Selbstverständnis und Praxis des kirchlichen Lehramts

In der Diskussion um das kirchliche Lehramt und seine Praxis wird zuwenig gefragt, wie das Lehr­amt sich selbst versteht. Kurt Koch, Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät Luzern, geht dieser Frage nach.

In der gegenwärtigen katholischen Kirche scheint das Lehramt nicht besonders hoch im Kurs zu stehen. Nicht nur Theologen und Seelsorger, sondern auch zahlreiche Laien pflegen ihm gegenüber nicht selten eine reservierte Distanz einzunehmen oder gar eine große Skepsis zu entwickeln, die sich bis zu massiven Vorurteilen gerieren kann. Diese sind vor allem daran abzulesen, daß am Lehramt teilweise recht pauschale Kritik geübt wird, ohne daß zunächst seine Äußerungen zur Kenntnis genommen werden. Solche kritiklose Kritik war beispielsweise zu vernehmen im Vorfeld der Veröffentlichung des "Katechismus der katholischen Kirche", insofern eine breite Diskussion über diesen sogenannten Weltkatechismus zu einem großen Teil ohne Kenntnis des Textes geführt wurde.

Hinter solchen Erscheinungen ist gewiß ein großer Vertrauensverlust des Volkes Gottes und seiner Theologen zu diagnostizieren, der das Lehramt zu einer selbstkritischen Überprüfung seines Selbstverständnisses und seiner Praxis veranlassen sollte. Auf der anderen Seite aber wäre es nicht nur realitätsblind, sondern auch ungerecht, würde man die Ursachen für diesen Vertrauensschwund monokausal beim kirchlichen Lehramt ausfindig machen und das Volk Gottes und seine Theologen auf diesem Wege von jeder Schuld reinwaschen. Vielmehr ist es - bereits aus Gründen der Fairneß und des Anstands - angebracht, auch einmal danach zu fragen, wie denn das kirchliche Lehramt sich selbst versteht1.

Diese Aufgabe, aus den Äußerungen des Lehramts sein eigenes Selbstverständnis zu eruieren, ist keineswegs leicht. Denn damit ist dem Theologen zugemutet, in die gewiß andere Haut des Lehramts zu schlüpfen und gleichsam eine gedankliche Herztransplantation zu versuchen. Die Aufgabe ist auf der anderen Seite aber auch herausfordernd und lohnend. Denn sie enthält den heilsamen Zwang, zunächst im Sinn einer Hermeneutik der Anerkennung des andern in seinem Anderssein2 auf den anderen, konkret auf das Lehramt zu hören, wie es sich selbst versteht und nicht einfach durch die Brille des Theologen gesehen wird.

Bei diesem sensiblen und vorurteilsfreien Hinhören dürfte an erster Stelle deutlich werden, daß hinter dieser Frage nach dem Selbstverständnis des kirchlichen Lehramts bereits ein Vorurteil steckt, das auch und gerade unter Theologen weit verbreitet ist. Denn sie insinuiert, das Lehramt sei eine einheitliche oder gar monolithische Größe und man könne deshalb genau sagen, wie das Lehramt sich selbst versteht. Dieses Vorurteil entspricht jedoch keineswegs der Realität. Denn das Lehramt gibt es nicht - wie es auch die Theologie nicht gibt.

Verschiedene Subjekte des Lehramts

Diese auf den ersten Blick lapidare Feststellung drängt sich bereits auf, wenn man nach den Subjekten der lehramtlichen Verantwortung fragt: Wer ist das Lehramt und wer repräsentiert es? Gemäß der Kirchenkonstitution "Lumen gentium" des Zweiten Vatikanischen Konzils kommt das "authentische Lehramt" zwar in besonderer Weise dem "Bischof von Rom" zu, aber auch den anderen einzelnen Bischöfen: "Die einzelnen Bischöfe besitzen zwar nicht den Vorzug der Unfehlbarkeit; wenn sie aber, in der Welt räumlich getrennt, jedoch in Wahrung des Gemeinschaftsbandes untereinander und mit dem Nachfolger Petri, authentisch in Glaubens- und Sittensachen lehren und eine bestimmte Lehre übereinstimmend als endgültig verpflichtend vortragen, so verkündigen sie auf unfehlbare Weise die Lehre Christi." Deshalb sind die Bischöfe "Glaubensboten, die Christus neue Jünger zuführen; sie sind authentische, das heißt mit der Autorität Christi ausgerüstete Lehrer" (LG 25).

Wenn die Subjekte des Lehramts derart zahlreich und vielfältig sind, verbietet sich von vornherein der Verdacht, das Lehramt selbst verstehe sich einheitlich oder gar einfältig. Dies gilt bereits vom "authentischen Lehramt" des Bischofs von Rom. Vergleicht man beispielsweise die Ausübung der lehramtlichen Verantwortung bei Papst Johannes XXIII. mit derjenigen bei Papst Johannes Paul II., dann werden nicht nur Parallelen, sondern vor allem auch Unterschiede deutlich: Papst Johannes XXIII. vertrat ein ausgesprochen pastorales Lehramtsverständnis. Er betrachtete die Kirche vor allem als "Mater et magistra", genauerhin als eine barmherzige Mutter, die die Menschen auf ihrem oft genug beschwerlichen Weg pastoral begleitet. Deshalb konnte er auch mit dem ihm eigenen päpstlichen Schalk betonen, er wisse zwar, daß er die Gabe der Unfehlbarkeit habe, man brauche jedoch keine Angst davor zu haben, daß er sie ausüben werde. Demgegenüber vertritt die heutige Kirchenleitung wiederum eher ein juridisches Lehramtsverständnis. Sie präsentiert sich wieder vermehrt als strenge Gesetzgeberin, die zudem entweder direkt oder auf dem indirekten Weg von problematischen Personalentscheidungen die Ortskirchen lehramtlich zu disziplinieren versucht. Es ist deshalb kein Zufall, daß unter dem gegenwärtigen Pontifikat wiederum ein maximalistisches Unfehlbarkeitsverständnis und eine ebenso maximalistische Unfehlbarkeitspraxis die Oberhand gewonnen haben bis dahin, daß nichtunfehlbare Aussagen wie beispielsweise die Enzyklika "Humanae Vitae" Papst Pauls VI. von 1968 oder die Erklärung "Inter Insigniores" der Kongregation für die Glaubenslehre aus dem Jahr 1976 - zumindest in der Tendenz behandelt werden, als wären sie unfehlbar.

Die Subjektivität der Päpste prägt also das konkrete Verständnis des Lehramts und seine Ausübung. Dies gilt in noch größerem Maß vom Lehramt der Bischöfe. Wie unterschiedlich sich im Weltepiskopat das Verständnis und die Praxis des Lehramts präsentieren, wird vor allem deutlich an der heute inflationär gewordenen Rede von der "Neuevangelisierung Europas", die ja viel mit der lehramtlichen Verkündigung des Glaubens zu tun hat3. Diese inflationäre Rede hat nämlich das Fatale an sich, daß sie heute in aller Munde ist. Eben deshalb kommt es entscheidend darauf an zu sehen, was damit jeweils konkret gemeint ist. Hört man genauer hin, muß man eine große Vielfalt bei der inhaltlichen Füllung dieses Programmworts registrieren: Während die sogenannten "neuen Bischöfe", unter denen im Kirchenchinesisch der Gegenwart jene problematischen Bischofsernennungen verstanden werden, mit denen ein "neuer Kirchenkurs" zu verwirklichen versucht wird, mit der "Neuevangelisierung" die monologische Strategie der Rekatholisierung der europäischen Welt auf dem Weg der Rehierarchisierung der römisch-katholischen Kirche konzipieren und deshalb betonen, sie allein hätten die Fülle der Wahrheit, intendiert beispielsweise Kardinal Carlo M. Martini, Bischof von Mailand und bis vor kurzem Vorsitzender der europäischen Bischofskonferenzen, mit demselben Wort "Neuevangelisierung" einen "vertrauensvollen wie kritischen Dialog" mit der Welt und damit einen ausgesprochen dialogischen Prozeß: "Evangelisierung bedeutet dann zugleich, von der Welt zu lernen und sie zu lehren."4

Unterschiedliche Modelle in der lehramtlichen Praxis

An dieser ungeheuren Spannweite, die selbst unter heutigen Bischöfen anzutreffen ist, wird deutlich, daß man dem Lehramt nur dann gerecht wird, wenn man es nicht subjektlos betrachtet, sondern wenn man es von seinen Trägern her in den Blick nimmt. Sobald man sich auf diese unterschiedlichen Subjekte einläßt, wird vollends deutlich, daß auch und gerade im gegenwärtigen Lehramt zwei äußerst verschiedene Konzeptionen des Lehramts vertreten werden und durchgesetzt zu werden versuchen. Mit dem Regensburger Dogmatiker Wolfgang Beinert kann man von einem Delegationsmodell und einem Interaktionsmodell reden5:

1. Delegation: Einwegkommunikation von oben nach unten. Im Modell der Delegation geht erstens alle Autorität von oben, vom kirchlichen Amt aus, das allein lehrt. An die Theologie hingegen wird die Aufgabe "delegiert", weiterzugeben und zu erklären, was das Lehramt als authentisches Glaubensverständnis verlautbart hat. Der Theologe ist Lautsprecher des Lehramts und die Theologie Exegese lehramtlicher Verlautbarungen. Und die Gläubigen schließlich haben zuzuhören und gläubig anzunehmen, was ihnen lehramtlich gesagt worden ist. Der "Sensus fidelium" ist bloß das Echo des lehramtlichen Rufs.

Das Delegationsmodell ist deshalb zweitens in seinem harten Kern monologisch, und zwar so sehr, daß kaum mehr in genügendem Maß zwischen Wahrheitsfindung, bei deren Prozeß niemand in der Kirche ausgeschlossen werden darf und die Unterscheidung zwischen lehrender und hörender Kirche fehl am Platz ist, und Wahrheitsentscheidung, die vor allem in die Kompetenz des Lehramts fällt, unterschieden wird6. Denn in diesem Modell wird nicht debattiert und diskutiert, sondern doziert. Entscheidend ist dabei die Autorität der lehramtlichen Institution, die die Wahrheit der katholischen Lehre zur Geltung bringt.

Hinter dem Delegationsmodell steht drittens eine streng hierarchologische Konzeption der Kirche, gleichsam die Verwechslung von Ekklesiologie und Hierarchologie, dergemäß alle Lebensströme vom päpstlichen Haupt ausgehen, das die Bischöfe vitalisiert, die ihrerseits die Gläubigen befruchten.

Das Delegationsmodell ist schließlich der deutlichste Ausfluß jenes neuzeitlichen Sicherheitsdenkens, das seinen Höhepunkt im 19. Jahrhundert gefeiert hat, das folgerichtig in die Papstdogmen des Ersten Vatikanischen Konzils eingemündet ist und das der Dogmengeschichtler Ulrich Horst treffsicher analysiert hat7.

2. Interaktion: Wechselseitige Kommunikation. Demgegenüber sind im Modell der Interaktion erstens alle beteiligten Personengruppen wechselseitig aufeinander bezogen: Das Lehramt ist hörend und lehrend zugleich. Dasselbe gilt von der wissenschaftlichen Theologie wie von den Gläubigen, deren "Sensus fidei" Impulse sowohl für das Lehramt wie für die Theologie zu geben vermag.

Im Interaktionsmodell ist zweitens Platz für Erörterung und Diskussion. Die Wahrheitsfindung vollzieht sich dialogisch. Der lehramtlichen Autorität kommt zwar ein wichtiger, aber nicht der alles entscheidende Part zu. Entscheidend ist nämlich nicht die Autorität der Autorität, sondern die Autorität der Wahrheit, die im Dialog gesucht und gefunden wird. Zu denken ist dabei an die Erfahrungen der amerikanischen und österreichischen Bischöfe, die im Prozeß der Vorbereitung von Hirtenbriefen nicht nur die Kompetenz der Glaubenden angerufen, sondern sie auch in die Schlußfassung der Dokumente einbezogen haben.

Auch hinter diesem Modell steht drittens ein klares Kirchenverständnis, nämlich das ekklesiologische Modell der Communio, demgemäß die Kirche verstanden und gelebt wird als eine Gemeinschaft von - aufgrund der Taufe - grundsätzlich Gleichen, die allerdings - aufgrund der Ordination - unterschiedliche Aufgaben und Funktionen innehaben.

Hinter diesem Modell steht viertens nicht das neuzeitliche Sicherheitsdenken, sondern das gläubige Vertrauen auf die Gewißheit des Glaubens, die sich selbst durchsetzen und bewähren wird, im klaren Bewußtsein davon, daß allein solche Vertrauensgewißheit jener Menschheitsgeneration gerecht zu werden vermag, die seit zweihundert Jahren durch die Impulse der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte tiefgreifende demokratische Aufbrüche erlebt hat.

Rückkehr zum traditionellen Delegationsmodell?

Selbstverständlich kann es sich bei der knappen Skizzierung dieser beiden Modelle nur um Abstraktionen handeln. Und ebenso selbstverständlich soll damit auch nicht behauptet werden, daß sie in Reinform anzutreffen wären. Vielmehr sind in der konkreten Praxis vielseitige Überlappungen zwischen beiden Modellen festzustellen. Gerade deshalb aber liegen beide Modelle in der heutigen Praxis des Lehramts miteinander im Streit; und erst wenn man diesen Streit wahrnimmt, vermag man der Frage gerecht zu werden, wie das Lehramt sich selbst versteht.

Die Wahrnehmung dieses Streits, der sich letztlich als ein Streit zwischen zwei Kirchenbildern herausstellt8, ist dabei deshalb von besonderer Bedeutung, weil man nicht um das Urteil herumkommt, daß das alte Modell der Delegation nicht nur das traditionellerweise kirchlich vertraute und kirchenlehramtlich anempfohlene ist, sondern auch jenes Modell, das heute von maßgeblichen Repräsentanten des Lehramts wiederum durchzusetzen versucht wird. Jedenfalls kann man der Instruktion der Glaubenskongregation "Über die kirchliche Berufung des Theologen" aus dem Jahr 1990 eine Schlagseite hin zum Delegationsmodell gewiß nicht absprechen, auch wenn sie Elemente des Interaktionsmodells enthält9. Dies soll abschließend noch kurz im Blick auf die drei entscheidenden theologischen Probleme dieser Instruktion dargelegt werden.

1. Ursprungstreue des Lehramts und Zeitgemäßheit der Theologie? Die Instruktion geht erstens davon aus, daß das kirchliche Lehramt und die Theologie dasselbe Ziel haben, nämlich das Volk Gottes in der freimachenden Wahrheit des Glaubens zu bewahren. Deshalb erweist sich eine gesunde Zusammenarbeit zwischen beiden als unabdingbar. Trotzdem bringt die Instruktion vor allem die eigenständige Aufgabe der Theologie in der Kirche zur Geltung und profiliert sie die unterschiedlichen Gaben und Aufgaben: Der Theologie wird die Aufgabe zugewiesen, ein immer tieferes Verständnis des Wortes Gottes zu ermöglichen. Zugleich wird ihr wissenschaftlicher Charakter dahingehend ernst genommen, daß ihr konzediert wird, sowohl die historischen als auch die Humanwissenschaften in ihren Dienst zu nehmen, "um die geoffenbarte Wahrheit über den Menschen und die moralischen Normen seines Tuns durch Einbringen der gültigen Ergebnisse dieser Wissenschaften zu erfassen" (10). Dabei ist der Theologe ferner verpflichtet, in seiner eigenen Kultur Elemente ausfindig zu machen, die geeignet sind, wesentliche Aspekte der Glaubensgeheimnisse zu erhellen. Im Unterschied zur Theologie wird die Aufgabe des kirchlichen Lehramts darin gesehen, das Evangelium zu bewahren, darzulegen, zu verbreiten und das Volk Gottes vor Abweichungen und Verirrungen zu schützen. Da das Lehramt in den Fragen des Glaubens und der Sitten mit dem Charisma der Unfehlbarkeit ausgestattet ist, erweist es sich als die "einzige authentische Instanz für die Auslegung des geschriebenen oder überlieferten Wortes" (13).

Bei dieser auf den ersten Blick schiedlich-friedlichen Trennung zwischen Theologie und Lehramt stellt sich aber doch die ernste Frage, ob eine solche Arbeitsteilung dem kirchlichen Leben überhaupt adäquat und in der konkreten Praxis durchführbar ist. Zwar ist an dieser Arbeitsteilung durchaus richtig, daß das Lehramt in der Tat vornehmlich für die apostolische Ursprungstreue des Glaubens verantwortlich und die Theologie speziell für die zeitgemäße Interpretation des Glaubens zuständig ist. Trotzdem bleibt die Frage, ob man diese beiden Pole derart auseinanderdividieren darf.

Daß dies gar nicht möglich ist, zeigt bereits die ökumenische Diskussion der Gegenwart über das spannungsvolle Verhältnis zwischen Offenbarung, Schrift und Tradition. Es ist nämlich deutlich geworden, daß sich bereits die biblische Offenbarung in einem Überlieferungsprozeß ereignet hat und daß deshalb schon im Prozeß der Offenbarung Tradition und Interpretation "eine nicht auflösbare Einheit" bildeten10. Wie sollte es sich dann aber im kirchlichen Überlieferungsprozeß des christlichen Glaubens anders verhalten? Darf sich dann das Lehramt mit der Aufgabe der apostolischen "Besitzstandswahrung" zufriedengeben und die Übersetzung des ursprungstreuen Glaubens in die jeweilige Zeit einfach der Theologie delegieren? Wirkt sich an dieser Stelle nicht noch immer das Delegationsmodell verhängnisvoll aus, das zudem stets ein Subordinationsverhältnis ist? Müßte nicht vielmehr auch das Lehramt in einer gleichsam offensiven Treue zur Tradition den Mut aufbringen, den apostolischen Glauben für den heutigen Menschen zu interpretieren und ihm zumindest Verstehenszugänge zu ermöglichen? Sonst würde auf das Lehramt in globo zutreffen, was Karl Rahner mit Blick auf das Glaubensbekenntnis, das Papst Paul VI. am Ende des "Jahres des Glaubens" 1968 veröffentlichte, mit Recht festgestellt hat: "Es wird viel über Gott, sehr Scharfsinniges und Tiefsinniges gesagt. Aber ein wirklich heutiges Glaubensbekenntnis müßte auch bekennen, wie ein Mensch von heute zum Glauben an diesen Gott wirklich kommen kann. Davon hört man nichts." 11

Die Erfahrung zeigt jedenfalls, daß sich überall dort, wo sich Repräsentanten des kirchlichen Lehramts um die Aufgabe der zeitgemäßen Interpretation des apostolischen Glaubens nicht herumdrücken, viele Spannungen zwischen Theologie und Lehramt von selbst erledigen oder überhaupt nicht aufkommen, weil eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Lehramt und Theologie wegleitend geworden ist.

2. Unterschiedliche Ebenen des Redens und gleiche Verbindlichkeitsgrade? Die Instruktion nimmt zweitens eine sensible Unterscheidung der verschiedenen Ebenen des kirchenlehramtlichen Redens vor. Sie unterscheidet unfehlbare und feierliche Aussagen, "definitive" Aussagen, Lehraussagen, ohne mit ihnen einen definitiven Akt setzen zu wollen, und schließlich nicht irreformable Aussagen. Auf der anderen Seite aber wird diesen doch fast ein gleicher Verbindlichkeitsgrad für den Theologen zugesprochen: Die ersten erfordern "die Zustimmung mit theologalem Glauben", die zweiten müssen "fest angenommen und beibehalten" werden, bei den dritten ist eine "religiöse Zustimmung des Willens und des Verstandes" gefordert, und den letzten muß "loyal zugestimmt" werden.

Es stellt sich aber die besorgte Frage, warum die Ebenen des lehramtlichen Redens überhaupt unterschieden werden, wenn doch die Verbindlichkeit beinahe dieselbe bleibt? Mit einer solchen maximalistischen Ausweitung der Unfehlbarkeit auch auf nichtunfehlbare Aussagen, die zwar nicht de iure, wohl aber de facto erfolgt, droht die konkrete Praxis des Lehramts die eigentliche Intention des Ersten Vatikanischen Konzils zu verraten, das die Unfehlbarkeitspraxis des kirchlichen Lehramts an elementaren Kriterien orientiert und gravierenden Einschränkungen unterworfen hat, und zwar genauerhin in dreifacher Hinsicht: erstens hinsichtlich des Inhalts der Unfehlbarkeit (nur bei endgültigen Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehren), zweitens hinsichtlich des Subjekts der Unfehlbarkeit (nur wenn der Papst als "Hirt und Lehrer aller Christen" spricht) und drittens hinsichtlich des Aktes der Unfehlbarkeit (nur wenn der Papst "ex cathedra" spricht, d. h. ausdrücklich erklärt, "eine Lehre über Glauben oder Sitten sei von der ganzen Kirche festzuhalten")12. Weil aber, wie die kirchengeschichtliche und gegenwärtige Erfahrung zeigt, zwischen der Unfehlbarkeitslehre des Ersten Vatikanischen Konzils und der Unfehlbarkeitspraxis des jeweiligen Trägers der lehramtlichen Verantwortung unterschieden werden muß, ist theologisch dringend zu fordern, daß die Praxis des Lehramts immer wieder an den einschränkenden Kriterien des Ersten Vatikanums kritisch-korrigierend zu überprüfen ist, die durchaus in der Lage sind, die Unfehlbarkeits-(Sehn-)Sucht etwelcher Träger des gegenwärtigen kirchlichen Lehramts theologisch zu bändigen.

3. Schuldzuweisung an die Theologie und Absolution des Lehramtes? Diese in der Instruktion der Glaubenskongregation zu konstatierende maximalistische Ausweitung der Unfehlbarkeit selbst auf Aussagen der Glaubenskongregation (18) und auf "lehramtliche Entscheidungen in Sachen der Disziplin" (17) programmiert aber auch einen unfruchtbaren Umgang mit dem Dissens zwischen Lehramt und Theologie vor. Von daher wird es nicht erstaunen, daß die Instruktion drittens ihr Augenmerk nicht auf die notwendige Zusammenarbeit zwischen Theologie und Lehramt richtet, sondern auf die Spannungen und Konflikte, die dabei auftreten können. Zunächst wird zwar durchaus - freilich zögerlich - selbstkritisch zugestanden, daß auch "Lehrdokumente nicht frei von Mängeln waren" (24); und ebenso wird eingeräumt, daß solche Spannungen das Lehramt anregen können, "die Lehre der Kirche gründlicher und besser begründet vorzulegen" (30). Alle anderen Spannungen aber, die darüber hinausgehen, werden als schwerwiegende "Dissense" bezeichnet und als Gefahr eines "parallelen Lehramts der Theologen" (34) namhaft gemacht. Deren Ursache wird dabei fast ausschließlich auf der Seite der Theologen gefunden.

An dieser Stelle präsentiert sich das Delegationsmodell in seiner schlimmsten Form: In der Gestalt der Delegation des schlechten Gewissens an die Theologie werden alle Dissense auf das Konto der Theologen gebucht und das Lehramt nicht nur geschichtsblind, sondern auch realitätsvergessen entschuldigt. Von Interaktion, die ihren Tatbeweis auch und gerade im Versagen findet, kann bei einer derart globalen Schuldzuweisung an die Theologie im Blick auf die Konflikte im kirchlichen Leben selbstverständlich keine Rede mehr sein.

Mit diesen kritischen Anmerkungen ist, so bleibt zu hoffen, die gestellte Aufgabe, das Selbstverständnis des kirchlichen Lehramts darzustellen, keineswegs verlassen. Denn es gibt in der gegenwärtigen Kirche genügend Repräsentanten des kirchlichen Lehramts, die dieselbe Kritik an der konkreten Praxis vorbringen und sich für das Modell der Interaktion stark machen. In dieser Stoßrichtung äußerte sich beispielsweise der Rottenburger Bischof Walter Kasper kritisch zur gegenwärtigen Handhabung des Nihil-obstat-Verfahrens bei Theologenernennungen: "Die Kirche besitzt mit ihrer Nihil-obstat-Entscheidung völlig zu Recht ein Schwert zur Verteidigung des Glaubens; leider wird daraus manchmal eine kleinlich herumschnipselnde Heckenschere - sehr zum Schaden der Theologie wie der Kirche."13 Als Sprachrohr dieser Repräsentanten des kirchlichen Lehramts darf sich denn auch der Theologe verstehen, um seinen Teil beizutragen für eine gesunde Zusammenarbeit zwischen der Theologie und dem Lehramt. Denn diese erweist sich als unabdingbar, wenn Sinn und Notwendigkeit des kirchlichen Lehramts in der gegenwärtigen Kirche in neuer Weise einleuchten sollen.

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