig vier zu eins auf zwei zu eins im Jahr 2060 sinken wird(19). Entsprechend forderte schon im Jahr 2000 der Bericht des "United Nations Department of Economic and Social Affairs“ (UNDESA) eine "Bestandserhaltungsmigration“, um den Bestand von Arbeitskräften für anders nicht zu besetzende Arbeiten sowie Beitragszahlern für ein Weiterfunktionieren von Sozialsystemen und -kassen zu sichern. Für Deutschland bedeutet dies eine "jährliche Einwanderung von 6000 Personen pro einer Million Einwohner, um den Anteil von Personen im arbeits - fähigen Alter an der Bevölkerung zu halten“(20). In einer aktualisierten Fassung von 2006 geht UNDESA davon aus, daß aus demographischen Gründen und Gründen, die den Arbeitsmarkt betreffen, von 2005 bis 2010 jährlich weltweit 2,5 Millionen, 2010 bis 2050 jährlich 2,3 Millionen Migranten zum Ausgleich gebraucht werden(21).

Bei Überlegungen, wie dieser Bedarf durch kontrollierte Zuwanderung befriedigt werden kann, sollte man folgendes bedenken: In der Migrationswissenschaft herrscht weitgehende Einigkeit darüber, daß familiär-verwandtschaftliche, transnationale Netzwerke ein Eckstein im illegalen Migrationsgeschehen sind, weil über diese Netzwerke Informationen und Gelder zwischen Herkunfts- und Zielregion ausgetauscht werden und weil Angehörige im Zielland für Neuankömmlinge stets Erstanlaufstellen für eine Arbeits- und Wohnungssuche sind. Entsprechend sollte man solche existierende Verbindungen bei der Anwerbung neuer Arbeitskräfte berücksichtigen. Dem hätte etwa der Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes durch die rot-grüne Bundesregierung Rechnung getragen, in dem ein Punktekatalog im Entwurf des Paragraphen 20 des Aufenthaltsgesetzes neben Alter oder Ausbildung der Bewerber auch vorhandene Familienbande sowie Armut und Menschenrechtsverletzungen im Herkunftsland als Kriterien in die Gesamtbewertung von Zuwanderungsantragsstellung einbezogen hätte.

Darüber hinaus wäre zu überlegen, warum durch Anwerbung neue Migranten ins Land geholt werden sollen, wenn doch Hunderttausende "Illegale“ bereits im Land leben, die über die Jahre unglaubliche Integrationsleistungen erbracht haben, denn: "Illegale“ sind sehr bemüht, sich dem neuen Lebensumfeld anzupassen, weil Auffälligkeit für sie ein erhöhtes Verhaftungsrisiko bedeutet. Entsprechend sollte man, analog zu den US-amerikanischen Vorschlägen einer "earned regularization“ (erworbene Regulierung), auch für Deutschland bzw. die Europäische Union die Legalisierung von solchen "Illegalen“ ins Auge fassen, die bestimmte Kriterien erfüllen wie etwa ein eigener Beitrag zum Lebensunterhalt, keine Straffälligkeit, Integrationsleistung, soziale Verbindungen.

Globalisierungsprozesse eröffnen immer mehr Menschen in immer neuen Weltgegenden illegale Migration als einen Ausweg aus Armut oder eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Wenn also die Staaten der Welt keine illegale Migration wollen, müssen sie zuerst und zunächst dafür sorgen, daß Menschen in ihrem Herkunftsland ein Leben in Würde führen können. Dies bedeutet kurzfristig die Eröffnung von Wegen, auf denen "Illegale“ ihr hart verdientes Geld an die Familien im Herkunftsland überweisen können, ohne daß sich Dienstleister für den Geldtransfer außerhalb des formellen Bankensektors unverhältnismäßig bereichern können. Je nach Zielland können die Gebühren bis zu zehn Prozent des überwiesenen Betrags verschlingen. Denn: Je früher "Illegale“ ihr Migrationsziel erreichen (z.B. das Geld für einen Hausbau oder eine Geschäftseröffnung zu verdienen), um so eher sind sie zur Rückkehr bereit. Mittelfristig muß dafür gesorgt werden, daß in den Herkunftsländern die Rahmenbedingungen für Investitionen in produktive Gewerbe verbessert werden, so daß Rücküberweisungen in den Herkunftsländern Jobs schaffen können. Langfristig müssen die Industriestaaten aber auch ihre eigene Handels- und Subventionspolitik bedenken: Es reicht nicht, Industrien in armen Ländern zu schaffen, wenn man für deren Produkte zur gleichen Zeit durch Aufrechterhaltung von Subvention und Protektion keine fairen Handels- und Vertriebsmöglichkeiten eröffnet.

Illegale Migration und Wirtschaftskrise

Die aktuelle Weltwirtschaftskrise stellt aufgrund ihres Ausmaßes besondere Herausforderungen an jegliche Prognosen. Naheliegend ist etwa die Annahme, daß legale und "illegale“ Migranten, wenn sie in ihren Migrationszielländern arbeitslos werden, nach Hause zurückkehren und dort, wo die Lebenshaltungskosten niedriger sind, die Krise aussitzen. Daß dies im Fall bestimmter legaler Migrantengruppen so sein könnte, scheinen erste Auswertungen in den USA nahezulegen(22). "Illegale“ Migranten jedoch, selbst wenn sie aus geographisch nicht allzuweit entfernten Ländern stammen, sind eher gezwungen, in ihrem Migrationszielland auszuharren: So sind beispielsweise die eingegangene Verschuldung für ihr Migrationsprojekt und das Fehlen von Jobs im Herkunftsland für viele ebenso Hindernisse für die Rückkehr wie steigende Kosten für eine "illegale“ Wiedereinreise.

In Krisenzeiten haben aber gerade "Illegale“ auch Vorteile auf dem Arbeitsmarkt: Anders als Einheimische oder legale Migranten bindet sie wenig an einen Ort oder an eine bestimmte Beschäftigungssparte. Sie sind flexibel und mobil. Dazu kommt, daß auch und gerade in Krisenzeiten eine Nachfrage nach "illegalen“ Billigarbeitern besteht - sowohl im privaten als auch im gewerblichen Bereich. Berichte aus der Bauindustrie legen nahe, daß in Zeiten der Krise eher teure legale Arbeiter von Arbeitgebern entlassen werden als geschickte billige und "illegale“ Arbeitskräfte. So können die Angebote für potentielle Auftraggeber attraktiv gehalten werden, und Firmen haben dadurch die Chance, eher "im Geschäft“ bleiben zu können(23).

Was die Rücküberweisungen betrifft, ist eine deutliche Verschlechterung festzustellen: Die Weltbank sagte für 2009 ein Absinken des weltweiten Remissenflusses um fünf bis acht Prozent auf circa 290 Milliarden US-Dollar voraus - erste konkrete Zahlen aus Ländern Asiens, Afrikas und Mittelamerikas legen aber Einbrüche von bis zu 20 Prozent nahe. Derart deutliche Einbrüche wären ein Novum, da sich gerade Rücküberweisungen in früheren Krisen, im Vergleich mit Krediten und ausländischen Direktinvestitionen, als eher stabiler und verläßlicher Geldfluß für die armen Länder erwiesen haben(24).

Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise sollte deshalb nicht vergessen lassen, daß es Länder gibt, denen wesentlich weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, um mit den Auswirkungen und Folgen dieser Krise fertig zu werden. Einbrüche bei ausländischen Direktinvestitionen, Handelsgewinnen, Rohstoffpreisen und Tourismus - erlösen werden verschärft durch das Ausbleiben von Remissen und (vermutlich trotz aller Beteuerungen) einem Sinken der real verfügbaren Gelder aus der Entwicklungshilfe.

Auf diesem Hintergrund bleibt zu wünschen, daß die Arbeiten der "Leading Group on Solidarity Levies to Fund Development“ (Pilotgruppe zu Solidaritätsabgaben) gute Fortschritte machen: Innerhalb dieses Zusammenschlusses von Staaten und Nichtregierungsorganisationen, der sich mit der Erschließung innovativer Finanzierungsquellen für die Entwicklungsarbeit beschäftigt, wird nicht nur nach Wegen gesucht, Migrantenremissen kostengünstiger transferieren zu können, sondern auch, wie man über eine Transaktionssteuer zum Beispiel auf Währungsspekulationen Geld für arme Länder generieren könnte(25). Umfassend angewendet würde eine solche Steuer nicht nur kurzfristige Spekulationen auf den Finanzmärkten verringern und damit zur Stabilität des globalen Finanzsystems beitragen, sondern gleichzeitig reale und einplanbare Geldmittel für Armutsbekämpfung und Entwicklung einbringen. Damit wäre sie auch ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung der Ursachen von Migration.

Stimmen der Zeit (2009) 735-736

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