Subsidiarität in der Kirche

Die außerordentliche Bischofssynode vom Herbst 1985 verlangte weitere Studien zur Klärung der Frage, ob das Subsidiaritätsprinzip auch in der Kirche angewandt werden kann. Oswald von Nell-Breuning macht deutlich, daß dieses Prinzip ein grundlegendes Baugesetz der Kirche selbst ist.

Die Erkenntnis, die das Subsidiaritätsprinzip ausspricht, ist uralte Vernunfteinsicht und Erfahrungsweisheit des Menschengeschlechts; dagegen ist der Name "Subsidiaritätsprinzip" erst allerjüngsten Ursprungs und offenbar nicht glücklich gewählt, da er - mindestens in unserem Sprachbereich - zu einem geradezu unausrottbaren Mißverständnis Anlaß gibt. Dem Eigenschaftswort "subsidiär" legen wir meist die abschätzige Bedeutung von behelfs- oder ersatzmäßig im Sinn von Notbehelf oder Lückenbüßer bei, und so glaubt man, diese Bedeutung auch aus dem Namen "Subsidiaritätsprinzip" herauszuhören. Das genaue Gegenteil trifft zu. Das Prinzip proklamiert die Hilfe der Gemeinschaft für ihre Glieder als "Pflicht" ("subsidiarium officium"!) und fordert näherhin, diese Hilfe solle wirklich echte Hilfe, hilfreiche Hilfe ein, dürfe das Glied nicht bevormunden oder entmündigen, solle ihm vielmehr zur vollen Entfaltung seiner gottgeschenkten Anlagen und Kräfte helfen, und darum solle die Hilfe so viel wie möglich Hilfe zur Selbsthilfe sein. Als Zuständigkeitsregel leitet sich daraus das sogenannte "Recht der kleinen Lebenskreise" ab: Was der engere und daher nähere Lebenskreis seinen Gliedern leisten kann, soll der weitere und höhere Lebenskreis (die "höhere Instanz") ihm nicht entziehen, sondern ihm überlassen und ihm dabei behilflich sein, weil auf diesem Weg dem hilfsbedürftigen Glied mehr Selbstbeteiligung ermöglicht, nicht so viel Fremdhilfe als vielmehr das Höchstmaß an Hilfe zur Selbsthilfe gewährt wird.

Unter seinem neuen Namen findet das Subsidiaritätsprinzip sich in der Sozialenzyklika "Quadragesimo anno" Pius' XI. (15. Mai 1931) als einer der "gewichtigsten ("gravissimum illud") sozialphilosophischen Grundsätze" verkündet; seither wird es, wenn von ihm die Rede ist, meist im Sinn dieser Textstelle verstanden und manchmal sogar als ein "katholisches Prinzip" angesehen, was natürlich widersinnig ist, da Prinzipien weder katholisch noch evangelisch, weder christlich noch unchristlich, sondern entweder richtig oder falsch sind; zudem ist dieses Prinzip keine Offenbarungswahrheit, sondern, wie schon gesagt, reine Vernunfterkenntnis und ist obendrein in bezug auf das staatliche Gemeinwesen schon ein Jahrhundert früher von Abraham Lincoln, Präsident der USA, ausdrücklich formuliert und dem staatsbürgerlichen Bewußtsein der US-Amerikaner eingepflanzt worden. Um so befremdlicher ist, daß dieses als "katholisch" beargwöhnte und verdächtigte Prinzip gerade in der katholischen Kirche um seine Anerkennung ringen muß: Gilt es auch für die Kirche? Läßt es sich auch auf die Kirche anwenden, zutreffendenfalls in welchem Grad und in welcher Weise? Die römische Bischofssynode von 1985 mußte sich eingestehen, daß es darüber an der wünschenswerten Klarheit fehle, und empfahl klärendes Studium; dieser Empfehlung soll hier nachgekommen werden.

Erkenntniswege

An dieses Studium kann man auf zwei verschiedenen Wegen herangehen, mehr theologisch oder mehr empirisch. Theologisch wäre auszugehen von den vorliegenden Verlautbarungen des kirchlichen Lehramts und, soweit vorhanden, auch von anderen grundsätzlichen Aussagen kirchlicher, insbesondere römischer Dienststellen. Empirisch wäre auszugehen von der Kirche, wie sie als Erfahrungstatsache vor jedermanns Augen steht und insoweit auch der Ungläubige das Prinzip in ihrem tatsächlichen Verhalten entweder gewahrt und damit bestätigt oder ihm zuwidergehandelt und es dadurch zwar nicht widerlegt, aber in seiner Glaubwürdigkeit erschüttert beobachten kann.

In voller Methodenstrenge lassen diese beiden Forschungsweisen sich allerdings nicht trennen, weil die Kirche keine bloße geschichtliche Tatsache, sondern göttliche Stiftung ist, die als solche sich in sozialwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Kategorien nicht adäquat erfassen läßt. Die Kirche ist zwar ein echtes Sozialgebilde und versteht sich auch selbst als ein solches, und darum gilt alles, was von Sozialgebilden als solchen gilt, begriffsnotwendig auch von ihr. Aber sie ist nicht schlechthin ein Sozialgebilde unter vielen anderen; sie ist zugleich mehr als ein bloßes Sozialgebilde und ist sich auch dieses Unterschieds oder Überschusses deutlich bewußt, versteht sich selbst im Sinn dieses "Mehr". Das führt dazu oder kann jedenfalls dazu führen, daß das, was von Sozialgebilden als solchen gilt, von der Kirche als Sozialgebilde in besonderer, nur ihr eigentümlichen Weise gilt. Infolgedessen können wir zwar mit voller Bestimmtheit sagen: Was von den Sozialgebilden als solchen gilt, das gilt begriffsnotwendig auch von der Kirche, müssen aber offenhalten:

1. Weil die Kirche ein Sozialgebilde ganz eigener Art ist, steht zum mindesten zu erwarten, daß das, was sich aus dem abstrakten Prinzip an konkreten Anwendungen ergibt, sich bei der Kirche in spezifischer Weise auswirkt.

2. Weil die Kirche sich nicht darin erschöpft, ein Sozialgebilde zu sein, sondern zugleich wesentlich mehr als ein Sozialgebilde ist, gilt es, sorgfältig den Unterschied zwischen Kirche als Sozialgebilde ("Ecclesia ut societas") und Kirche, insoweit sie mehr ist als bloßes Sozialgebilde ("Ecclesia ut mysterium") zu beachten und den Fehler zu vermeiden, das, was für die "Ecclesia ut societas" gilt, unbesehen auf die "Ecclesia ut mysterium" zu erstrecken oder zu übertragen. Ex definitione hat das Subsidiaritätsprinzip es ausschließlich mit der "Ecclesia ut sociates" zu tun, was allerdings nicht ausschließt, daß "Implikationen oder analoge Aspekte"1 davon auch auf die "Ecclesia ut mysterium" zutreffen können; auf diese sehr interessante Frage ist hier, weil nicht zum Thema gehörig, nicht einzugehen.

Papst Pius XII. am 20. Februar 1946

Der klassische lehramtliche Text über das Subsidiaritätsprinzip und seine Geltung für die Kirche findet sich in der Ansprache, die Pius XII. aus Anlaß der Internationalisierung des Kardinalskollegiums am 20. Februar 1946 an die neu ernannten Kardinale gehalten hat2. Bemerkenswert ist bereits die Art und Weise, wie er auf das Thema zu sprechen kommt und das von seinem Vorgänger Pius XI. in "Quadragesimo anno" verkündete Prinzip in sein Thema "Internationalität der Kirche" einbaut. Als Ausgangspunkt wählt er, was der Apostel Paulus in seinem Brief an die Kirchengemeinde von Ephesus über deren Struktur aussagt; sie solle so beschaffen sein, daß sie allen ihren Gliedern hilft, vollkommene Menschen zu werden und Christus in seiner vollen Gestalt darzustellen; überhaupt sollten die Christen keine "unmündigen Kinder" mehr sein (Eph 4,14). "Aus diesem Gedanken" (!) habe sein Vorgänger das Subsidiaritätsprinzip abgeleitet, worauf er die einschlägige Textstelle aus "Quadragesimo anno" anführt.

Zunächst das wörtliche Zitat: "Was der Einzelmensch aus eigenem Antrieb und aus eigenen Kräften leisten kann, darf ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden" ("nefas est ... eripere et communitati demandare"). Dann fährt er fort, derselbe Grundsatz gelte von den kleineren und untergeordneten Gruppen im Verhältnis zu den größeren und höherstehenden, worauf er das wörtliche Zitat fortsetzt: "Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" ("socialis quaevis opera vi naturaque sua subsidium afferre membris corporis socialis debe(a)t, numquam vero eadem destruere et absorbere"3). Dann spricht er sein eigenes Urteil aus: "Wahrhaft lichtvolle Worte! Sie gelten für alle Stufen des gesellschaftlichen Lebens. Sie gelten auch für das Leben der Kirche, unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur." 4

Gewiß will Pius XII. damit nicht behaupten, sein Vorgänger habe den Gedanken bei Paulus entlehnt. Er selbst aber führt ihn eindeutig auf die von Paulus beschriebene oder geforderte Struktur der christlichen Gemeinde zurück. Wenn er ihn hier mit seinen eigenen Worten zunächst als für "alle Stufen der menschlichen Gesellschaft" und dann noch einmal eigens als auch für die Kirche geltend bezeichnet, dann haben wir es hier nicht mit einer beiläufigen Bemerkung, einem "obiter dictum" zu tun, sondern mit einer vom obersten Lehrer der Kirche "data opera" verkündeten Lehre, und es schließt sich in dieser lehramtlichen Äußerung der Ring von der örtlichen Kirchengemeinde zur Weltkirche.

In einem kanonistischen Standardwerk heißt es, schon frühere Päpste hätten "schüchterne Versuche" gemacht, das Subsidiaritätsprinzip auf die Kirche anzuwenden; Belege werden nicht angegeben. Auch mir sind keine Belege bekannt. Wie dem auch sei, Pius XII. verrät hier weder Schüchternheit noch Zurückhaltung; seine Aussage ist kategorisch, es wäre denn, der Zusatz am Schluß, "unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur" wäre als Einschränkung oder, wie die Gegner wollen, als verkappte Zurücknahme zu verstehen; darauf muß hier näher eingegangen werden.

"Unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur"

In der Tat klammern die Gegner sich an diesen Zusatz; er mache die theoretischabstrakte Aussage praktisch-konkret wieder rückgängig, entleere sie des konkreten Inhalts und hebe sie damit praktisch wieder auf. So leichtfertig sollte man mit einer solchen unverkennbar sorgfältig durchdachten und ebenso sorgfältig formulierten päpstlichen Aussage nicht umgehen. Zwar muß ich gestehen, daß auch ich von diesem Zusatz beim ersten Lesen betroffen war und den Text lieber ohne diesen Zusatz gesehen hätte. Dann aber ist mir die Erkenntnis aufgegangen, daß gerade dieser Zusatz dazu beiträgt, der päpstlichen Aussage ihr volles Gewicht zu verleihen. Er schneidet den Einwand ab, das Subsidiaritätsprinzip gelte nur für Sozialgebilde demokratischer Struktur, dagegen schlössen Subsidiaritätsprinzip und hierarchische Struktur einander aus. Im Gegensatz zu diesem Einwand stellt der Papst durch diesen Zusatz eigens fest, daß Subsidiarität und hierarchische Struktur sich miteinander vertragen. (Auf das Verhältnis von Subsidiarität und hierarchischer Struktur soll an späterer Stelle zurückgekommen werden.)

Soweit ersichtlich ist diese Aussage Pius' XII. die einzige höchstlehramtliche Verlautbarung über die Geltung des Subsidiaritätsprinzips für die Kirche. Während in späteren Sozialenzykliken, in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils "Gaudium et Spes" und in anderen lehramtlichen Kundgebungen das Subsidiaritätsprinzip immer wieder eingeschärft wird, sind keine späteren lehramtlichen Texte bekannt, die es auf die Kirche anwendbar erklären oder auf seine Anwendung dringen. So kann es nicht wundernehmen, daß das Bewußtsein davon selbst in kirchlichen Kreisen sich noch keineswegs allgemein durchgesetzt hat, geschweige denn, daß die Subsidiarität in der Kirche als schlechthin selbstverständlich außer Diskussion stünde.

"Leitsätze" für das neue kirchliche Rechtsbuch

So war denn auch für die Kommission, die das Ende 1983 in Kraft getretene neue kirchliche Gesetzbuch auszuarbeiten hatte, die Geltung und Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips auf die Kirche noch nicht ganz unproblematisch. Für ihre Arbeit lagen ihr die von der (ersten) außerordentlichen Bischofssynode 1967 gutgeheißenen "Leitsätze für die Überarbeitung des Codex Iuris Canonici" vor5, in denen unter Ziffer 4 eine Reihe von Gegenständen aufgezählt wird, von denen es in Ziffer 5 heißt, sie zählten unzweifelhaft ("indubitanter") zu Anwendungen des Subsidiaritätsprinzips, seien aber von seiner erschöpfenden Anwendung weit entfernt ("longe distant"). In ihrem zu diesen Leitsätzen erstatteten "Bericht"6 geht die Kommission an dieses Thema mit einer Zurückhaltung heran, die sich in bezeichnender Weise von ihrer Stellungnahme zu allen anderen Leitsätzen unterscheidet.

Die Kommission sieht das Problem folgendermaßen. Die hierarchische Struktur der Kirche, insbesondere die Institutionen göttlichen Rechts, der Primat und der Episkopat, verlangen gebieterisch, die Einheit und die Verschiedenheit der kirchlichen Organe wie auch deren im Konzil betonte Vielfalt ("pluralitas") in geeigneter Weise miteinander zu verbinden und zu erhalten ("inter se componantur et serventur"). Dafür werde dem Subsidiaritätsprinzip große Bedeutung zugeschrieben ("multum valere dicitur"). Pius XI. habe ihm nachgerühmt, je vollkommener es beobachtet werde, um so kraftvoller stehe die obrigkeitliche Autorität da und in um so besserem Zustand befinde sich das (staatliche) Gemeinwesen. Nach Pius XII. gelte es für das gesamte gesellschaftliche Leben auf allen seinen Stufen, auch für das Leben der Kirche, unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur ("etiam pro vita Ecclesiae, sine praevaricatione suae hierarchicae structurae"). Jetzt, so teilt die Kommission mit, lägen Vorschläge vor, dieses Prinzip tiefergreifend auf die kirchliche Gesetzgebung anzuwenden ("profundiora proponuntur"); dazu will sie umfassendere und mehr ins einzelne gehende Untersuchungen ("uberiora et concretiora studia") anstellen, wie sich das Subsidiaritätsprinzip unter Wahrung der übrigen Leitsätze berücksichtigen lasse.

Wie es gar nicht anders sein kann, geht diese Argumentation von dem Subsidiaritätsprinzip aus, wie es von Pius XI. in "Quadragesimo anno" verkündet ist. Vergleicht man aber den Text von QA oder auch nur die vorstehend wiedergegebenen, von Pius XII. in bezug genommenen Textstellen, dann fällt auf, daß nur deren zweite, die Stufenordnung der Sozialgebilde betreffende Textstelle angeführt wird, während die erste, den Kerngehalt des Prinzips enthaltende Textstelle, nämlich seine Aussage über das Wesensverhältnis von Einzelmensch und Gesellschaft, fehlt. Eben damit aber entfällt die Grundlage dafür, daß Pius XI. ihm den Rang eines der gewichtigsten Sozialprinzipien ("gravissimum illud principium") zuerkennt, "an dem nicht zu rütteln und zu deuteln ist", und so kann man den Eindruck gewinnen, die Kommission werte es eher als eine Zweckmäßigkeitsregel ("multum valere"!), der man sich nicht als einem Gebot der Seinsordnung ("vi naturaque sua") zu unterwerfen hat, sondern die man sich aus Klugheitsgründen zunutze macht. Durch den Klammerzusatz "staatlich" ("res publica") wird es obendrein auf das staatliche Gemeinwesen eingeschränkt, während Pius XI. es als allgemeingültiges Prinzip verkündet, allerdings seinen besonderen Nutzen für den Staat als das nach den damaligen Vorstellungen höchste und umfassendste weltliche Gemeinwesen hervorhebt.

Versteht man das Subsidiaritätsprinzip so, wie es hier beschrieben wird, dann ist auch seine von Pius XII. anerkannte Geltung für den kirchlichen Bereich keine aus der Natur der Sache sich ergebende, auch im kirchlichen Gesetzbuch rückhaltlos und unverbrüchlich anzuwendende Norm, sondern stellt es dem klugen Ermessen des kirchlichen Gesetzgebers anheim, inwieweit er es sich zunutze machen will. Aufgrund dieses Verständnisses des Prinzips kündigt die Kommission an, sie wolle zusehen, inwieweit die übrigen Leitsätze es gestatten, den Zweckmäßigkeitsrücksichten, die im Subsidiaritätsprinzip ihren Ausdruck finden, Rechnung zu tragen. Zu welchen Ergebnissen diese ihre Bemühungen geführt haben und in welchem Ausmaß sie sich im neuen kirchlichen Rechtsbuch niedergeschlagen haben, ist hier nicht zu untersuchen.

Die Bischofssynode 1985 fragt

Was das letztere angeht, sind nun aber auf der außerordentlichen Bischofssynode 1985 in Rom gewisse Mängel beanstandet worden und hat offenbar selbst über die grundsätzliche Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips auf die Kirche keine volle Übereinstimmung bestanden. So empfiehlt deren Schlußbericht vom 7. Dezember 1985, "Untersuchung(en) anzustellen, die sich damit befassen, ob das in der menschlichen Gesellschaft geltende Subsidiaritätsprinzip in der Kirche angewandt werden könne und in welchem Grad und in welchem Sinn diese Anwendung stattfinden könne oder müsse"7, wobei auf Pius XII. verwiesen wird.

An erster Stelle soll also die Grundsatzfrage geklärt werden, ob das Subsidiaritätsprinzip überhaupt auf die Kirche anwendbar sei; erst an zweiter Stelle, offenbar unter der Voraussetzung, daß die Antwort auf diese grundsätzliche Frage bejahend ausfällt, die Frage nach dem "Wie", unterteilt in die beiden Teilfragen: 1. nach dem Ausmaß und der Art und Weise, und 2. nach der Möglichkeit oder der Verbindlichkeit, wobei diese beiden letzten Glieder nicht durch das ausschließende "aut", sondern durch das vermittelnde, ja sogar Gleichsetzung gestattende "vel" miteinander verbunden sind, worin zum Ausdruck gebracht sein könnte, die Möglichkeit schließe auch schon die Verbindlichkeit in sich, sie zu verwirklichen.

Eine kleine Minderheit hat gegen diese Empfehlung gestimmt. In diesen Neinstimmen können zwei einander stracks widersprechende Meinungen ihren Ausdruck gefunden haben. Einmal die Meinung, die Untersuchung sei überflüssig, weil die bejahende Antwort auf die Grundsatzfrage sich von selbst verstehe, die praktische Durchführbarkeit aber durch die kanonistische Wissenschaft bei ihrer Befassung mit dem neuen kirchlichen Rechtsbuch ausreichend geklärt werde. Ebensogut oder vielleicht noch besser könnten die Neinstimmen die Meinung einiger Synodalen zum Ausdruck gebracht haben, die auch heute noch die Anwendung oder die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips auf die Kirche grundsätzlich ablehnen und verwerfen. Aber auch unter der Menge der Jastimmen können sich solche befinden, die sich von der Untersuchung ein Ergebnis versprechen, das seine Anwendung auf die Kirche zwar nicht völlig ausschließen, aber doch äußerstenfalls nur in dem Ausmaß zulassen werde, wie ihm im neuen kirchlichen Rechtsbuch bereits Rechnung getragen sei.

So läßt bedauerlicherweise weder diese Empfehlung selbst noch das Zahlenverhältnis der dazu abgegebenen Ja- und Neinstimmen einen Erkenntnisfortschritt bezüglich der Subsidiarität in der Kirche erkennen seit der Zeit, als die mit den Vorarbeiten am neuen kirchlichen Gesetzbuch betraute Kommission ihre Leitsätze erarbeitete und verkündete.

Beiträge verschiedener Disziplinen zur Antwort

Da es sich namentlich bei der Grundsatzfrage um nicht weniger als um das rechte Verständnis der Kirche als göttliche Stiftung, näherhin insbesondere um die beiden Institutionen göttlichen Rechts in der Kirche, nämlich Primat und Episkopat, handelt, kann die von der Bischofssynode gewünschte wissenschaftliche Untersuchung nur von der Theologie, näherhin der dogmatischen Theologie geleistet werden; keine weltliche Wissenschaft ist dafür zuständig oder kann sich auch nur einmischen. Nichtsdestoweniger können einige weltliche Disziplinen der Theologie doch vielleicht gewisse hilfreiche Dienste dazu leisten, so namentlich ihr helfen, das nicht in der Theologie, sondern in der Sozialphilosophie beheimatete "naturrechtliche" Prinzip richtig zu verstehen und die zahlreichen Fälle seiner konkreten Anwendung in der Kirche überhaupt und vor allem im neuen kirchlichen Rechtsbuch als solche zu erkennen und zu würdigen.

So kann beispielsweise der Sozialwissenschaftler ihr bestätigen, daß die dem Konzil nachgerühmte "Wiederentdeckung" der Teilkirchen und die im neuen kirchlichen Rechtsbuch daraus gezogenen Konsequenzen für ihn einen geradezu epochemachenden Fortschritt im Sinn des Subsidiaritätsprinzips bedeuten.

Und der Jurist wird mit Befriedigung feststellen, daß die Pfarrei, die im Codex Iuris Canonici von 1917 nur als räumlicher Teil des Bistums mit der dort ansässigen Bevölkerung und als bloßer Gegenstand der Betreuung durch den vom Bischof entsandten Pfarrer erscheint (c. 216), im neuen kirchlichen Rechtsbuch als echte Gemeinschaft der Gläubigen in der Kirche ("certa communio christifidelium in Ecclesia") anerkannt und mit eigener kirchlicher Rechtspersönlichkeit ausgestattet ist (c. 515). Damit ist sie in aller Form Rechtens von der Stufe eines bloßen Objekts kirchlicher Betreuung zur Stufe eines echten Subjekts kirchlichen Lebens erhoben und zählt damit im Sinn der von Pius XII. zitierten Textstelle aus "Quadragesimo anno" zu den kleineren und untergeordneten Lebenskreisen, denen nichts von dem entzogen und auf weitere und übergeordnete Gemeinschaften überführt werden darf, was sich an kirchlichem Leben in ihnen selbst abspielen und entfalten kann.

Erfahrungen aus der Grundwertediskussion

Auch zur rechten Interpretation des von Pius XII. beigefügten Zusatzes "unbeschadet" kann die Rechtswissenschaft Erfahrungen beisteuern, die sie bei der Auslegung der sogenannten "Grundrechte" gemacht hat und zu machen fortfährt. Bei rein positiven Gesetzen kann der Gesetzgeber anordnen, in welchem Vorrang oder Nachrang die verschiedenen Vorschriften zueinander stehen, welche Vorschriften anderen weichen und welche "unberührt" bleiben. Wo es sich dagegen um echte, vom Gesetz- oder Verfassungsgeber nicht zu schaffende, nur anzuerkennende und durch Grundrechte zu schützende Grundwerte oder sittlich-rechtliche Grundnormen handelt, sind die wechselseitigen Beziehungen und die daraus sich ergebenden Begrenzungen ihrer Ausübung oder Verwirklichung aus der Natur der Sache selbst zu ermitteln. Echte Widersprüche und daraus entspringende Grenzkonflikte kann es nicht geben.

Aus dem rechten Gottesverständnis läßt sich das so begründen. Alle Werte, die wir mit unserem geschöpflichen Erkenntnisvermögen zu erkennen und mit Worten unserer menschlichen Sprache zu benennen imstande sind, haben ihren letzten Grund in der einen und unteilbaren Vollkommenheit Gottes und lassen diese nur in einer Vielzahl spezifischer Varianten aufleuchten. Aber weil sie alle dieser einen Quelle entstammen, kann zwischen ihnen kein echter Widerspruch bestehen, sondern nur Widersprüche in unserer niemals komprehensiven oder adäquaten, sondern immer nur abstraktiven Erkenntnis und in der Unzulänglichkeit menschlicher Begriffssprache, die niemals imstande ist, alles Mitgedachte in Worte zu fassen und auszusprechen. Recht verstanden begrenzen alle unsere Werte einander nicht, sondern ergänzen und vervollständigen einander. Selbst Gott müssen wir eine Vielzahl von Vollkommenheiten zuschreiben, die so, wie wir sie benennen, einander begrenzen, in Wirklichkeit aber einander ergänzen und jede nur unter Einbeziehung aller anderen, so beispielsweise Gottes Gerechtigkeit nur unter Einbeziehung seiner Barmherzigkeit, richtig verstanden werden. Und wie Gott, wenn er seine Gerechtigkeit ausübt, zugleich auch seine Barmherzigkeit verwirklicht, so verwirklichen auch wir, wenn wir einen Grundwert oder eine sittlich-rechtliche Grundnorm in der richtigen Weise verwirklichen, zugleich auch alle anderen mit. Und wie die recht verstandene Verwirklichung oder Wahrung eines von ihnen zugleich alle anderen verwirklicht oder wahrt, so verstößt auch die Verletzung eines von ihnen oder die Zuwiderhandlung gegen einen von ihnen zugleich auch gegen alle anderen. Wäre das Subsidiaritätsprinzip, wie es offenbar immer wieder mißverstanden wird, nur eine aus der Erfahrung ("ut in pluribus") abgeleitete Klugheitsregel, dann könnte deren Befolgung in Widerspruch zu anderen Werten oder sittlichen Normen stehen und hätte in diesem Fall bedingungslos zurückzutreten. Ist es dagegen, wie wir es verstehen, ein echtes sozialphilosophisches Prinzip, dann ist sein Aussagegehalt eine metaphysische Wahrheit und ist seine Forderung ein ethischer Grundwert, und ist es demzufolge nicht an anderen Normen zu messen, sondern kann es recht verstanden nur darum gehen, es in den Zusammenhang mit allen anderen grundlegenden Wahrheitserkenntnissen und sozialethischen Grundwerten einzubauen und so sein und deren Verständnis zu vertiefen.

Das ist die Sicht, die ein unser Gottesverständnis teilender Jurist, namentlich ein Verfassungsrechtler, sich bei der Auslegung der Grundrechte und der durch sie geschützten Grundwerte erarbeitet. Gewiß darf und will er sie dem Theologen nicht aufdrängen, glaubt aber, sie ihm unterbreiten zu dürfen in der Erwartung, sie könne auch ihm bei seinen Überlegungen über das Subsidiaritätsprinzip gute Dienste tun.

"Kompetenz-Kompetenz"

Zum Schluß nur noch einige Worte zu dem vermeintlichen Widerspruch, den manche Leute zwischen Subsidiaritätsprinzip und hierarchischer Struktur sehen wollen und den sie in die "Unbeschadet"-Klausel Pius' XII. (vgl. oben) hineintragen.

Gegenstand des Subsidiaritätsprinzips sind die Kompetenzen, die der Gemeinschaft gegenüber ihren Gliedern, zunächst gegenüber den einzelnen, sodann aber auch der umfassenderen Gemeinschaft gegenüber den von ihr umfaßten engeren Gemeinschaften und ganz allgemein den höheren Instanzen gegenüber den ihnen untergeordneten zustehen; das Subsidiaritätsprinzip ist das dem Solidaritätsprinzip zugeordnete Zuständigkeitsprinzip. Unverkennbar ist von allen Kompetenzen die bedeutsamste und gewichtigste die sogenannte "Kompetenz-Kompetenz", die Befugnis oder Machtvollkommenheit, die Zuständigkeiten auf die verschiedenen, vor allem auf die höheren und niederen Instanzen sachgemäß zu verteilen oder auch sich selbst vorzubehalten. Dem Sinn des Subsidiaritätsprinzips gemäß kann dafür nur die oberste, für das Wohl des Ganzen letztverantwortliche Instanz zuständig sein, die davon selbstverständlich nicht nach Willkür, wohl aber nach ihrem eigenen, gewissenhaften pflichtmäßigen Ermessen Gebrauch zu machen hat. Jedes Gemeinwesen bedarf einer solchen obersten Instanz. Je nach der demokratischen oder hierarchischen Struktur des Gemeinwesens wird diese Instanz anders konstituiert und der Inhaber dieser höchsten Machtvollkommenheit ein anderer sein; auf jeden Fall aber sollte sie mit Verfassungsrang geregelt sein und der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung Richtung und Weg weisen. In der Kirche ist diese Machtvollkommenheit der Kompetenz-Kompetenz genau in diesem Sinn durch göttliches Recht, durch die göttlich-rechtliche Institution des Primats institutionalisiert. Im Grund genommen braucht das Subsidiaritätsprinzip gar nicht erst auf die Kirche "angewendet" zu werden; sie ist selbst nach ihm gebaut; es zählt zu ihren grundlegenden Baugesetzen. Gegenstand der anzustellenden Forschung ist nicht seine Anwendbarkeit auf die Kirche, auch nicht das Ausmaß seiner Anwendung, sondern nur die Art und Weise seiner sinnvollen Anwendung.

Ein schlagender Beweis

Daß Pius XII. durch seinen Hinweis auf die hierarchische Struktur der Kirche die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf sie weder ausschließen noch einschränken wollte, dafür zum Schluß noch ein schlagender Beleg. Er findet sich in seiner Ansprache vom 5. Oktober 1957 an den zweiten Weltkongreß des Laienapostolats; die Textstelle lautet: "Auch hier (in bezug auf das Laienapostolat) möge die kirchliche Autorität das allgemeingültige Prinzip der Subsidiarität und gegenseitigen Ergänzung anwenden. Man möge den Laien die Aufgaben anvertrauen, die sie ebensogut oder selbst besser als der Priester erfüllen können. Sie sollen in den Grenzen ihrer Funktion und derjenigen, die das Gemeinwohl der Kirche ihnen zieht, frei handeln und ihre Verantwortung auf sich nehmen können."8

Hatte Pius XII. in der Ansprache vom 20. Februar 1946 an die neuernannten Kardinäle in seiner Eigenschaft als oberster Lehrer der Kirche die Geltung des Subsidiaritätsprinzips für die Kirche "data opera" verkündet, so nimmt er hier in seiner Eigenschaft als oberster Hirt der Kirche sozusagen nur in einem "obiter dictum" darauf Bezug, um die Träger kirchlicher Autorität aufzufordern, in ihrem kirchlichen Amtshandeln dieses "allgemeingültige" (sic!) Prinzip zu befolgen. Gerade diese beiläufige Bezugnahme beweist schlagend, wie selbstverständlich für Pius XII. das Subsidiaritätsprinzip sich nicht nur mit der hierarchischen Struktur der Kirche verträgt, sondern zu dieser Struktur gehört.

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