Eine Szene meiner Kindheit hat sich meinem Gedächtnis unauslöschlich eingegraben: Ich sehe mich als Neun- oder Zehnjährigen im Wohnzimmer der Verwandten, die wir besuchen, dem Radio gegenüberstehend. Während die Familie zum Essen gegangen ist, höre ich die Übertragung einer der ersten Aufführungen von Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“ in Deutschland nach dem Krieg. Ich höre das Werk zum ersten Mal und bin vollkommen sprachlos. Es beginnt die „Danse sacrale“, und die Stelle mit dem Vogelruf tritt ein. Ich bin so überrascht, daß ich in eine Art von Betäubung falle, die noch nach dem Ende des Stückes eine Zeitlang anhält. Das blitzartige Erscheinen dieses Motivs hatte innerhalb seiner weniger als zwei Sekunden Dauer meine gesamte bisherige Vorstellung von Musik zerstört, die geprägt war von der großen Kirchenmusik unserer Kultur von der Gregorianik bis Johann Sebastian Bach auf der einen Seite, und der Musik des bürgerlichen Individualismus, der Klassik und Romantik auf der andern. Das bürgerliche Wohnzimmer, in dem ich mich befand, schien zerborsten und ebenso in Trümmern zu liegen wie die realen Städte und Dörfer ringsum: Die Kirchen meiner Imagination schienen wie die wirklichen ihre Mauern und Fenster eingebüßt und sich einer in sie eindringenden, wild wuchernden Natur geöffnet zu haben.
Natürlich wäre ich damals nicht imstand gewesen, diese zusammengedrängte Erfahrung auch nur rudimentär zu formulieren oder gar zu begründen - dazu brauchte es viele Jahrzehnte. Aber ich muß darauf bestehen, daß die Erfahrung selber komplett und völlig präzise war und mein späteres Schicksal als Künstler bestimmte. Es war das zunächst nicht zum Bewußtsein vordringende, zweifelsfreie Verstehen einer komplexen geistigen Situation, ein unbewußtes Verstehen, wie wir sagen müßten (die alten Taoisten hätten das klarer bezeichnen können mit ihrem Ausdruck „wahres Wissen“ gegenüber dem „bewußten Wissen“). Ich hatte eingesehen, daß es Musik gab, die gänzlich anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchte als diejenige, in der ich bisher gelebt hatte; gleichzeitig spürte ich, daß diese „alte“ Musik durch den überwältigenden Eindruck der neuen weder außer Kraft gesetzt noch verschwunden war, sondern - im Gegensatz zu den Ruinen draußen - neben der neuen weiterexistierte. Ich hatte also plötzlich gelernt, daß wir heute gezwungen sind, in mehreren Welten gleichzeitig zu leben, in Welten, deren Lebensgesetze sich widersprechen. - Um diese Art von Erfahrungswissen zu verstehen, müßte man versuchen, das Verstehen selbst zu verstehen.
Ich habe der Beschreibung meines eigenen Hörerlebnisses nicht nur deswegen so viel Raum gegeben, weil die heikelsten Fragen vielleicht nur durch die Evidenz persönlicher Erfahrung beantwortet werden können, sondern auch, um ein Modell zu haben, anhand dessen die Erfahrung des Hörens von Musik beschrieben werden kann. Ein konzentrierter Musikhörer ist gar nicht so weit entfernt von dem Zustand des kleinen Jungen vor dem Radioapparat. Der Vorgang des Hörens geschieht in „real time“, in Echtzeit, er ist ein Stück besonders intensiv genutzter Lebenszeit des Hörers. Da jeder Moment eines erklingenden Musikstücks zu seiner Aussage gehört und so der gesammelten Aufmerksamkeit bedarf, um im unmittelbaren Sinn verstanden zu werden, bleibt buchstäblich kein Augenblick für die Reflexion des Gehörten übrig. Viele Menschen glauben ja, daß man Musik überhaupt erst durch eine reflektierende Anstrengung verstehen könne. Diese bleibt aber der Zeit nach dem Hören als Erinnerungszeit vorbehalten, bzw. einem erneuten, diesmal vielleicht selektiven, analytischen oder auf einen bestimmten Aspekt ausgerichteten Hören. Der Vorgang des direkten gesammelten Hörens allein aber vermittelt den tiefsten Eindruck der Musik, und wird im Gedächtnis abgelagert, um vielleicht erst viel später gründlich reflektiert zu werden; der Körper und das Unbewußte sind an diesem primären Verstehen von Musik stark beteiligt. Die Musik kann einem in die Glieder fahren, wie man es oft bei Kindern und manchmal auch bei sehr intensiv erlebenden Erwachsenen beobachten kann.
Insbesondere werden die Kontraste der Musik, als Überraschungen, intensiv erfahren. Es gibt Musikkulturen, welche die Überraschung als grundlegenden ersten Affekt bezeichnen; man darf aber nicht übersehen, daß etwas nur als „Überraschung“ empfunden werden kann auf Grund einer zunächst herrschenden gleichbleibenden Kontinuität - insofern könnte man auch jenen altindischen „Affekttonleitern“ zustimmen, welche den Affekt der „Ruhe“ als Auslöser aller andern in den Mittelpunkt stellt. Ruhe und Überraschung jedenfalls bilden die Basis aller Affekte, die beim Hören erfahren werden. Natürlich verändert eine häufige Übung des Hörens im Sinn einer immer zunehmenden Differenzierung das Hören selber - es läßt sich kaum vermeiden, daß sich Vergleiche mit anderen Hörerfahrungen herstellen, daß die Wiedererkennung des Gebrauchs bestimmter künstlerischer Mittel, Stilmerkmale usw. sich ins frisch aufnehmende Bewußtsein eindrängt. Es bleibt aber wahr, daß nur ein Hören, das sich dem individuellem Stück sozusagen mit Haut und Haaren ausliefert und es nicht nur ohne Vorurteile, sondern ohne Erwartungen einer bestimmten Form von Sinn aufnimmt, zur Tiefendimension der sich ereignenden Musik vordringt - ja vielleicht „ist“ diese Tiefendimension das „Sich- Ereignen“!
Nun gibt es nicht nur ein Hören des Hörers, das sich ausschließlich mit dieser konkret sich ereignenden Gegenwart beschäftigt, sondern auch ein Hören des Komponisten - ein inneres, imaginatives Hören, das sich eine zukünftige Musik erst ausdenkt. Und drittens gibt es ein Hören des Interpreten, das zurückblickt auf die Musik der Vergangenheit, um sie wieder neu lebendig zu machen. Die Dreiteilung unserer Musikkultur in Komponieren, Interpretieren und Hören verdanken wir einem geschichtlichen Schritt, der zuerst - und zunächst ausschließlich - in Europa gemacht worden ist: der Erfindung der schriftlichen Notation von Musik. Diese Notation war von Anfang an konstruktiv und spekulativ ausgerichtet und brachte sehr bald die Grundlagen unserer heutigen Vorstellung von Musik hervor: die Quantifizierung der musikalischen Zeit in der Mensuralnotation und die Mehrstimmigkeit.
Die Mehrstimmigkeit wiederum ist erstens Quelle der Harmonik - die sich zur eigenen Wahrnehmungsebene entwickelt - wie auch zweitens der Polyphonie als der simultanen Wahrnehmung individueller Linien. Man muß sich einmal klarmachen, welches Maß an Konzentration schon dem Hörer einer mittelalterlichen Motette abverlangt wurde: Anstelle eines einstimmigen, also eindeutigen Signals - wie etwa dem gregorianischem Choral oder der volkstümlichen Musik - soll er nun ein vielfältiges Beziehungsgeflecht aus drei oder mehr gleichzeitig sich ereignenden autonomen Ereignissen wahrnehmen; sowohl die Gesetzmäßigkeit der durch die aufeinandertreffenden Stimmen sich ergebenden Harmonik wie auch die Autonomie der Stimmen in ihrer individuellen rhythmischen und melodischen Struktur, in ihren verschiedenartigen - durch oft mehrsprachige Texte noch unterstrichenen - Affekten; schließlich soll er die - manchmal in symbolischen Zahlenbeziehungen gedachten - Proportionen der Gesamtform als eigene Sinnebene verstehen, und hinter allem einen bestimmten Autor mit unverwechselbaren Eigenschaften erkennen.
Das Verstehen von Musik ist also schon im 13./14. Jahrhundert zu einem mehrdimensionalen, vielschichtigen Vorgang geworden, der nicht mehr auf eine Formel zu bringen ist; es bedarf außer dem spontanen Hören auch der Kenntnis gewisser musikalischer Grundregeln oder „Vorverabredungen“, der vielfachen Wiederholung des Hörvorgangs, endlich des Studiums der schriftlichen Quellen, um ein solches Stück in seiner Komplexität zu verstehen. Ohne Notenschrift wäre eine solche Veränderung des Hörens gar nicht möglich gewesen; die Schrift hat das musikalische Kunstwerk im europäischen Sinn erst hervorgebracht.
Hören und Verstehen des Interpreten
Der Interpret hört auf das Echo der verklungenen Musik, und ist damit beschäftigt, dasjenige in der Gegenwart erlebbar zu machen, was als Dokument der Vergangenheit vor ihm liegt - gleichgültig übrigens ob das vor ihm liegende Werk vor vielen Jahrhunderten oder vor einigen Monaten entstanden ist. Dabei ergibt sich sofort eine Zweiteilung seiner Funktion. Auf der einen Seite muß er für ein möglichst genaues Verstehen im Sinn der Überlieferung der betreffenden Musik (bzw. im Sinn der Partitur des betreffenden Komponisten) Sorge tragen, für ein richtiges Verstehen ihrer Schriftzeichen wie auch dessen, was nicht aufgezeichnet ist: für ihre Bedeutung im funktionalen, technischen, expressiven, symbolischen Sinn. Er muß also eine Kopie des Originals anstreben: seine Transposition von einer früheren Zeit in die gegenwärtige. Auf der andern Seite aber muß er alles daransetzen, das Stück aus seiner „toten“ Vergangenheit in die lebendige Gegenwart zu bringen. Das kann nur geschehen, wenn er es in das Stadium einer klingenden Aufführung versetzt, in einem Akt, in dem seine eigene Vitalität und Kreativität mit der des Autors des Stückes verschmilzt. Er braucht dazu nicht nur jene Form des Verstehens, die zu einer möglichst exakten Kopie führt, sondern vor allem ein Verstehen der Spannungsverhältnisse und individuellen Eigenschaften des Werkes durch einen Vorgang der Identifikation mit dem Stück, ohne die seine Intuition nicht geweckt wird.
Aus diesen beiden Aspekten des Interpretierens haben sich in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft seit langem zwei verschiedene Berufsrichtungen herausgebildet: die des praktischen Musikers und die des Musikologen. Dient der erste der Vermittlung des ganzheitlichen Erlebens von Musik, so macht der Musikologe die vielen Schichten von Sinn und Zusammenhang deutlich, die ein Kunstwerk konstituieren. Er versteht es erstens als schriftliches Dokument im Zusammenhang seiner Schriftzeichen, deren Konstanz oder Bedeutungswandel er durch die historischen Zeiten verfolgt. Er versteht es zweitens als Ausdruck einer Epoche, aber auch als Ausdruck eines Individuums, und versucht zu verstehen, was im einzelnen Werk dem epochalen oder einem individuellen Denken oder gar biographischen Einflüssen entspringt. Er versteht es drittens als proportionales Gefüge, und das nicht nur im Sinn der Großform des Ganzen, sondern bis hin zum kleinsten Detail des Werkes - denn jedes Stück Musik ist restlos in Zahlen beschreibbar. Nicht nur die rhythmischen Vorgänge sind in Zeitdauerverhältnissen zu erfassen, sondern auch die Lautstärkenverhältnisse und die Tonhöhen: Jedes Intervall ist als Zahlenproportion der Schwingungsverhältnisse der Einzeltöne bestimmbar. Hier darf der Musikologe der Notenschrift allerdings nicht auf den Leim gehen: Diese ist räumlich, d.h. quantifizierend; die Musik selber ist beides nicht, sondern zeitlich und in Empfindungsqualitäten denkend.
Der Musikologe versteht das Kunstwerk viertens aber auch als einen affektiven Zusammenhang, der uns die feinsten seelischen Schwingungen und Entwicklungen wie in einem Spiegel zeigt. Er versteht es fünftens in seinen gesellschaftlichen Funktionen, in seiner Einbindung in religiöse Riten, politische Repräsentation, Bildungsinstitutionen, Medien; er versteht es endlich in seiner Nähe und Ferne zur Wortsprache und berührt damit eines der Grundthemen einer allgemeinen Anthropologie. Die Wortsprache befähigt den Menschen, Dinge der Außenwelt zu benennen, und sie schafft so erst den Unterschied von Außen und Innen, von Objekt und Subjekt. Die Musik dagegen hat weder irgendein Vorbild in der äußeren Natur und Dingwelt noch einen symbolischen Bezug dazu.
Ist auch ein Stück Musik als ein Objekt zu begreifen? Die Musik wird zweifellos intersubjektiv verstanden, aber was ist das für ein Verstehen? Der Musikologe wird hier - wenn er nicht auf alte metaphysische Modelle zurückgreifen will - gezwungen, die Musik zu beschreiben als eine vom Menschen errichtete Konstruktion in der Zeit. Sie ist gebaut aus unserer eigenen Lebenszeit, sie wird durch unsere eigene Konzentrationskraft in unser eigenes Bewußtsein projiziert. Aber woher dann der starke Eindruck, den sie gerade auf das Unbewußte und Halbbewußte macht? Woher ihre oft erschütternde und ergreifende Wirkung? Ist sie vielleicht eine alternative Sprache zur Sprache der Worte, ist sie beheimatet in einer seelischen Schicht, die noch vor der Trennung von Innen und Außen liegt?
So sehr alles darauf hindeutet, daß sich Musik und Sprache in der biologischen Evolution in enger Nachbarschaft gebildet haben, erscheinen sie doch im heutigen ausdifferenzierten Zustand als nicht kompatibel. Die Zeichen der Wortsprache - also die Worte - haben eine Bedeutung, während die Klänge der Musik nur sich selber bedeuten. Die Worte sind zwar, insofern sie Klänge sind, der Musik ganz nahe - und der Musikologe hat viel zu betrachten an der unterschiedlichen Wechselbeziehung beider Welten innerhalb der geschichtlichen Epochen -, aber gleichzeitig sind sie abstrakte Begriffe und so der Musik extrem entgegengesetzt.
Der Musikologe wird also vorsichtig sein müssen, wenn er die Musik in ihrem Zusammenhang mit sprachlich dominierten Strukturen, wie es die gesellschaftlichen sind, untersucht; ja er muß sich bewußt sein, daß er selbst in seiner Arbeit ständig etwas sehr Problematisches tut: Er versucht, mit der diskursiven Sprache eine gänzlich andere Art von Sprache - nämlich eine, die nur sich selbst repräsentiert - zu beschreiben.
Aber die Dinge liegen noch komplizierter. Im Lauf der europäischen Musikgeschichte scheint die Musik seit dem Beginn der schriftlichen Notation von der Wortsprache „gelernt“ zu haben, so etwas wie identifizierbare - wenn auch nach wie vor bedeutungsfreie - Gebilde hervorzubringen, die immer mehr beweglichen kleinen Klangobjekten gleichen. Immer wiederkehrende Tonfolgen, gleichbleibende Metren, später Motive, Themen, ganze Formabschnitte, die öfters wiederholt erscheinen, bilden formale Analogien zu der Struktur der Wortsprache; musikalische Formverläufe, die deutlich als Analogien von sprachlicher Syntax und Grammatik erscheinen, bilden sich immer mehr heraus. All das trägt zu einer Art von Objektivierung der späteuropäischen Musik bei, wobei das eine andere Objektivierung ist als die viel fundamentalere der Wortsprache. Trotzdem können wir der sich stellenden Frage nicht entkommen: Kann man ein Stück Musik als Objekt bezeichnen? Erst der Eintritt in den Bereich der Moderne wird uns instand setzen, diese Frage zu beantworten.
Der Komponist muß die größten Spannungen und Widersprüche aushalten. Er ist, wenn man das künftige Werk als Objekt betrachtet, damit beschäftigt, ein Objekt zu erstellen - nämlich die Partitur -, das ein anderes, noch nicht existierendes „Objekt“ beschreibt - nämlich die Handlung einer künftigen Aufführung eines Werkes. Nun ist eine Partitur aber nur zum Teil eine Beschreibung; sie ist in weit höherem Maß eine Aktionsanweisung an künftige Interpreten, bei der man nicht genau vorhersagen kann, wie und inwieweit sie befolgt werden wird, denn sie sieht frei handelnde Subjekte als Ausführende vor.
Betrachtet man wiederum den Vorgang des kompositorischen Handelns von innen, so muß man ihn beschreiben als einen subjektiven Akt in Prozeßform. Der Geist des Komponisten ist bis zum Platzen angefüllt mit einer bestimmten musikalischen Vorstellung, die noch keine Form gewonnen hat. Seine erste Arbeit wird also sein, diese Vorstellung zu interpretieren durch die ihm vertrauten Schriftzeichen, Formtypen, Instrumente, Tonsysteme und Rhythmen. Wo ihm das konventionelle Material hier nicht zu reichen scheint, erfindet er neues dazu. Im Zeitlupentempo muß er nun Schritt für Schritt sein Stück entdecken - ich sage entdecken, weil jeder dieser Schritte ein Balanceakt ist zwischen seiner inneren Vorstellung und der durch die Notation sich schaffenden konkreten Realisierung. Je nach Können und Erfahrung wird er die von ihm gewählten Mittel beherrschen oder von ihnen beherrscht werden. Je nach der Kraft seiner inneren Vorstellung wird er die Mittel mehr konventionell oder auf eine Weise nutzen, in der sie neu gedeutet werden. Seine innere Vorstellung wiederum ist nicht eine „idée fixe“, sondern eine in einem langen Prozeß tiefer Konzentration sich entwickelnde lebendige Form, die aus unbewußt tastenden Anfängen sich langsam zu der Bewußtheit jedes kleinsten Details entwickelt - denn dieses muß ja in Zeichen übersetzt und dann hingeschrieben werden.
Am schwierigsten ist die Abstraktionsarbeit in der Bewältigung der lächerlich großen Differenz zwischen der realen Zeit, in der das künftige Werk im Geist des Komponisten erscheint, und der Zeit der schneckenhaft langsamen Aufzeichnung, die einen Komponisten nötigt, vielleicht monatelang an einem Stück von wenigen Minuten Dauer zu arbeiten. Das zweite Grundproblem des schriftlichen Komponierens ist, daß eben die Schrift den Komponisten zwingt, seine inneren, qualitativ bestimmten Vorstellungen andauernd zu quantifizieren. Immer wieder muß deswegen der Komponist, um den Faden seines Gewebes nicht zu verlieren, von der gestreckten Zeit des Schreibens ganz bewußt in seiner Vorstellung zur dramatischen Spannung einer live auf dem Podium sich ereignenden Aufführung zurückkehren. Der Komponist muß so in einem langen Prozeß sein Stück aus der Zukunft in die Gegenwart ziehen. Er „glaubt“ so lange an sein Stück, bis es fertig vor ihm steht als ein in der Partitur tatsächlich objektiviertes Werk - das allerdings nicht identisch ist mit der Musik seiner inneren Vorstellung; es ist ihr nur ähnlich. Ein Komponist wie Giacinto Scelsi (1905-1988) hat uns das nachdrücklich zu Bewußtsein gebracht, indem er sich weigerte, seine Partituren selber zu schreiben, und Kollegen dafür bezahlte, sie nach von ihm bereitgestellten Tonbändern zu erstellen; auf diesen Tonbändern befanden sich seine von ihm selber in „real time“ instrumental wiedergegebenen Musikstücke. So enthüllt sich die Niederschrift eines Stückes schon als ein Interpretationsvorgang, die Partitur selber ist nicht das Original des Werkes - nicht nur bei Scelsi.
Tritt der Komponist nun aus seiner wie immer komplexen inneren Welt heraus und betrachtet sich und seine Arbeit nicht von innen sondern von außen, um sie zu verstehen, so wartet wiederum ein nicht lösbares Problem auf ihn. Unsere heutige etablierte Hierarchie der musikalischen Berufsbilder hat ihm die Rolle des Schöpfers, gar des Erfinders und ewigen Neuerers zugewiesen, dem Interpreten und Musikologen dagegen die Aufgabe des Nachschöpfenden bzw. des Reflektierenden, während der Hörer der lediglich passiv Empfangende blieb. Durch den Geniekult der klassisch-romantischen Epoche, wie auch durch die Verehrung des Revolutionären und der Revolutionäre wurde diese Rolle noch ideologisch aufgeladen. Denn der Begriff „Genie“ macht nur Sinn in einer Kultur des Subjektivismus, wo der geniale Einzelne sich über ein intaktes Regelsystem hinwegsetzt; und Revolutionen macht man nur, wenn man von einem möglichen und notwendigen Fortschritt der Verhältnisse überzeugt ist.
Was aber, wenn man sich in einer Kultursituation wie der aktuellen wiederfindet, in der es ein intaktes Regelsystem nicht mehr gibt, und in der sich der Begriff „Fortschritt“ durch die geschichtliche Erfahrung als höchst ambivalent herausgestellt hat? In der Tat gab es Epochen, in denen dem Komponisten eher die Funktion eines Bewahrers einer Tradition als ihres Überwinders zugeteilt wurde. Heute ist die Situation viel zu komplex, um sie mit der Alternative „Tradition oder Fortschritt“ zu erfassen. Wir haben gelernt, einen Text als ein Geflecht der verschiedensten Bestandteile und Einflüsse zu lesen - der Autor erscheint weniger als Schöpfer als vielmehr als ein Kanal, durch den die unterschiedlichsten Strömungen fließen (manchmal ohne sein Wollen und Wissen). Der Komponist ist Schöpfer, er ist aber auch Interpret einer Vergangenheit, auf die er sich bezieht - ob er sie nun überwinden oder fortsetzen will. Am Schöpferischen aber, als der Freisetzung neuer geistiger Energien, hat wiederum auch der Interpret teil, und sogar der Hörer, welcher neue Impulse individuell aufnimmt und verarbeitet.
Die Frage für einen heutigen Komponisten ist eher, ob er sich primär als Individualist und Neuerer versteht, oder als jemand, der geschichtliches Material neu deutet und neu zusammensetzt. Beides ist nicht mehr zu trennen, denn unsere eigenen Traditionen erscheinen uns als global ausgerichteten Erdenbürgern nicht mehr ausreichend. Wir verstehen in allen Lebensbereichen, so auch in der Kunst, das Sinnangebot unserer eigenen Überlieferung als eines unter vielen; die Rückseite dieser eher befreienden Empfindung ist ein Gefühl völliger Orientierungslosigkeit, die sich bis zur Lähmung und Entscheidungsunfähigkeit auswirken kann.
Es ist schon so, wie Barnett Newman es im New York der 50er Jahre ausgedrückt hat: „Wir finden uns als Künstler heute wieder als dem Chaos direkt gegenüberstehend.“ Ein Weitergehen kann es nur durch eine Neuentdeckung des Schöpferischen geben, das nun nicht als „revolutionäre“ Abweichung von kulturellen Normen, sondern als freie Schaffung eigener Normen begriffen wird. Da aber dieses Schöpferische nicht auf einer einsamen Insel, sondern inmitten einer Vielheit konkurrierender Resttraditionen lebt und sich artikulieren muß, gehört zu dieser freien schöpferischen Entscheidung auch die freie Wahl eines bestimmten geschichtlichen Punktes, auf den man sich bezieht, um überhaupt einen Einstieg zu haben. Dieser Punkt muß das ersetzen, was früher die Überlieferung vom Meister auf den Schüler war; heute kann er in der jüngsten oder in einer weit zurückliegenden Vergangenheit liegen, und es ist völlig gleichgültig, ob diese Beziehung negativ-kritisch oder weiterführend-positiv ist. Sonst landet man in einem Niemandsland, nämlich entweder in einer unverständlichen Privatsprache oder in einem, formal gesehen, ebenso unverständlichen Kauderwelsch von unverbindlichen Zitaten und Anspielungen.
Verstehen von Musik heute
Nunmehr sind wir endlich bis dahin vorgedrungen, wo wir die Frage nach dem Verstehen von Musik als heutige Menschen stellen können. Wir können nicht mehr von einer festen Vorstellung von Kunst ausgehen. Vor 100 Jahren hätte man bei der Frage, wie man die Musik verstehen solle, entweder auf die harmonischen und satztechnischen Regeln, auf formale Ordnungen wie die Variation oder die Sonatenform hingewiesen, oder man hätte die Musik als eine Sprache der subjektiven Gefühlsempfindungen bezeichnet. Noch weiter zurück, im Barock, hätte man nicht von Gefühlen, sondern von Affekten gesprochen, die nach bestimmten Regeln von der Musik repräsentiert werden, und von den Künsten der Polyphonie, die man zu lernen habe, um sie zu verstehen. Und gehen wir an den Ursprung unserer musikalischen Tradition, zum gregorianischen Choral, so finden wir eine Musik, die sich versteht als Darstellung der phonetischen und grammatischen Struktur der liturgischen Sprache - ohne eigene musikalische Formgebung, ohne Bildhaftigkeit oder Affekte. Um sie zu verstehen, muß man das antike Tonsystem und die Liturgie kennen.
Für unser aus der Moderne abgeleitetes Verstehen von Musik sind alle diese Sinnschichten aber nur vorläufige Antworten auf die Frage nach einem allgemeinen Sinn von Musik. Das Verstehen einer Fuge ist nicht das Verstehen Bachscher Musik; ich kann die Waldsteinsonate korrekt in ihrer Form analysieren, und doch nichts von der Beethovenschen Sprache verstehen. Es ist ein Aberglaube, das noch so genaue Verstehen der historischen Bedingungen oder der quantitativen Ordnungsprinzipien von Musik für das Verstehen von Musik überhaupt zu halten. Ich erlebe dieses Mißverständnis ab und zu am eigenen Leib, wenn junge Musiker beim Analysieren meiner Stücke zwar dann gut zurechtkommen, wenn sie bestimmte Stücke betrachten, die die konstruktiven Methoden der Moderne fortsetzen, aber völlig ratlos sind, wenn sie auf solche treffen, die sich genau diesem Denken verweigern. Ein wahrhaft konzentriertes, phänomenales Hören, also ein Verstehen, das sich nur an die ankommenden Phänomene von Klang und Stille hält, würde feststellen, daß es zwischen konstruktivistischer und informeller Musik nicht den geringsten Unterschied gibt.
Was unterscheidet die musikalische Moderne, in die wir spätestens vor 100 Jahren eingetreten sind, von den bisherigen musikgeschichtlichen Epochen, die sich zwar durch so etwas, was man heute „Paradigmenwechsel der Ästhetik“ nennen würde, voneinander abheben, aber doch durch eine gemeinsame Grundvorstellung von Musik verbunden sind? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir diese Grundvorstellungen in den Blick zu bekommen versuchen - denn wir können zunächst nur feststellen, daß es in der Moderne keine selbstverständlichen Grundvorstellungen mehr gibt.
Jede Musik wurde begriffen als ein geformtes Ganzes wechselnd bewegter Klänge, deren Bewegungsrichtung als linear in die Zukunft fließend betrachtet wurde. Es mußten aus dieser Vorstellung heraus Stücke entstehen, die in ihrer Stückhaftigkeit doch als zu einem individuellen, in seinen Teilen harmonisch ausgeglichenen Ganzen geordnet erschienen. Durch die Partitur erschienen sie als mit sich identisch, d.h. trotz der sich ergebenden verschiedenen Deutungen durch die Interpreten auf ein ideales Modell rückführbar. Ihre Ganzheit war das Ergebnis eines sich einheitlich darstellenden Stils, also einer auf geschlossener harmonischmelodischer, rhythmisch-metrischer und großformaler Systematik beruhenden Ordnung. Identität und systematisch-geschlossene Ganzheit - das sind aber nicht nur die Grundlagen des klassischen Kunstwerks, sondern auch die der klassischen Metaphysik. So nennt Georg Picht das klassische Kunstwerk ein „Götterbild“. Es ist ein Bild des in einer Idealform blühenden Lebens. Die Moderne dagegen arbeitet sich daran ab, hinter diese Erscheinung von Musik zurückzufragen.
Im einzelnen erscheint dieser Vorgang als destruktiv: In der Atonalität und in der Emanzipation des Geräuschs wird die tonale Ordnung aufgehoben, in dem gleichzeitigen Erscheinen verschiedener rhythmischer Abläufe wird das regelmäßige Metrum zerstört und damit die Zeitempfindung zersplittert, in der Aleatorik wird die lineare Folge der musikalischen Ereignisse offen gelassen und damit jede „Kausalität“ im Stück (wie etwa Gegensatz und Wiederholung, Steigerungen, Entwicklungen, Variationen) zunichtegemacht; ja man kann nicht mehr von einer Identität des Stückes mit sich selber reden, denn jede Aufführung muß auf Grund der Spielregeln anders ausfallen. In Musikformen wiederum, die nur einen einzelnen Klang, nur ein gleichbleibendes rhythmisches Kontinuum oder nur eine stets gleichbleibende Lautstärke als ihr Material benutzen, werden Wechsel und Gegensatz als einfachste Formprinzipien ausgeschlossen.
Ganz allgemein gesagt: Der Ablauf eines Werkes kann heute nicht mehr ohne weiteres als eine Form bezeichnet werden, die am Ende zu einer logischen und emotionalen Geschlossenheit und Einheit gebracht erscheint, es sei denn, der einzelne Komponist hat sich genau dies wieder neu als Ziel gesetzt (was natürlich ohne weiteres möglich ist). Formgebung erscheint oft als vielfältig, zerklüftet und asymmetrisch, und überrascht den Hörer in ihrer Präsentation immer neuer Gestalten und Formationen. Solche Stücke erscheinen eher wie ein Ausschnitt aus einem nicht erscheinenden Ganzen - ohne Anfang und Ende. Sie scheinen Fragmente zu sein - ohne daß sie es im kompositorischen Sinn tatsächlich sind.
So sehr die Kunst der Moderne äußerlich damit beschäftigt ist, alle Sinnkonstruktionen der alten Epochen zu zerstören, wäre es doch das größte aller Mißverständnisse, sie selber als sinnlos oder zerstörerisch oder auch nur als Bild oder Apologie der Negativität verstehen zu wollen. Das genaue Gegenteil ist der Fall: In ihrer Aktivität kündigt sich ein neues und umfassenderes Bild von der Welt und der Kunst an. Da der heutige Mensch sich nicht nur durch seine Regionalkultur, in die er hineingeboren ist, definieren will, muß er die reiche Vielfalt der vielen andern Kulturen samt ihren Widersprüchen nicht nur hinnehmen, sondern möglichst produktiv verarbeiten. Je mehr er die einzelnen kulturellen Codes als Konstruktionen von Sinn erkennt und nicht als Entdeckung einer verborgen vorgegebenen natürlichen Gesetzmäßigkeit, wird er bereit zu friedlicher Toleranz, aber auch zu ungeahnten schöpferischen Experimenten sein. Dabei liegt die tiefste Möglichkeit einer lebendigen Moderne wahrscheinlich nicht in einer noch so kühnen Mischung einzelner Kulturen, sondern - wenigstens aus meiner Perspektive - in der Entdeckung einer Tiefendimension, die die bisherige Kunst kaum kannte, ja die vielleicht durch die hohe Schönheit der alten, „götterbildähnlichen“ Kunst geradezu verdeckt wurde.
Denken, das vom Hören kommt
Bevor wir uns an diese Tiefendimension noch etwas anzunähern versuchen und damit den Bogen zu anfänglichen Gedanken dieses Essays schlagen, möchte ich noch auf einen Gedanken Jean Pauls hinweisen. Er äußerte in seiner „Clavis Fichtiana“: „Wäre nur die Sprache z. B. mehr von der hörbaren als von der sichtbaren Welt entlehnt: so hätten wir eine ganz andere Philosophie und wahrscheinlich eine mehr dynamische als atomistische.“
Mir ist erst vor kurzem aufgegangen, daß dieser Satz nicht nur ein utopischer genialer Aphorismus ist, sondern eine Grundmöglichkeit des Denkens avisiert, die in der europäischen Tradition kaum auftaucht, wohl aber in der indischen und buddhistischen. Es gibt ein Denken, das von der simultanen, quasi zeitlosen Wirklichkeitserfassung des Auges abgeleitet ist: Es ist jenes Denken, das in Gestalt der griechischen Philosophie und Metaphysik die europäische Denkweise bis hin zur Naturwissenschaft geprägt hat. Ich will es das Augendenken nennen, weil es danach strebt, die Welt als gegebene feste Konstellation zu erfassen, so wie das Auge den Raum erfaßt. Wollte man eine dem Ohr entstammende Denkweise dagegensetzen, so müßte man nach einem Denken suchen, das auf dem zeitlichen Abtastvorgang des Hörens beruht, und als Ziel nicht eine fixierte einmalige Aussage, sondern einen allmählich klar werdenden Entwicklungsprozeß anstrebt. Von genau dieser Art sind die östlichen religiösen Wege, ob sie den Upanishaden oder dem Buddhismus entstammen. Nicht umsonst kann man bei ihnen eine viel höhere Aufmerksamkeit auf den Körper - besonders auf den Atem - finden als in der griechisch-europäischen Tradition. Man kann diesen Gegensatz aber auch in den Anfängen der europäischen Philosophie selber finden. Platon war derjenige, der in seiner Philosophie den Affekten für die Erkenntnis der Welt den ersten Platz gab, während Aristoteles, dessen Anschauung sich spätestens in der Scholastik für das Abendland durchgesetzt hat, der passiven intellektuellen Rezeptivität in der Wahrnehmung den Vorrang gibt - und davon ist unsere ganze Kultur bis heute geprägt.
Man wird das Gefühl nicht los, daß das heutige Interesse der westlichen Welt an alternativem Denken, aber auch das immer stärkere Echo der großen europäischen Musik in der ganzen Welt etwas zu tun hat mit einer unbewußten Sehnsucht, die Einseitigkeit des westlichen Denkens zu kompensieren bzw. zu korrigieren. Vielleicht hat auch die Kunst der Musik gerade in der westlichen Welt eine so unglaubliche Entwicklung genommen, weil sie eine kompensierende Funktion innerhalb des Gefüges der westlichen Kultur hatte: Sinn als eine zeitlich gestreckte Wahrnehmung, und nicht als statisches Bild. Schopenhauer muß davon etwas geahnt haben.
Die Musik der Moderne hat damit begonnen, den vorhin geschilderten objekthaften Formcharakter, den die Musik von der diskursiven Sprache übernommen hat, sei es zu eliminieren, sei es zu relativieren. Sie gelangt zu einer elementareren, die verstreichende Zeit auf ganz neue Weise ins Zentrum stellenden Formgebung. Die moderne Kunst mit ihrer Zerstörungsarbeit an den subjektivistischen Erlebnisstrukturen von Kunst scheint fähig zu sein, den Blick frei zu machen für ein Erleben, das hinter dem Subjektivismus liegt - oder, wenn man will, ihm zugrundeliegt. Dies trifft sich mit den Aussagen der Mystiker aller Kulturen, die übereinstimmend sich auf eine Denkebene beziehen, welche über dem Verstehen des Verstandes und der Gefühle liegt. Es ist die Ebene des Numinosen - C. G. Jung hätte sie als Sphäre der Archetypen identifiziert. Die Musik erscheint hier nicht mehr als ein kunstvoll auf den Gesetzen der zeitlichen Wahrnehmung errichtetes, harmonisch-schönes Gebäude, sondern als eine Weise, unsere eigene Existenz im Aspekt des Hörens zu leben. Das Hören tastet sich am Geschehen der Zeit entlang und wird von zwei extremen Zuständen angezogen: vom Erleben der puren Kontinuität einer in sich ruhenden Gegenwärtigkeit und vom Erleben des unvorhersehbar einbrechenden Schöpferischen.
Verstehen der Moderne als existentielles Hören
Kontinuität und Überraschung - wir fanden diese Polarität schon ganz im Anfang unserer Überlegungen. Der Logos der Musik erscheint in der Moderne verändert: Er wird nicht mehr, wie in der Zeit der Herrschaft der griechischen Metaphysik, als Identität und Einheit des Ganzen erkennbar, sondern zeigt sich in der Offenheit, schöpferischen Freiheit und Unvorhersehbarkeit des musikalischen Geschehens. Das Numinose war zwar auch in der alten Musik auf vielfältige Weise gegenwärtig: als das Sakrale in der kirchlich dominierten Zeit; als das „Erhabene“ der Klassiker; ja selbst in unserer heutigen Unterscheidung von „ernster“ und „unterhaltender“ Musik ist noch ein Schatten davon zu ahnen. In der Moderne aber ist das Numinose bei nahezu allen großen Komponisten direkter Antrieb geworden - in der bildenden Kunst kann man den gleichen Vorgang besonders klar bei den großen Künstlern des „American Expressionism“ beobachten.
Fundamentale Wechsel können sich nicht von heute auf morgen vollziehen, Betrachten wir die aktuelle Szene, so erscheint die Musik als ein Metier, dessen Ausübung von der alles beherrschenden Kommerzialisierung und einer diffusen Ästhetik des Entertainment bestimmt wird. Wir finden deshalb im Augenblick auch bei den heute entstehenden kompositorischen Werken eine Fülle von Mischformen, wo Merkmale alter Ästhetiken im neuen Zusammenhang der Moderne wieder auftauchen: sei es als verfremdete oder collagierte Zitate, sei es als Bemühungen, die gewohnten Kommunikationsformen durch Beschwörung der alten Subjektivität wiederzubeleben, sei es durch ein Sich-Klammern an noch komplexere quantitative Konstruktionsmethoden, die das alte europäische Ordnungsdenken unter veränderten Bedingungen fortsetzt. Bis zu einem gewissen Grad erscheint das auch als notwendig: Denn das Schockierend-Neue der Moderne kann nur dann voll erlebt werden, wenn die so andersartige Kunst der alten Zeit noch in ihrer intakten Form verstanden und bewahrt wird, und die Funken nur so sprühen können, wenn Altes und Neues aufeinandertreffen.
Damit sind wir bei einem Hören und Verstehen angelangt, das unserer heutigen Wirklichkeitserfahrung entspricht. Es ist offen gegenüber allen ankommenden akustischen Phänomenen, seien es Alltagsgeräusche, Klänge der Natur oder durch den Menschen definierte Musik. Es ist offen für die vielen verschiedenen Wege, die der Mensch in den vergangenen Epochen und in unserer Zeit gefunden hat, um sich in bewußter Weise mittels Klängen, die in der Zeit bewegt werden, auszudrücken. Es hat verstanden, daß Hören ein konzentrativer Vorgang ist, wodurch der Hörer nicht nur Sinnvolles empfängt, sondern dieses selber mitschafft. Formen der Musik sind keine Objekte, sondern Phänomene. Wir können das Verstehen der Moderne jetzt verstehen als ein existentielles Hören, das sich mit den von der Wahrnehmung bereitgestellten Phänomenen von Klang und Stille direkt beschäftigt - das lernen will, das Hören zu hören, wie ich es in einem Essay über John Cage einmal versucht habe auszudrücken. Es erlebt Musik als Folge von Ereignissen verschiedenartiger Qualität. So wird es Zeit, zuletzt noch nach der anthropologischen Bedeutung dieses bewußten Hörens zu fragen, ja nach seinem möglichen Sinn für die Evolution des Menschen.
Voraussetzung für das bewußte Hören ist zunächst eine völlige Wachheit der Aufmerksamkeit, die bereit, ist alles plötzlich Ankommende zu registrieren. Dies setzt aber eine ebenso vollständige Sammlung auf den Zustand des Jetzt, in dem vielleicht gar nichts passiert, voraus. Jeder Musiker kennt diesen Punkt der absoluten Konzentration, noch bevor ein Ton erklungen ist. Nennen wir diesen Zustand „Stille“, so muß es also zunächst darum gehen, dieses Nichts an Geschehen nicht zu verlassen: nicht zu denken, denn das würde die absolute Konzentration am meisten stören. Erst wenn wir so durch unsere Aufmerksamkeit den alltäglichen Fluß der Zeit angehalten haben, so daß weder Erinnerungen ans Vergangene noch Vorbereitungen und Erwartungen künftigen Geschehens auftauchen, sind wir wirklich offen für ein unvorhersehbares Ereignis. Um Musik überhaupt hören und verstehen zu können (und das gilt für jede ernsthafte Art von Musik), bedarf es also des Eintritts in diesen Raum der Konzentration, eines Nicht-Denkens bei größter geistiger Wachheit. Jede Musik ist eine Schrift auf diesem weißen Papier des Nichtklingenden; ihre Klangzeichen wären gar nicht verstehbar, wenn sie nicht aus diesem Kontinuum der Stille herausgeschnitten wären durch die sie gliedernden und anordnenden Pausen und Zäsuren.
Dieses „Denken des Nichtdenkens“, wie es die Zenbuddhisten nennen, ist die Voraussetzung für alle Aktivität des Geistes - sei es die imaginative in Kunst und Religion, sei es die verstandesmäßige wie in der Praxis des Lebens oder in den Wissenschaften. Ist es nicht naheliegend anzunehmen, daß die Musik bei der Entwicklung des Geistes zunehmend die Rolle eines Trainings der puren Konzentrationskraft hatte und noch hat? Und biologisch gedacht bedeutet die Konzentrationskraft für das Überleben einen eindeutigen Vorteil. Natürlich gilt das für alle geistigen Aktivitäten, aber wo ist eine manchmal stundenlange kontinuierliche Konzentration auf sehr komplexe Zeitabläufe so essentiell wie in der Musik? Allerdings wäre diese mögliche Bedeutung der Musik für die Evolution nur unvollständig. Die Musik hat, wie alle Künste, auch etwas zu tun mit der Entwicklung und Bewußtwerdung des Ich. So wurden zuletzt in der klassisch-romantischen Zeit die subjektiven Schichten, als Bewußtwerdung der eigenen Individualität, von der Kunst sowohl dargestellt wie mitkonstituiert.
Die heutige Hirnforschung hat festgestellt, daß das Ich, biologisch gesehen, zunächst einmal gar keinen festen Ort im neuronalen Geflecht unseres Körpers hat; es scheint aus mehreren konkurrierenden Ansätzen sich erst langsam heranzubilden. Nun sind Ich-Krisen nicht nur dem Zeitalter des Subjektivismus wohlvertraut; schon viel früher haben etwa die Mystiker aller Schulen immer auf die Vorläufigkeit, Brüchigkeit, ja Nichtigkeit dessen, was wir so stolz unser Ich nennen, hingewiesen. Die Moderne befindet sich von Anfang an im Kampf mit dem subjektivistisch gedeuteten Ich, und ist auf der Suche nach dem, was C. G. Jung das Selbst nennt: eine höhere und stabilere Form des Ich, ein Ich sozusagen, das sich selbst mitgebaut hat. Konzentrative Stille ist nicht auf das Ego zentriert, sie ist deswegen der Baustein, mittels dessen das Selbst die Ichlosigkeit in das Ich einbaut.
Wir haben in der bewußt gewordenen Stille und im bewußt gewordenen kontingenten Ereignis den Schlüssel zur Musik der großen Meister der Moderne gefunden. Diese Musik kann vielleicht den, der sich auf sie einläßt, ein Stück weit zu dem hinführen, was C. G. Jung die Individuation nennt. Der Künstler der Moderne kann und will nicht mehr den ästhetischen Kult des Subjektivismus oder gar das heutige unersättliche Bedürfnis nach Entertainment bedienen, er kann aber auch nicht sich identifizieren mit dem eigentümlichen Wir-Gefühl etwa der kirchlichen Gemeinde. Die Kunst ist ihm ein Mittel geworden, das ihm dabei hilft, sein rationales und gefühlsfixiertes Ich zu überschreiten und seinem geistigen Selbst näher zu kommen. So etwa könnte man den anthropologischen Sinn nicht nur der modernen, sondern jeder Kunst umschreiben, der durch die Moderne neu und überklar ans Licht getreten ist, und den zu verstehen nicht nur eine Wachheit des Intellekts und der Emotionalität voraussetzt, sondern eine geistige Aktivität, die bereit ist, den Sprung ins Unbekannte zu wagen.
Stimmen der Zeit (2009) 391-404