Der englische Theologe John Henry Newman (1801-1890) und der Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger (1799-1890) gehören beide zu den großen religiösen Gestalten ihres Jahrhunderts. Newman hat wie kein anderer Theologe der Neuzeit im katholischen Raum das Erdreich für das Zweite Vatikanische Konzil gelockert, Döllinger ragt als Symbol gegen päpstliche Machtansprüche auch in unsere Zeit hinein. Der Deutsche und der Engländer besaßen zahlreiche Gemeinsamkeiten. Gemeinsam war ihnen der Glaube an Gottes Offenbarung in Jesus Christus, in einer Zeit, die die biblischen Grundlagen dieses Glaubens in Frage stellte; sie besaßen die gleiche Leidenschaft für die Gemeinschaft der Glaubenden in der Kirche, in einer Epoche, die insbesondere die römisch-katholische Kirche zum Hort letzter Rückständigkeit erklärte und zum baldigen Verschwinden verurteilte. Der gläubigen Menschen wegen wollten sie die Entfremdung zwischen Theologie und Wissenschaft überwinden. Beide wirkten als Theologen nicht im elfenbeinernen Turm, sie stellten sich der Öffentlichkeit. Beide sehnten sich danach, daß Christen ihre Differenzen bereinigen und ein gemeinsames Zeugnis ablegen würden. Miteinander standen sie in freundschaftlicher Beziehung, wechselten Briefe und Grußbotschaften und führten ihr Zwiegespräch über gemeinsame Freunde weiter, bis der Tod sie im gleichen Jahr 1890 abrief, Döllinger am 10. Januar, Newman am 11. August1.
Fast noch stärker fallen die Verschiedenheiten ins Auge. Newman war sicher der universalere Geist: Theologe, Seelsorger, zu Lebzeiten bereits ein Klassiker der englischen Sprache, Freund seiner vielen Freunde, Meister des geistlichen Lebens. Döllinger besaß manche dieser Eigenschaften und einzelne ausgeprägter als Newman. Doch sie standen bei ihm nicht in jenem harmonischen Gleichgewicht wie bei seinem englischen Kollegen. Zwar war er keineswegs der Gelehrte, der nicht über die Enge seines Studierzimmers hinaussah, wie manche ihn gerne karikierten. Doch war er sicher der strengere Wissenschaftler, auch in seinen Freundschaften auf Intellektuelle oder Akademiker eingeschränkt, der Mann mit dem überlegeneren kirchenhistorischen Fachwissen. Er war jedoch abhängiger als Newman von kirchlichen und kirchenpolitischen Wetterlagen. Vor allem war er Katholik von Haus aus, von Jugend an gewöhnt, auf organisatorischer und publizistischer Ebene für die Kirche zu streiten, recht selbständig, ohne auf bischöfliche oder römische Signale zu warten. Die Eigenschaften seines kämpferischen Wesens verschmolzen mit seinem Einsatz für die Kirche. Eine Glaubenskrise, wie Newman sie mit 15 Jahren durchmachte, hat Döllinger nicht erlebt. Newman hat das in seiner Autobiographie so beschrieben:
"Als ich fünfzehn war, erlebte ich einen tiefgreifenden Denkwandel. Ich kam unter den Einfluß eines bestimmten Glaubensbekenntnisses, und mein Denken wurde von dogmatischen Grundsätzen geprägt, die durch Gottes Barmherzigkeit niemals wieder ausgelöscht oder verdunkelt wurden."2
Mit dieser intellektuellen Bekehrung verband Newman die Einsicht in die Notwendigkeit eines bestimmten Bekenntnisses und festgelegter Glaubensformeln. Seine Frömmigkeit wuchs jedoch über die intellektuelle Ebene hinaus, um sich in Gottes Gegenwart zu versenken, "um im Gedanken der zwei Wesen zu ruhen, die einzig absolut und zweifelsfrei existent sind - ich und mein Schöpfer. Myself and my creator."3
Ungleiches Erleben der Kirche
Ich und mein Schöpfer. Eine so intime Gottesbeziehung läßt sich bei Döllinger in Texten nicht nachweisen. In diesem Punkt ist der Deutsche diskreter, dafür mitteilsamer, wenn es um die Kirche geht. Im Rückblick auf sein Leben schrieb Döllinger 1882 dem Freund und Schüler Lord Acton:
"Sie haben nie empfunden, und können es nicht ganz fassen, was es heißt, den Bildungsgang eines Priesters und Theologen durchgemacht zu haben, in einem so ganz auf Beherrschung der Geister berechneten System reif geworden zu sein und lange Jahre in dessen Dienst gestanden zu sein. Sie können es nicht so nachempfinden, welcher Seelenzustand, welche geistige Atmosphäre sich bildet, wenn der Mensch Tag für Tag mit der Vorstellung durchtränkt wird, daß Unterwerfung unter die Autorität das Eine zum Heil der Welt und für die eigene Seligkeit Notwendige sei. Wie an einem Blatt Papier die einmal demselben gegebene Falte nie mehr verschwindet, nie vertilgt werden kann, so ist es mit dem pli d'une éducation cléricale . . . Mein ganzes Leben ist ein suczessives Abstreifen von Irrtümern gewesen, von Irrtümern, die ich oft mit Zähigkeit festhielt, gewaltsam gegen die mir aufdämmernde bessere Erkenntnis mich stemmend und doch meine ich sagen zu können, daß ich dabei nicht dishonest war."4
Wer vom anklägerischen Ton dieses Briefes absieht und sich auch an der Bitterkeit nicht stört, die ihn durchzieht, kann ermessen, was die Kirche positiv für Döllinger bedeutet hat: unendlich viel. In ihr war seine Gottesbeziehung aufgehoben, fast unreflektiert; vom Lebensgefühl, das sie vermittelte, ließ er sich tragen. Die Sache seines Lebens identifizierte er sozusagen vorbehaltlos mit ihr. Die Probleme begannen erst, als er merkte, daß der Kirchenkurs, den er vertrat, von anderen bestritten wurde, eine Gegenpartei das Steuer der Kirchenpolitik an sich riß und in eine von ihm als verhängnisvoll empfundene Richtung lenkte. Gerade weil die Kirche ihm so unsäglich viel bedeutete, war der Zusammenstoß mit jener innerkirchlichen Richtung - Partei nannte er sie - später so heftig, wuchs die Enttäuschung über die Kirche ins Maßlose.
In die Irre ginge jedoch, wer schließt, daß für Newman die Kirche bedeutungslos, gewissermaßen irrelevant gewesen sei. Im Gegenteil. Sonst hätte er nicht auf der Mitte seines Lebenswegs zur römischen Kirche konvertiert. Aber Newman sah die Kirche relativer als Döllinger; sein Kirchenverständnis wurde von seinem Gottesbild eingegrenzt. Das war so in seiner anglikanischen Zeit, es sollte auch so nach seiner Konversion zum römischen Katholizismus bleiben. Beim Konvertiten Newman besteht gewissermaßen, so paradox das auch scheinen mag, eine innere Einheit zwischen seiner anglikanischen Periode und seiner römisch-katholischen, beim Münchener Kirchenhistoriker erleidet die bisher unproblematische Identifizierung mit der Kirche Sprünge und Risse im Jahr der Verkündigung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit. Newman war erst nach langem inneren Ringen zur Überzeugung gekommen, daß die römisch-katholische Kirche rechtmäßige Erbin der Kirche der ersten drei Jahrhunderte sei:
"Würden der heilige Athanasius oder der heilige Ambrosius plötzlich wieder lebendig, so kann kein Zweifel darüber bestehen, welche Gemeinschaft sie für die ihre halten würden."5
Seine Konversion selber beurteilt er nüchtern, weder triumphalistisch noch polemisch, moralische Hiebe in Richtung der Gemeinschaft der Herkunft austeilend.
"Daß mein Übertritt irgendwelche intellektuelle oder moralische Änderung in meinem Geist bewirkt hätte, kann ich nicht sagen; auch war ich mir keines festeren Glaubens an die großen Offenbarungswahrheiten oder einer größeren Fähigkeit zur Selbstbeherrschung bewußt, noch hatte ich mehr Eifer als zuvor. Aber es schien mir, als hätte ich nach stürmischer Fahrt den sicheren Hafen erreicht."6
Newman - Konversion als sozialer Abstieg
Diese Nüchternheit in der Beurteilung der Kirche kontrastiert mit der Erregung Döllingers zur Zeit des Ersten Vatikanischen Konzils. Doch darf man hinter den Ausdruck Newmans von der katholischen Kirche als sicherem Hafen ein Fragezeichen setzen. Hatte er wirklich einen sicheren Hafen erreicht? Gewiß hatte es in seiner anglikanischen Zeit manche Auseinandersetzung mit Bischöfen und Theologen gegeben, hatte er herben Tadel an der Einmischung des Staates in die inneren Angelegenheiten der anglikanischen Staatskirche geübt. Doch all das war ein Sturm im Wasserglas gewesen im Vergleich zur entfesselten menschlichen Unzulänglichkeit, ja Bosheit, die ihn im römischen Hafen erwartete. Als Fellow des Oriel College in Oxford, als Pfarrer von Little Saint Mary und als Universitätsprediger war er ein geachteter Mann gewesen. Bei seinem Übertritt verließ er nicht nur die Staatskirche, sondern katapultierte sich gewissermaßen aus dem weiten, bergenden sozialen Gefüge der Church of England hinaus in ein Niemandsland. Seine neuen Glaubensbrüder taten sich schwer mit ihm. Er war für sie unbequem, ein Störenfried, viel zu gescheit und zu kompliziert für ihresgleichen, einer, den man höchstens als Konversionstrophäe vorzeigen konnte. Sein direkter Einfluß in der Kirche seiner Zeit war im Gegensatz zu Döllinger ziemlich gering. Das geht schon daraus hervor, daß sein Ruf als theologischer Schriftsteller auf seiner anglikanischen, nicht auf seiner römisch-katholischen Periode beruhte.
Sein Übertritt war deshalb gesellschaftlich und soziologisch gesehen eine Art Abstieg in Untiefen. Er brachte zudem seine schriftstellerische Arbeit zeitweilig zum Erliegen. Newman hat zwischen 1845 und 1870 kein größeres theologisches Werk mehr veröffentlicht. Seine Versuche, in der neuen Gesellschaft Wurzeln zu schlagen und sich nützlich zu machen, sind eine Kette von Mißerfolgen. Die Gründung einer katholischen Universität in Dublin (1852-1858) scheiterte am Mißtrauen der irischen Bischöfe. Seine Bemühungen, ein katholisches Studentenzentrum in Oxford zu errichten mit dem Fernziel, die Immatrikulation katholischer Studenten zu erreichen und die katholische Elite ans geistige Leben der Nation anzuschließen, zerschellten am Unverständnis des englischen Episkopats. Die ihm zugedachte Übersetzung der Hl. Schrift ins Englische und die Übernahme des "Rambler", der einzigen katholischen Zeitschrift, wurden ihm in höchst unfairer Weise wieder entrissen. 1859 wurde sein Aufsatz "Über die Befragung der Gläubigen in Sachen der Lehre" in Rom denunziert, ohne daß er sich rechtfertigen konnte. Wenige Jahre später mußte er sich gegen einen öffentlichen Angriff auf die innere Wahrhaftigkeit seiner Konversion verteidigen. Im Gegensatz zu Erzbischof Manning von Westminster hielt er die weltliche Macht des Papsttums, die 1870 tatsächlich hinweggefegt wurde, für eine bedenkliche, der Kirche schädliche Last: ein Standpunkt, der ihn in äußersten Mißkredit brachte. In Rom geriet er wegen einer Nachlässigkeit von Kardinal Wiseman für viele Jahre in den Verdacht der Unbotmäßigkeit gegenüber kirchlicher Autorität. Newman ging in seiner römisch-katholischen Zeit wahrhaftig unter der Wolke.
Ein französischer Biograph hat vom Martyrium Newmans gesprochen7. Das klingt etwas pathetisch; doch im Vergleich zu Döllinger ergibt sich, daß Newman den Konflikt mit der kirchlichen Autorität bereits in seiner anglikanischen Zeit, vor allem aber in seiner römisch-katholischen, als den Normalfall seiner christlichen Existenz erlebte. Gewiß hatte er Freunde und Bewunderer, zeitweilig umspülte ihn auch eine gewisse Berühmtheit. Aber all das war sehr unbeständig, hatte keine institutionellen Sicherungen und konnte sich nicht abstützen auf die Sympathie größerer Kreise.
Döllinger - Ajax des Ultramontanismus (Hefele)
Mit Döllinger verhielt es sich umgekehrt. Er hatte in seinem Leben nur wenig Erfahrung mit innerkirchlichen Konfliktsituationen gemacht. Lange bevor 1869 das Erste Vatikanische Konzil einberufen wurde, war der Münchener Kirchenhistoriker nicht nur der führende katholische Theologe par excellence, sondern auch unter den Theologen der kirchen- und gesellschaftspolitische Vordenker des deutschen Katholizismus. Kirchlich umstritten war er, sieht man vom üblichen Gelehrten- und weniger gelehrten Geplänkel ab, bis zu Beginn der 60er Jahre nicht. Er erfreute sich eines breiten innerkirchlichen Konsenses, hatte ein gutes Verhältnis zum Episkopat, zeitweilig auch zu einzelnen päpstlichen Nuntien. Er war wohlbestallter Universitätsprofessor, päpstlicher Geheimkämmerer, Berater der Bischöfe, Stiftspropst von St. Cajetan, Leiter der Universitätsbibliothek, verschiedentlich Rektor der Universität, zeitweise Abgeordneter des bayerischen Landtags. Er gehörte wie ein Prälat der Church of England zum kirchlichen Establishment der deutschen Kirche. Wenn es Konflikte in seinem Leben gab, so hatten diese sich bisher entweder in der weitgehend polemischen Auseinandersetzung mit den Protestanten oder im Kampf gegen staatskirchliche Übergriffe abgespielt. Seine von König Ludwig I. 1846 verfügte Quieszierung als Universitätsprofessor im Gefolge der Lola-Montez-Affäre hatte seinem Renommee weit mehr genutzt als geschadet.
Im Jahrzehnt vor dem Ersten Vatikanischen Konzil ändert sich diese Situation. Döllinger gerät in steigendem Maß in Konflikt mit dem kirchenpolitischen Kurs in Rom, ohne jedoch seinen Kredit in der deutschen Kirche zu verlieren. Er wird umstrittener, hat erklärte Gegner, aber ebensosehr auf ihn eingeschworene Gefolgsleute. Je mehr sein Stern am kirchlichen Horizont verblaßt, desto heller strahlt er am gesellschaftlich-kirchenpolitischen Himmel auf. Kurz vor dem Konzil wird er Reichsrat der Krone Bayerns, also Mitglied der Ersten Kammer, stärker als zuvor Berater der bayerischen Regierung in kirchenpolitischen Fragen, und in der Agitation um das Erste Vatikanische Konzil schließlich zu einer internationalen Zelebrität. Bei James Joyce taucht der "Kardinal" Dolling in Dubliner Stammtischrunden auf8.
Die Auseinandersetzungen um das Erste Vatikanische Konzil in den Jahren 1869/70 und erst recht seine Exkommunikation durch den Erzbischof von München im April 1871 trugen dazu bei, seinen Berühmtheitspegel noch weiter ansteigen zu lassen. Ehrendoktorate, Zustimmungsadressen, Ehrenbürgerbeurkundungen, Sympathieschreiben, königliche Handschreiben - "mein Bossuet", schrieb ihm König Ludwig II. - häuften sich auf seinem Schreibtisch. Als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1873) und Generalkonservator der wissenschaftlichen Sammlungen des bayerischen Staates erreichte er die höchste Position, die Bayern damals an einen Wissenschaftler vergeben konnte. An die Stelle eines Ultramontanen, der ihn nicht mehr grüßte, traten zehn andere, die ehrfurchtsvoll ihre Hüte zogen, wenn der von seiner Kirche malträtierte Gelehrte im Englischen Garten vorbeiging. In seinem Haus an der Frühlingsstraße gaben vornehme Besucher aus dem In- und Ausland einander die Türklinke in die Hand, so daß es ihm selber fast zuviel wurde9.
Ganz anders steht Newman da. Kein Rektorenhermelin und kein Prälatenmantel bedeckten seine Schultern. Er war Superior des Oratoriums von Birmingham, einer unattraktiven Industriestadt im Kohlenrevier. Bereits diese wenig glorreiche Position war nicht unumstritten, da eine Zeitlang versucht wurde, das Oratorium in Birmingham demjenigen in London zu unterstellen. Auf deutsche Verhältnisse übertragen war er soviel wie der Leiter einer Missionsstation mit einem im Aufbau begriffenen Gymnasium in Chemnitz oder im Ruhrpott.
Gemeinsamkeit der Konfliktsituation - Unterschiede ihrer Bewältigung
Nun brachte das Erste Vatikanische Konzil Newman und Döllinger in einer gemeinsamen Konfliktsituation auf ungeahnte Weise näher. Mit dem Münchener Kirchenhistoriker teilte der Engländer den Abscheu vor allen Aktivitäten in der Unfehlbarkeitsfrage, die die Dogmenerhebung päpstlicher Vorrechte zu einer Existenzfrage der Kirche aufbauschten. Eine unverschämte und aggressive Clique nannte er sie, die andern einen Lehrsatz aufdränge, der sie in schwere Gewissensnot bringe, ohne daß ein ausreichender Grund dafür vorhanden sei. Doch im Gegensatz zu Döllinger hatte er mit der Lehre selber keine Schwierigkeiten, da sie bereits in den Anschauungen seiner anglikanischen Zeit verwurzelt war. Deshalb sah er entgegen allen Gerüchten, die zeitweilig zirkulierten, nie den geringsten Anlaß, die römische Kirche zu verlassen und nach Canterbury zurückzukehren. Eine solche Versuchung ist nicht an ihn herangetreten, weil weder die Begleitumstände der Dogmenproklamation noch die damit verbundenen vielfachen historischen Einwände für ihn ein solches Gewicht besaßen, daß sie die Wahrheit der Kirche und die ihr gegebenen Verheißungen zunichte machen könnten10.
So befand Newman sich bei aller Gemeinsamkeit theologischer Grundanliegen und der Einschätzung der auf die Unfehlbarkeitserklärung hinzielenden Propaganda auf einer von Döllinger verschiedenen Ebene. Er konnte zahlreichen Menschen, die verunsichert waren, Mut machen, in der Kirche zu bleiben11, Gottes Verheißungen an die Kirche ernster zu nehmen als die Unzulänglichkeiten der Menschen, wären es Päpste und Konzilien, und auf bessere Tage zu hoffen. So schrieb er 1871 einem anglikanischen Freund:
"Im Blick auf die frühe Geschichte könnte es so aussehen, als ob sich die Kirche zur vollkommenen Wahrheit bewegte auf dem Weg über verschiedene, nacheinander folgende Erklärungen, die abwechselnd in gegensätzlichen Richtungen erfolgten, sich gegenseitig vervollkommneten, ergänzten und unterstützten. Ich sage: Laßt uns ein wenig Glauben haben. Pius IX. (der Papst unserer Zeit) ist nicht der letzte der Päpste (das Vatikanische Konzil nicht das letzte). Das vierte Konzil modifizierte das dritte, das fünfte das vierte. Bald waren Männer Häretiker, bald waren sie es nicht... Die jüngste Definition (der Papstdogmen) bedarf nicht so sehr der Rückgängigmachung als der Ergänzung. Man braucht Sicherheitsmaßnahmen gegen die möglichen Handlungen des Papstes, Erklärungen, die den Inhalt und das Ausmaß seiner Macht betreffen. Ich weiß, eine gewalttätige rücksichtslose Partei, hätte sie ihren Willen, würde in diesem Augenblick definieren, daß des Papstes Macht keine Vorsichtsmaßnahmen brauche, keine Erklärungen, aber es gibt eine Grenze für den Triumph des Tyrannischen. Laßt uns geduldig sein und Glauben haben, und ein neuer Papst und ein neu versammeltes Konzil kann das Boot wieder in die richtige Lage bringen."12
Blick in die Zukunft - Blick zurück im Zorn
Newman schaut über die Bedrängnis des gegenwärtigen Augenblicks in die Zukunft, nicht aus zukunftsseligem Optimismus, sondern weil er die Verheißungen des Herrn ernst nimmt, dessen Macht über die Mächtespiele in Kirche und Theologie hinausreicht.
Döllinger hingegen, den Blick fixiert auf Rom und auf das, was sich dort zutrug, sah nicht mehr über die Panikstimmung des Augenblicks hinaus. Er nagelte das Konzil fest an den Intrigen und Machtkämpfen, die sich in Rom abspielten und die einer Bischofsversammlung so wenig erspart bleiben wie irgendeiner Versammlung von Menschen. Riesengroß sah er die Macht der Fälschungen im Mittelalter und ihren Einfluß auf die Ausgestaltung päpstlicher Machtansprüche.
"Es ist kein Geheimnis, es ist eine laute, von den Dächern verkündete Tatsache, daß in keinem Gebiet des menschlichen Wissens der Trug, die Fälschung, die Fiktion eine so große Rolle spielte als in der Kirchengeschichte. Jetzt können wir in den großen Fragen, welche die Kirche bewegen, keinen Schritt tun, ohne auf die Frage zu stoßen: Liegt hier nicht Fälschung vor, hat man nicht ein ganzes Gebäude auf der falschen Grundlage von absichtlichen tendentiösen Erdichtungen aufgebaut."13
Die Besorgnis Döllingers war echt; sie kam aus dem Herzen, das für die Kirche schlug. Es scheint tatsächlich, als ob er der Auffassung war, das kirchliche Leben müsse innehalten, bis der Historiker wie ein Arzt jene aus dem Leib der Kirche herausgewachsenen Wucherungen, eben alle Fälschungen, herausoperiert hätte. Damit mutete er dem Historiker zu, Wahres und Falsches restlos aus dem Knäuel menschlicher Entwicklungsprozesse entwirren zu können: eine offensichtliche Überschätzung seiner Möglichkeiten. Er schätzte auch den Charakter der mittel alterlichen Fälschungen nicht richtig ein. Diese waren, wie die Kenner des mittelalterlichen Menschen darlegen, weniger von böswilliger Absichtlichkeit getragen, sondern versuchten vielmehr einen tatsächlichen Zustand zu legitimieren. Das wichtigste blieb außerhalb seines Blicks: daß trotz dieser Verdunkelung die Kirche in der Wahrheit gehalten wird.
Newman hat dieses Defizit in Döllingers Argumentation klar gespürt und es pointiert formuliert:
"Eine dogmatische Festlegung kann absolut wahr sein, obwohl die Gründe, die für sie in der Definition angeführt werden, die Texte, die Autoritäten der Väter, die historischen Stellen vielfach falsch sind... Sie werden sagen, Döllinger ist ein Historiker und hat ein Recht, sich an die Tatsachen zu halten. Aber in diesem Fall ist mehr als ein Historiker nötig. Er ist, mit Vorbehalt zu sagen, kein philosophischer Historiker ... Er versetzt sich nicht in den Stand der Dinge, über die er liest ... Er legt einen ... auf den Buchstaben eines Vertrages fest, statt das zu realisieren, was auf der Bühne vor sich ging ... Ich protestiere dagegen, daß offensichtlich Betrug oder Gewalt in der Kirchengeschichte die Frage der Lehre entscheiden."14
Döllinger hörte diese Stimme nicht mehr. Für ihn waren das Beschwichtigungen eines Gutmeinenden, der die Einsätze nicht verstand. Er war überzeugt, er müsse mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln aus wahrer Gewissensund Kirchentreue die Kirche vor der Verdunkelung ihrer Wahrheit retten. Er selber führte einen verzweifelten Kampf gegen diejenigen, die - wie er meinte - im Unfehlbarkeitswahn von der wahren Lehre der Kirche abfielen.
"Als Christ, als Theologe, als Geschichtskundiger, als Bürger kann ich diese Lehre nicht annehmen. Nicht als Christ: denn sie ist unverträglich mit dem Geiste des Evangeliums und mit den klaren Aussprüchen Christi und der Apostel; sie will gerade das Imperium dieser Welt aufrichten, welches Christus ablehnte, will die Herrschaft über die Gemeinden, welche Petrus allen und sich selbst verbot. Nicht als Theologe: denn die gesamte echte Tradition der Kirche steht ihr unversöhnlich entgegen. Nicht als Geschichtskenner kann ich sie annehmen: denn als solcher weiß ich, daß das beharrliche Streben, diese Theorie der Weltherrschaft zu verwirklichen, Europa Ströme von Blut gekostet, ganze Länder verwirrt und heruntergebracht, den schönen organischen Verfassungsbau der älteren Kirche zerrüttet und die ärgsten Mißbräuche in der Kirche erzeugt, genährt und festgehalten hat. Als Bürger endlich muß ich sie von mir weisen, weil sie mit ihren Ansprüchen auf Unterwerfung der Staaten und Monarchen und der ganzen politischen Ordnung unter die päpstliche Gewalt... den Grund legt zu endloser, verderblicher Zwietracht zwischen Staat und Kirche, zwischen Geistlichen und Laien."15
Döllinger - Retroaktive Radikalisierung der Kirchenkritik
Es ist unschwer, in der nachvibrierenden Entrüstung dieses Textes die ehrliche Überzeugung zu erkennen, aber ebenso leicht die an den Papstdogmen vorbeizielenden Übertreibungen festzustellen. Ein Bestreiter päpstlicher Unfehlbarkeit heute könnte sie höchstens als rhetorische Einstimmung, nicht als Argumente gelten lassen. Die Gewissensnot des Münchener Kirchenhistorikers, der sich dadurch die Exkommunikation durch seinen Erzbischof zuzog, das heißt dem die Teilnahme am sakramentalen Leben der Kirche entzogen wurde, wird durch diese Feststellung nicht berührt. Doch vor dem Satz, in dem er sein vorhin zitiertes Nein herausschleudert, steht ein anderer. Er klingt peinlich, wenn nicht verräterisch:
"Dieses System trägt seinen romanischen Ursprung an der Stirne und wird nie in germanischen Ländern durchzudringen vermögen."16
Peinlich ist der Satz schon deshalb, weil er als eine Konzession an jene Kreise erscheint, die nach den deutschen Siegen im Krieg von 1870 mit hochgeschwellter patriotischer Brust dem romanischen Element den Kampf angesagt hatten und einen neuen Feldzug gegen den Zauberer von Rom ausbrüteten. Vor allem war dieser Satz jedoch peinlich, weil er der bis 1870 von Döllinger ungebrochen verfolgten Linie widersprach, europäische Nationen nicht gegeneinander auszuspielen, vielmehr alles zu tun, um Brücken zwischen ihren Kulturen und Traditionen zu schlagen. Deshalb haben seine besten Freunde ihn vor den Leuten gewarnt, die sich jetzt an ihn heranpirschten und seinen theologisch motivierten Widerspruch als Droge für ihren nationalpatriotischen Rausch mißbrauchten. An seinen Schüler Lord Acton, der zur Zurückhaltung mahnte, schrieb er zurück:
"Wenn Sie nun zu meinen scheinen, ich solle mich ganz zurückziehen und die Übrigen, die Guten und Reinen sowohl als die Zweideutigen, sich selber überlassen, so entspräche das allerdings meiner Neigung ... wenn ich nur wüßte, wie das zu erreichen wäre. Aber Universität, Reichsrat, die bloße Existenz schon hier in München, Akademie etc., alles macht mir einen solchen Rückzug und Abschließung unmöglich."17
Döllinger hat auch später seine Position nicht mehr revidieren können. Es war nicht Stolz, der ihn in Unnachgiebigkeit verhärtete, sondern der Umstand, daß seine Verwerfung des Ersten Vatikanischen Konzils bei ihm einen geistigen Umdenkungsprozeß einleitete. Auf theologisch-intellektueller wie auf emotionaler Ebene lockerte sich seine Anhänglichkeit an die Kirche. Sehr spät war der Verteidiger der Kirche zum Kirchenkritiker geworden; er holte nun auf, was er jahrzehntelang versäumt hatte, was er aus Bequemlichkeit, aus falscher Scham zugedeckt, in apologetischem Eifer beschönigt hatte. Die Widersprüche der Kirche und ihrer Vertreter in Vergangenheit und Gegenwart sah er jetzt mit geschärftem Blick; die Bereiche Rom, Kirche als Institution, ja auch das kirchliche Dogma, das zuweilen so viel Fanatismus und so viel Intoleranz erzeugt hatte, wurden ihm für immer verdächtig18.
Und doch: Als er 1890 starb, klagte seine Nichte, daß hinter seinem Sarg die Vertreter so vieler christlicher Kirchen und Gemeinschaften schritten, nur nicht die der seinen. Der Ausspruch zeigt, wie der Exkommunizierte seine Kirchenzugehörigkeit empfand, auch wenn die Ungeschicklichkeiten Roms und die eigene Lebenserfahrung es in dieser Welt zu keiner Aussöhnung mehr kommen ließen.
Stimmen der Zeit (1988) 723-732