Nationalismus und Multikulturalismus

Auf Grund der politischen Entwicklungen der letzten Jahre wurden die Probleme des Zusammenlebens von Mehrheiten und Minderheiten erneut virulent. Norbert Brieskorn, Professor für Sozial- und Rechtsphilosophie an der Hochschule für Philosophie in München, untersucht Möglichkeit und Vor­aussetzung einer "multikulturellen Gesellschaft".

Die Völkergemeinschaft, die Staaten und die Gesellschaften sehen sich seit kurzem wieder vor das Problem gestellt, ihre Einheit und Vielheit neu zusammenzudenken und das Verhältnis beider politisch zu gestalten. Die UdSSR, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Äthiopien zerfielen seit 1989 in Vielheiten von Einheiten, von denen jede wiederum für sich auf ihrem Territorium mit einer Mehrheit kleinerer kultureller Einheiten konfrontiert ist. Georgien beispielsweise befreite sich als Minderheit und mußte mit Minderheiten, wie den Abchasen (Autonome Republik) und den Südossieten (Autonomes Gebiet), zurechtkommen. Was für die ei­nen der Herbst 1989 bedeutete, stellte für andere der Herbst 1992 dar. Indios probten den Aufstand von Kanada bis hinunter nach Ekuador. Vielfalt, auf dem Markt und in der Demokratie gepriesen, geriet zum politischen Problem.

Minderheiten suchen ihre Forderungen mehrheitsfähig zu machen, wenn sie nicht selbst Mehrheit werden oder, besser noch, sich in einer politischen Einheit in einem Staat zusammenfinden können. Auf Abspaltung antwortet Intervention, auf unzulänglichen Minderheitenschutz folgt die "ethnische Säuberung". Der Diskurs der Menschenrechte wird von dem Ruf nach Homogenität der Bevölkerung überstimmt.

Wo totalitäre Regime die Kommunikation und die Kompromißfindung gar nicht lernen ließen, bringen die neuen Gruppierungen sich rücksichtslos-egoistisch in den Chor der Völker ein. Die Verwahrlosung des Rechtsdenkens wirkt sich dar­in aus, daß die physische Stärke zählt, der das lautstark bis geifernd vorgetragene Nationalismuskonzept willfährig beispringt. Doch die Verwundung ist älter. Stan­den doch auch das Einheitsdenken der Aufklärungszeit und der nachfolgende "Internationalismus" kultureller Vielfalt mißtrauisch bis abschätzig gegenüber. Lateinamerikanische Nationalstaaten gingen gegen ihre Minderheiten unduldsamer vor als je die spanische Kolonialmacht.

So manches nicht eingelöste Versprechen und mancher Kollektivtraum bescheiden sich eben nicht damit, daß die Zeit weiterging, sondern verschaffen sich gebieterisch Gehör. Ansprüche, die erloschen schienen, waren tatsächlich nur gestundet; Völker klagen gegen die ihnen aufgedrungenen Verzichte und lassen ihren angestauten Überhang an Unzufriedenheit und Haß ab. Die Vergangenheit speicherte schier ungeheuerliche Reserven an Sehnsucht; und so läßt die Orientierung an dem zurückliegenden das Gewordene flüssig, ja über-flüssig werden. Der Blick zurück formt die Geschichte nach vorne. Die kollektive Erinnerung ist stärker denn je und weiterhin von hoher Begabung, sich die Geschichte passend zurechtzulegen, sie in Gedanken schon so zu gestalten, wie sie der blutige Kampf der Gewehre und Panzer einholen soll.

Während so der Kampf des letzten "unteilbaren" Elements stattfindet, reichern sich bisherige Einheiten zu Vielheiten an. Die europäischen Gesellschaften verändern sich in Richtung auf einen steigenden Anteil und eine erhöhte Vielfalt einwandernder Minderheiten. Mit der Größe wächst auch die Vielfalt. Diskussionen über die multikulturelle Gesellschaft in den USA, in Großbritannien, Frankreich und Deutschland zeugen von der Konfrontation mit der neuen Lage.

Einmal mehr zeigt sich, daß das Leben sich nur in und mit Verzicht entfaltet. Die Vielstimmigkeit eines Chores verlangt die "Einstimmung" aller Teilnehmer. Rücksichtslose Selbstentfaltung verhindert den gemeinschaftlichen Aufbau. Dies gilt auch für das Zusammenleben der Mehrheiten und Minderheiten, der einheimischen Bevölkerung mit den Zuwanderern. Die Erde ist ein Gemeinschaftswerk, auch wenn sie sich zur Zeit neu auseinander- und zusammensetzt.

Natur und Kultur

Sind "Volk", "Stamm", "Clan" oder auch "Nation" Kunstgebilde und politische Schöpfungen oder handelt es sich um natürliche Einheiten? Die Bewertung in der Literatur ist unterschiedlich. Hielt George Burdeau noch "Familie" wie "Clan" für Naturprodukte, die "Nation" hingegen für ein Element im "Univers magique" menschlicher Erfindungen1, so sieht Georg Elwert sämtliche Einheiten als Schöpfungen von Menschen an und hebt deren Fiktions- wie Konstruktionscharakter hervor2. Joachim Ehlers betont, daß die genannten Gebilde Produkte der politischen Rahmenbedingungen seien, denn die Staaten "leiten die Entstehung solcher Ethnien ein. Die Reichsbildung brachte ethnographische Prozesse in Bewegung." 3 "Natur" verdankt sich demnach der Politik. Menschen schaffen sich Familien, Stämme, Clane und Völker. Oswald Spengler fügt dieser Sicht noch den Elitegedanken hinzu: "Alle großen Ereignisse der Geschichte sind nicht eigentlich von Völkern ausgeführt worden, sondern haben Völker erst hervorgerufen." Ein jedes Kulturvolk stehe in der Schuld eines menschlichen Schöpfers. Einige große Gestalten gründen Völker und geben ihnen einen Auftrag mit4. So führt die Theorie vom natürlichen Ursprung eher zur Demokratie als die Spenglersche Schöpfungstheorie. Denn ein Volk, das sich einem oder einigen Großen zu verdanken glaubt, vertraut sich auch bereitwilliger einer Elite oder einem Führer an.

Die Frage nach dem Natur- und Kulturanteil ist wohl so zu beantworten, daß methodisch einmal zwischen der unumgehbaren Bewertung "natürlicher" Faktoren zu unterscheiden ist, welche diese Faktoren überhaupt erst zu "Faktoren" und zu "natürlichen" werden läßt, und andererseits der Auswahl solcher Faktoren wie Abstammung, Sprache, Brauch, Religion. Immer stützen die Menschen sich auf Bezugspunkte, von denen sie behaupten, daß sie menschlichem Zugriff entzogen sind. So aber verstecken sie ihre Grenzziehungen.

Während sie vielleicht noch am wenigsten bei Johann Gottfried Herder anzutreffen sind, der von dem Recht eines Volkes sprach, sich zu seiner Eigenart zu entwickeln, um den Chor der Völker reicher zu machen, und die Gleichheit und die Solidarität aller Völker hervorhob, sind für Oswald Spengler die "Völker... weder sprachliche noch politische, noch zoologische, sondern seelische Einheiten", welche er in "Völker vor, innerhalb und nach einer Kultur", in "Urvölker, Kultur­völker, Fellachenvölker" einteilte5 und eine Unterjochungspolitik rechtfertigte.

Nationalismus

Eine Nation ist jede umfangreiche Bevölkerung, die unabhängig von "außen" und im Innern politisch organisiert ist, die über mehr Kommunikation mit sich selbst verfügt als mit denen "draußen" und eine handlungsfähige sowie legitimierte Regierung besitzt. Sie stützt sich auf eigene Kräfte, auf ein Heer mit Soldaten aus den eigenen Reihen6. Während dem 19. Jahrhundert der Staat als ein Geschöpf des Rechts galt, bündelte die Nation Erwartungen und Gefühle, wirkte als Bindemittel und produzierte Identifikation. Einst Bezeichnung der Sprach- und Kulturgemeinschaft, wird sie im 19. Jahrhundert zum auszeichnenden Titel eines ökonomischen, von politischem Gestaltungswillen getragenen, wenn auch durchaus in sich vielfältigen "Dritten Standes", einer politischen Größe mit Sendungsauftrag. Diesen ent­lieh man dem ideologischen Hausschatz der Völker; gab es doch kein einziges, das sich nicht durch Gott zu besonderem Werk berufen fühlte.

Hier setzte der Nationalismus an und bildete sich zu einer Weltanschauung aus, welche die eigene Nation und ihr Volk, ihre Sprache und Kultur gegen andere abgrenzte, den Sendungsgedanken übersteigerte und mit Überheblichkeit paarte, so daß die Eigenheit anderer nicht als gleichrangig, sondern als minderwertig eingeordnet wurde. Er ließ sich zur Rechtfertigung politischer Macht und zur Expansionspolitik gebrauchen. So zeigte sich der Nationalismus als eine Theorie und Praxis, welche die politisch-rechtliche und die nationale Einheit zur Deckung bringen wollte7. Es lassen sich verschiedene Typen von Nationalismus im Hinblick auf die angestrebte Einheit unterscheiden: Der politische Nationalismus stützt sich auf eine gemeinsame politische Geschichte und auf die sie tragenden Ideen - jedenfalls in den Köpfen der Veranstalter der Geschichte. Der ethnische Nationalismus beschwört die gemeinsame Abstammung und die Volksgemeinschaft. Der völkische oder rassische Nationalismus wiederum ist das "Wiedererscheinen" der atavistischen Kräfte des Blutes oder des Bodens. Er fordert, die "Reinheit" des Volkes zu bewahren oder herzustellen.

Eine andere Einteilung bezieht sich auf die Aufgaben des Nationalismus: die Unabhängigkeit zu erkämpfen, die innere Einheit des Staatsgebildes zu bewirken und zu erhalten sowie den Sendungsauftrag zu erfüllen8. Hatte die Französische Revolution die Bezeichnung "Nation" auf ein politisch längst geeintes, wenn auch mit Gewalt und Rücksichtslosigkeit zusammengehaltenes Gebilde anwenden können, holten sich zahlreiche Völker, die territoriale Selbständigkeit und politische Freiheit erst erkämpften mußten, bei dem Nationalismusgedanken Mut und ihre Zielvorstellung. Auf die Fahnen und in die Herzen geschrieben, verhalf er zahlreichen Völkern Lateinamerikas, Asiens und Afrikas zur Unabhängigkeit, unterstützte den innernationalen Zusammenschluß und rechtfertigte auch Eroberungen. Er schuf neue Minderheiten und neue Mehrheiten.

Ist also eine nationalistische Etappe notwendig zu durchlaufen? Wenn die Unabhängigkeit und die Einheit gegen starke Widerstände zu erkämpfen sind, wird sich der Nationalismus wohl immer einstellen. Zu rechtfertigen ist er jedoch nie, da er untermenschliche Werte vergötzt, das Bewußtsein von der Gleichwürdigkeit der Menschen zerstört, Unfrieden schafft und Leben gefährdet. Zuzugeben ist, daß alle Einheit nur um den Preis der Ausgrenzung zu haben ist. Doch bleibt die Frage, welcher Preis zu zahlen ist und von wem, ob nur von denen, die eingeschlossen, oder nur von jenen, die ausgeschlossen sind, oder von beiden.

Der Internationalismus kam zu früh, oder besser, er hatte gar keinen geschichtlichen Standort, falls die Abgrenzung noch gar nicht stattgefunden hatte oder gar nicht genügend erfahren worden war. Mancher Protest gegen den Nationalismus verlautete zur Unzeit und verhallte deshalb. Die Bestrebungen, internationale Bande zu knüpfen, die "Sozialistische Internationale" zu gründen, der Völkerbund, sie alle waren Versuche, dem Nationalismus in seiner zerstörerischen Art entgegenzutreten. Doch war wohl noch nicht genügend die vernichtende Kraft erfahren worden, weil diese Versuche wirkungslos blieben. Damit soll nun nicht dem jeweiligen Status quo das Wort geredet, sondern nur behauptet werden, daß Vermittlung das Auseinandergehen in die Extreme voraussetzt.

Der Nationalismus kommt aber nicht allein einer als nötig empfundenen Abgrenzung zu Hilfe, er zeigt auch den drohenden Zerfall der Gemeinschaft und das gefährdete Gemeinschaftsleben an. Wem die Wurzeln absterben, reckt sich ins "Blaue", er lebt auf Verheißung hin und aus ihr. Der Nationalismus schuf aber auch Bindungen. Wo die Ethnologie wiederum gegen den Ethnozentrismus, gegen die Hierarchisierungen und gegen die Bewertung der andern als minderwertig auftrat, entlarvte sie zwar die Urteile des Nationalismus als Vorurteile9, zerstörte aber damit zugleich auch lebensschützende Zusammenhänge und den Orientierungscharakter von Geschichte10. Leider wird immer eine Beziehung zerstört werden; die Frage ist aber doch, wie viele dafür neu geknüpft werden können.

Nationalismus ist weiterhin der Versuch, die liberale Wirtschaftsgesellschaft zu korrigieren. Angewidert von einer Gesellschaft, die den Staat als Selbstbedienungsladen benutzt, oder von einem berechnenden Nützlichkeitsdenken des "do ut des" her kalkuliert wird derjenige, der Verpflichtung gegenüber einem Ganzen vermißt, zum Nationalisten werden und somit ins andere Extrem fallen: Die Nation dürfe, so behaupten Nationalisten, als einzige nehmen, ohne sofort zu geben, ja, ohne jemals entschädigen zu müssen. Wo der Nationalismus Anhänger findet, kündet er eine Zeit an, in der vermehrt vom Opfer und vom Sterben für einen übermenschlichen Auftrag die Rede ist. Die Verzweckungen werden jedoch nur ausgewechselt, Mündigkeit und Selbstand nicht ins Spiel gebracht. Deutlich wird, wie unangebracht bloßes repressives Vorgehen gegen Nationalisten, Rechtsradikale etc. ist. Die Sozial-, Familien- und Bildungspolitik sind gefordert.

Das Personalitätsprinzip

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist dabei am sinnvollsten auf den Menschenrechtsschutz des einzelnen Menschen als auf den einzig wahren Bezugspunkt zurückzuführen und durchlässig zu machen. Vom Menschen sollen alle politischen Gebilde ihre Aufgaben beziehen, vor ihm sind sie zu rechtfertigen. Die Begriffe und die Ideologien sind daran zu messen, welchen Vor- und Nachteil sie den Betroffenen bringen und zufügen.

Der Österreicher Karl Renner (1870-1950), Völkerrechtler und Politiker, trat dafür ein, daß weder das Territorium noch die Blutsbande für die Zuordnung oder Abtrennung der Menschen ausschlaggebend sein sollten, sondern der persönliche Wunsch, einzutreten in den Verband und aus ihm auszutreten. Dies ist von obigem Ansatz aus zu bejahen. Der Blick auf den Menschen und nicht auf andere zu Unrecht vergötzte Größen der Macht soll bestimmend sein. Kulturautonomie wäre weiterhin nie zu verweigern, auf die Forderung nach Eigenstaatlichkeit eher zu verzichten. Ob ihr nachzugeben sei, muß mit allen Betroffenen gemeinsam geprüft werden. Wie schwierig ein solcher Verzicht zu erreichen ist, beleuchtet Dusan Neceks Stellungnahme zu den Problemen des ehemaligen Jugoslawien: "Kulturautonomie ohne Eigenstaatlichkeit ist für die südslawischen Völker unannehmbar." 11

Eine solche Positionsskizze ist kein Plädoyer für einen ungebundenen Individualismus; hat doch der Mensch, der auf soziale Anerkennung nicht verzichten und nur in Sprache leben kann, um seines Gelingens willen seine soziale Anlage zu bejahen und so auszugestalten, daß er die entstehenden Herrschaftsformen zu rechtfertigen vermag. Was er als Mensch beansprucht, darf er dem anderen Menschen nicht verweigern. Ein anderes Verhalten ist unvernünftig.

Es ist zwischen den Menschenrechten des einzelnen, den Gruppen- und Minderheitsrechten und den Mehrheits- wie auch den vom Menschen abgeleiteten Staatsrechten zu vermitteln. So zeigt sich, daß der Schutz der Minderheiten nicht dem Nationalstaat allein anvertraut und angelastet werden darf, sondern daß es sich hier vielmehr um eine Aufgabe der Völkergemeinschaft handelt. Wird sie diesen Auftrag übernehmen wollen und wie wird sie ihn ausführen können? Diese Fragen werden den Weg in das 21. Jahrhundert bestimmen und leider wohl auch belasten. "Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte", gilt immer weniger in einer Welt, in welcher jeder Streit einen weltweiten Flächenbrand entzünden kann. Die über den Nationen errichteten Institutionen sind gefordert. Wer noch um das stolze Schlagwort "Die Nation unterwirft sich nur sich selbst" weiß, ahnt die Schwierigkeit einer solchen Verantwortungsübernahme. Auf dem Weg zur Selbstwerdung der Staaten kam gewiß auch dem Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten hohe Bedeutung zu. Was jedoch den Menschenrechtsschutz angeht, so ist er weder eine "innere" noch eine "äußere", sondern eine gesamtmenschliche Angelegenheit. Abgrenzung hat hier der Vereinheitlichung zu weichen.

Weiterhin ist zu fragen, wie viele Superstaaten und wie viele Mikrostaaten sich ein funktionierendes Weltensemble der Staaten erlauben kann und darf12. Dürfen es so viele sein, wie es selbst wünschen? Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muß zu stabilen, leistungsfähigen Staaten führen. Wird der Aufbau einer eigenen Streitmacht nicht oft die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und des Volkes überfordern? Ein konföderierter Politiker rief bei der Abspaltung des ersten Staats von der Union aus: "South Carolina ist zu klein für eine Republik und zu groß für ein Irrenhaus." 13 Wie beherzigenswert! Staatenunionen oder Föderationen könnten dieses Problem mildern, indem die Zahl der Staaten sich in den Vertretungskörperschaften etwa der UNO wieder verringern würde; doch dürfte solchem Zusammenschluß oft im Weg stehen, daß in aller Regel die Anrainerstaaten, welche sich als Bündnispartner anbieten, die einstigen Oberherren waren, von denen man sich freikämpfen mußte. Die Souveränität läßt aber Grade zu.

Grillparzers Prophezeiung, daß der Weg der Menschheit "von der Humanität zur Nationalität zur Bestialität"14 führe, ist als unbegründet abzulehnen, wenn eine zwangsläufige Abfolge gemeint ist. Aber richtig ist an einem solchen Ausspruch, daß sich jeder, der blindlings immer das Trennende dem Verbindenden und die Eigenheit der Andersheit vorzieht, zum Unmenschen wandelt.

Multikulturalismus

Selbstbestimmung führt zu Zersplitterung. Die Geschichte multikulturellen Lebens reicht bis dorthin zurück, wo Menschen die Vielfalt der Kulturen zum Problem und die Gestaltung des Verhältnisses zur Aufgabe geriet. Erfahrungen begleiteten dieses Gespräch: Die Ausrottung von Kulturen der Minderheiten fand sich ebenso im Arsenal der Erfahrungen wie die kulturelle Einvernahme des Siegers ­ Alexanders, Cäsars, Theoderichs etc. - durch die Kultur der Besiegten.

Aus welchen Motiven ist der Begriff in die deutschsprachige Literatur eingebracht worden? Wer den Begriff und die Sache befürwortet, bejaht die Tatsache, daß es nirgendwo den "reinen", "ethnisch sauberen" Nationalstaat gab und Einwanderungen schlichtweg stattfinden. Wir befinden uns nun einmal in einem Zeitalter der Völkerwanderung. Das Teilen, so diese Ansicht, sei deswegen selbstverständlich, und niemand und kein Volk genieße ein Privileg auf ausschließlichen Genuß irgendeines Gutes. Es wird hier nicht eigentlich aus der "Not" eine Tugend gemacht, vielmehr verlangen sich Menschen Realitätssinn ab und weigern sich, aus der Wirklichkeit in Träume von Einheit und Reinheit zu fliehen.

Doch kann auch Ablehnung bis hin zu Selbsthaß die multikulturelle Gesellschaft bejahen, ja fordern lassen. Gelte es doch beizeiten, so wird gesagt, gegenüber den in der eigenen Kultur verborgenen, wirksamen und gefürchteten Kräften Gegengewichte oder eine übergeordnete Einheit zu schaffen. Diese Richtung befürwortet die Eingliederung in Europa, das sich zur supranationalen und multikulturellen Gesellschaft formt15.

Die Ablehnung der multikulturellen Gesellschaft hingegen wächst aus der Furcht, die Identität und die Heimat zu verlieren. Eine solche Furcht veranlaßte 1982 das sogenannte "Heidelberger Manifest" bundesdeutscher Universitätsprofessoren. Mit ihm versuchten sie vor Überfremdung, Unterwerfung und einer Einwanderung zu warnen, welche unumkehrbare Prozesse einleiten würde. Der Deutsche müsse, so das Manifest, Herr im eigenen Hause bleiben16. Aber denkt man nach, was hier "eigen" heißt, und welche Muster sich in dem Wort vom "Herr im eigenen Haus" verbergen? Andererseits: Nimmt man solche Furcht, ja vielleicht sogar Ängste, wirklich ernst?

Eine Ablehnung der multikulturellen Gesellschaft speist sich gelegentlich allein aus der Furcht vor einer Flut von Konflikten. Gegen Fremde habe man nichts, so jedenfalls wird beteuert, doch warne man vor einem Weg in eine unüberschaubare, wenn nicht sogar unsteuerbare Zukunft. Hier gilt es, die Ursachen von Komplexität aufzuzeigen, die ja nicht allein und nicht vorrangig in der Zuwanderung liegen. Das Zusammenleben ist außerdem gestaltbar.

Eine erste Entkrampfung gegenüber der sich als "Mosaik" darstellenden Gesellschaft vermag der Blick auf die Begriffe "Gesellschaft" und "Kultur" zu erzielen. Gesellschaft bezeichnet die Einheit des Zusammenlebens von Menschen, die durch bestimmte Regelsysteme gewährleistet ist. "Einheit" bedeutet hierbei nicht Uniformität, also Einheitlichkeit, sondern die Zusammenfügung von Verschiedenen. Gesellschaft ist Einheit in Verschiedenheit, des Gebens und Nehmens17.

Unter Kultur können wir die Art und Weise verstehen, wie der Mensch die Natur zu seiner Welt gestaltet, wobei die Weltgestaltung zugleich Selbstgestaltung des Menschen ist. Sie setzt sich aus den höchst verschiedenen Leistungen der einzelnen und den Institutionen und Werken der Gesamtheit zusammen. Eine multikulturelle Gesellschaft kann geschichtlich davon gekennzeichnet sein, daß die eine Kultur ihren Raum verkleinert, eine andere ihn auf bisheriges Neuland ausdehnt, alle zusammen ihn aber abstecken. Auch kann sich eine neue, sämtliche Kulturen verbindende Kultur herausbilden, gleichsam eine transkulturelle Kultur. Von Antonio Gramsci, Georges Bataille und Michel Foucault ist zu lernen, daß die Macht nicht nur zur Befriedung einer Gesellschaft führt, sondern auch innerhalb einer befriedeten Gesellschaft herrscht. Dort wo die Kultur auch die politische Gewalt geformt hat, wird sich die Macht vereinheitlicht und vielleicht verringert haben. Dort jedoch, wo eine Minderheitenkultur dem Verfassungs- und Rechtsstaat fremd, wenn auch als Nutznießer gegenübersteht und trotzdem in ihn eingefaßt wurde, unterstehen die Angehörigen der betreffenden Kultur verschiedenen "Macht"­Habern, etwa Vätern, Religionsverkündern, Gesetzgebern etc. Konflikte eigener, bislang unbekannter Art können sich einstellen.

Wenn wir nur beide Begriffe, "Gesellschaft" und "Kultur", ernst nehmen, verliert der Begriff "multikulturelle Gesellschaft" insofern an Brisanz, als jede Gesellschaft eine Einheit in Vielfalt ist, in welcher ein jeder seine Art des kulturellen Lebens pflegen kann oder pflegen können müßte. Keine Kultur kann alle Entfaltung anbieten, jede setzt Akzente.

Jede Kultur ist eine Mischkultur

Die griechische Kultur nahm Elemente aus Mykene und Kreta auf, die römische lebte aus etruskischem Erbteil und eignete sich hellenistische Denkart an. Auch die christlich-abendländische Kultur holte ihre Kraft aus verschiedenen Kulturen. Insofern ist auch sie multikulturell und schuf doch aus der Vielfalt und in der Vielfalt eine unverwechselbare einheitliche Kultur. Für alle Kulturen läßt sich der Mischcharakter belegen. Keine Kultur ist rein, aber jede ist in ihrem Mischungsverhältnis und in ihrer Kraft der Amalgamierung einzigartig.

Die Begegnungsprozesse können vielfältig, dramatisch und verhängnisvoll verlaufen. Gerade dort, wo die Minderheitskultur sich assimiliert, sich "ähnlich" macht, kann dies zum physischen Leben und zur Bereicherung gereichen, vielleicht aber auch Verachtung eintragen und Furcht hervorbringen. Verrät man nicht die bisherige eigene Kultur? Gegenüber den Juden ließ sich die Angst schüren, daß nun unter dem gewohnt-vertrauten Gewand deutscher Kultur der Außenseiter lauere. Mehr noch als das unterscheidbare Fremde fürchten Menschen das Fremde im Bekannten. Nicht das Wissen, daß es neben mir auch anderes gibt, verunsichert zutiefst, sondern die Unsicherheit, ob dies oder jenes Vertraute nicht doch Fremdes birgt. Daß Verstellung, gar Hinterlist im Spiele sei, wird willfährig vermutet. Auch hier erweist sich der Übergang vom Fremden zum Eigenen als der gefährlichste Abschnitt einer kulturellen Wanderung. Wenn nun die multikulturelle Gesellschaft beständig solche Abwanderungen, Zuwanderungen, Konversionen und Reversionen kennt, steigt sicherlich eines: die Unsicherheit. Deswegen ist die Verleihung der Staatsbürgerschaft allein kein Weg zum versöhnten Miteinander.

Wenn die eigene Kultur bewahrt bleibt und sich über verschiedene Beziehungen mit der fremden verkoppelt, sprechen wir von Integration. Viele befürworten die Integration von Ausländern, aber nur derer, die bereit sind, Anpassungsleistungen zu erbringen, sich den wesentlichen nationalen, hier: deutschen Standards zu beugen und sich bestimmte Haltungen anzueignen. Meist sind es für das Zusammenleben durchaus wichtige, wenn auch nicht die höchsten Werte wie Pünktlichkeit, Sauberkeit oder Arbeitssinn. Damit soll eine Schranke gezogen werden. Ebensolche Thesen vertrat das bereits erwähnte "Heidelberger Manifest", das zugleich forderte, daß man den anderen Bevölkerungen nicht das Wertvollste wegnehmen dürfe, was sie hätten, nämlich ausgebildete Menschen. Scheinheilig wird also darauf verwiesen, daß Bereicherung in Deutschland Verarmung im Heimatland der Einwanderer bedeute; dies sei unmoralisch. Die Abwehr verschanzt sich hinter dem humanen Argument. Den Grundkonsens zu bejahen, erscheint unerläßlich. Als ein Element muß er die Norm enthalten, über den Menschenrechts- und Minderheitenschutz hinaus anderen Kulturen Wohlwollen entgegenzubringen. Integration, will sie denn gelingen, muß von allen Bewohnern geleistet werden und kann nicht einseitig geschehen. Die lebenswichtigsten Angleichungen werden erfahrungsgemäß schon um des Überlebens übernommen werden.

Insertion ist eine Eingliederung, die ein plurales Miteinander meint, ohne daß die Beziehungen der einzugliedernden als auch der eingliedernden Gruppe beschädigt werden. Es kann dem Frieden helfen, wenn Minderheiten gestärkt werden, so daß sie nicht zu einem aberwitzigen Aufstand gezwungen sein werden.

Kulturen als Mischkulturen zu betrachten, verbietet nicht das Abstammungsdenken, ja, läßt es um so dringlicher erscheinen. Ich muß wissen, woher ich bin, um zu wissen, wer ich bin. Doch sind zugleich die Querverbindungen zu anderen Kulturen und die wechselseitigen Beeinflussungen zu entdecken18.

Wie viele Kulturen sind zu bewahren? Sind wir vielleicht auf dem besten Weg, von einer zuerst multikulturellen zu einer multikulturlosen Gesellschaft zu werden?19 Sicherlich nicht, da jeder Mensch in seinen Bezügen Kultur hat und baut. Aber es könnte eine Einebnung geben, in der die Kulturen zu ähnlich und damit uninteressant werden. Bloße Einheit wäre zu wenig. Es wird außerdem ein Miteinander sein müssen, das die Menschenrechte eines jeden schützt und das Gemeinwohl besorgt. Wenn laut Richard von Weizsäcker Preußen eine multikulturelle Gesellschaft war, weil dort Juden, Slawen und Hugenotten (sic!) mit Deutschen zusammenlebten, so beweist dies, daß der Tatbestand selbst nicht ganz neu ist. Aber welches gemeinsame Kulturziel ist denn in Preußen erzielt worden? Warum fehlte die Solidarität zwischen den Gruppen während der Nazizeit?

Vom gelungenen Zusammenleben ist selten zu berichten. Kalifornien, der "Sonnenstaat", brüstete sich mit dem Titel einer "multicultural society"; doch läßt sich von geglücktem Zusammenleben sprechen? Die Unruhen von Los Angeles im Sommer 1992 zeugten von einem enormen Konfliktpotential zwischen Afroamerikanern und Hispanos. Der gewaltsame Versuch unter US-Präsident Lyndon B. Johnson, die Rassen zueinanderzubringen, führte zu dem Busing-system in den Südstaaten. Der Zwangstransport der weißen und schwarzen Kinder aus ihren "Ghettos" in eine Schule hinterließ traumatische Erlebnisse für die Kinder und wirkte sich für die Lehrerinnen und Lehrer existenzgefährdend aus. Unvorbereitet traf man aufeinander und blieb Tag für Tag ohne Rückzugsmöglichkeit miteinander konfrontiert.

Austausch ist zu pflegen, in dem Selbst- und Fremderkenntnis geschieht. Bewertungen nach Höher- und Minderwertigkeit sind abwegig, Begutachtungen dagegen zur Orientierung nötig. Das Auseinanderbrechen unserer Gesellschaften in einen humanistisch-westlichen und einen islamisch-fundamentalistischen, in einen ost- und einen westeuropäischen, in einen Süd- und einen Nordblock ist noch nicht gebannt. Das Konzept der multikulturellen Gesellschaft verlangt ein in etwa austariertes Miteinander mehrerer, vielleicht vieler kleinerer Gruppen, ohne daß eine die Oberhand gewinnen kann. Wohl kaum wird das Miteinander einer sich als privilegiert verstehenden kulturellen Großgruppe mit mehreren kleineren gedeihlich sein. Und so wie einst die politische Gemeinschaft zu lernen hatte, sich nicht mehr von einer Religion her zu bestimmen, dann auch nicht mehr von einer Moral, so jetzt nicht mehr von >em>einer einzigen Kultur. Aber woraus will sie dann leben?

Menschenrechte versus Recht auf Unterschiedlichkeit?

Aus heutiger Perspektive war die Formulierung der Menschenrechte in der damals gefundenen Form ein notwendiger und guter Schritt. Heute sind sie zu ergänzen, so daß sie selbst nicht nur die von allen Unterschieden - Geschlecht, Alter, Religion, Sprache - abstrahierten Menschen schützen, sondern auch den in je eigener Konkretheit lebenden Menschen. Kulturelle Rechte sind auszugestalten, damit auch die Unterschiede und nicht mehr bloß das Allgemein-Verbindliche geachtet werden20.

Auch das immer wieder ins Spiel gebrachte "Recht auf Differenz", "le droit à la difference", ist zu allgemein. Eingebracht von Gruppen zur Abwehr des Rassismus, die sich gegen die Assimilationsforderungen stemmten und wehrten, vereinnahmte alsbald Le Pen vom "Front National" dieses Recht, um die Eigenart, den Raum und die Entfaltungsmöglichkeiten der Franzosen gegen die Nichtfranzosen zu schützen. Und wie ist es mit den Forderungen nach Schächtung der Tiere, Beschneidung der Töchter, Zwangsverheiratung und dem "Recht", Schriftsteller mundtot zu machen, die den eigenen Gott zu höhnen beschuldigt werden? Wenn Jürgen Habermas die "Vielfalt verschiedener kultureller Lebensformen" begrüßt und zugleich "die Sozialisation aller Staatsbürger in einer gemeinsamen politischen Kultur" für unerläßlich hält21, so ist die richtige Richtung angegeben.

Eine erste Problematik entsteht aber, wenn "eigenes kulturelles System" und "allgemein verbindliches politisches System" zu stark abgetrennt und die politische Dimension des einen und die kulturelle Dimension des anderen Systems vergessen werden. Die Aufgabe, eine dem Menschen gerecht werdende Verbindung beider Systeme zu schaffen, hat in der multikulturellen Gesellschaft Förderung zu erfahren; zu leisten ist die Verbindung nur von den je einzelnen Mitbürgern.

Die zweite Problematik besteht in der unterschiedlichen Auslegung eines dem Wortlaut nach erst einmal gleichbleibenden Grundkonsenses und dann auch seiner Abänderung. Als Richtlinie kann gelten: Von jeder Kultur ist eine Hierarchisierungsdebatte über ihre Werte zu führen. Zwischen der Verpflichtung zu einem Tun, der Pflicht, bestimmtes Tun zu unterlassen, und der Erlaubnis, etwas zu tun oder zu unterlassen, ist strikt zu unterscheiden. Der erste Handlungstyp bedarf der umfassendsten Begründung. Was der Würde und der Gleichheit dient, ist mit den Mitteln des Rechtsstaats zu verteidigen. Da für ihn kein Ersatz in Sicht ist, darf er als Verfahrens- und Schutzraster nicht zur Dispositon stehen. Wo nach der Ansicht einer Kultur die Würde des Menschen in einer anderen Kultur massiv beeinträchtigt wird, hat erstere um ihrer Selbstachtung willen alle friedlichen juridischen Mittel anzuwenden, um diesen Rechten Geltung zu verschaffen. Diese Konflikte durchzutragen kann nicht erspart werden. Unparteiisch, unter Aufweis der Uneigennützigkeit und in unteilbarem Einsatz ist für diese Rechte einzutreten. In einem Religionsgespräch wäre der Stellenwert der einen oder anderen Forderung zu zeigen, zum Beispiel daß die Exzision aus vorislamischen Religionen in den Islam übernommen wurde, aber nicht vom Koran gefordert ist, und daß Verunsicherungen, die "Säkularisierungserscheinungen" hervorriefen - etwa Salman Rushdies "Satanische Verse" - nicht durch Knebel oder Schüsse aufzuhalten, sondern mit Erziehung zu beantworten sind. Das Recht einer multikulturellen Gesellschaft wird sicherlich höchst differenziert sein.

Zu wünschen ist eine Überprüfung der Grundgesetzartikel, die bislang den Staatsangehörigen reserviert sind. Muß der Kreis solcher ihnen ausschließlich vorbehaltener Rechte gleichbleiben? Können nicht eine Reihe von Grundrechten, etwa das Vereinigungs- und Versammlungsrecht, allen Menschen, die innerhalb dieses Staates leben, als Grundrechte zuerkannt werden? Art. 3 III GG sollte überdies nicht bloß für das Individuum, sondern auch für die Gruppe gelten.

Was die Erweiterung der politischen Partizipationsrechte auf Ausländer betrifft, so bleibt das Wort des Aristoteles weiterhin wahr: "Haben sie aber keinen Anteil an der Staatsgewalt, wie hätten sie da Anhänglichkeit an die Staatsgewalt?" 22 Daß auf dem kommunalen Feld begonnen wird und erst dann auf die Ebene des Landes und schließlich des Bundes übergegangen wird, läßt sich vom Gesichtspunkt der Betroffenheit her nur schwer rechtfertigen. Ausländer sind mindestens so stark wie auf kommunaler Ebene auch durch Bundesgesetze betroffen. "No taxation without representation" drückt ebenso wie das mittelalterliche "Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet" - Was alle betrifft, ist von allen zu entscheiden - eine letztlich friedensstützende Weisheit aus.

Die Einbürgerung ist ein weiteres Mittel, um das Miteinander ausgeglichener zu gestalten. Darf sie erteilt werden, ohne ein Minimum an Gemeinsamkeiten verlangen zu müssen? Nein. Einbürgerung ist ja Eintritt in eine Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft. Die Außensicht wird einer Innensicht weichen, und der Eingebürgerte wird nicht mehr in der gewohnten Weise von "den" Deutschen und "deren" Geschichte sprechen können. Seine Stellung zu Goethe und zu Heydrich ändert sich. Doch sollte diese Forderung nie in erniedrigender Weise, sondern aus dem Verständnis für die Geschichte, die geformten Traditionen und die Haltungen der Einzubürgernden heraus geltend gemacht werden. Ihr Bedürfnis nach Heimat, nach Geborgenheit und Anerkennung ist zu berücksichtigen. "Wir sind Franzosen und Muslime" betonen heute schon Mitbürger Frankreichs mit richtigem Gespür.

Wie prägbar ist die Mehrheit der Bevölkerung? Wie schnell läßt sie sich - wieder? - daran gewöhnen, zu teilen, nebeneinander zu leben, miteinander? Schwer zu sagen; allerdings kann niemand behaupten, daß die Möglichkeiten hier ausgelotet seien. Eine Gesellschaft sollte Begegnungs- und Rückzugsräume haben. Kaum jemand wird sich ununterbrochen Menschen anderer Sprachen und fremder Gewohnheiten aussetzen können. Er benötigt eine Absetz- und Rückzugsmöglichkeit. "Gute Zäune machen gute Nachbarn." Aber wo der Zaun aufgestellt wird, bedarf bereits der gemeinsamen Absprache, eines Grundkonsenses.

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