Franz Jägerstätter, geboren am 20. Mai 1907 in St. Radegund (Oberösterreich), verweigerte den Nationalsozialisten, die in Österreich im März 1938 die Macht übernahmen, von Anfang an jede Zusammenarbeit oder Unterstützung, denn Christentum und Nationalsozialismus waren für ihn völlig unvereinbar1. Im Jahr 1940 wurde er zum Militärdienst einberufen, auf Betreiben der Heimatgemeinde aber zweimal als unabkömmlich gestellt. Einer weiteren Einberufung wollte er ausdrücklich nicht mehr Folge leisten, denn mitzukämpfen und zu töten, daß Hitler die ganze Welt beherrschen könne, sah er als Sünde an.
Glaube und Zivilcourage
Nach der erneuten Einberufung meldete sich Franz Jägerstätter am 1. März 1943 bei seiner Stammkompanie in Enns, erklärte aber sofort, "daß er auf Grund seiner religiösen Einstellung den Wehrdienst mit der Waffe ablehne, ... daß er gegen sein religiöses Gewissen handeln würde, wenn er für den nationalsozialistischen Staat kämpfen würde; ... er könne nicht gleichzeitig Nationalsozialist und Katholik sein; ... es gebe Dinge, wo man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen; auf Grund des Gebotes 'Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst' dürfe er nicht mit der Waffe kämpfen. Er sei jedoch bereit, als Sanitätssoldat Dienst zu leisten" (Aus der Begründung des Reichskriegsgerichtsurteils vom 6. Juli 1943).
Wegen Wehrkraftzersetzung wurde Franz Jägerstätter zum Tod verurteilt und am 9. August 1943 in Brandenburg/Havel enthauptet. Die beiden Seelsorger, Pfarrer Heinrich Kreutzberg in Berlin und Pfarrer Albert Jochmann in Brandenburg, sahen in ihm einen Heiligen und Märtyrer. 1965 verwies Erzbischof Thomas D. Roberts SJ bei der Arbeit an der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" des Zweiten Vatikanischen Konzils in einer schriftlichen Eingabe auf die einsame Gewissensentscheidung Franz Jägerstätters: "Märtyrer wie Jägerstätter sollen nie das Gefühl haben, daß sie allein sind." 1994 wurde das Seligsprechungsverfahren eingeleitet, am 26. Oktober 2007 wird Franz Jägerstätter im Dom von Linz seliggesprochen.
Die Kirche sagt mit einer Seligsprechung, daß ein Mensch bei Gott angekommen und für andere eine Quelle der Freude und Freundschaft, der Hoffnung und der Zuversicht ist. Viele haben zu Franz Jägerstätter Vertrauen gewonnen und sind freundschaftlich mit ihm verbunden. Sie sehen ihn als Vorbild und beten zu ihm.
Zeitungsberichte und Bücher sprechen vom "tiefgläubigen Katholiken", vom "aufrechten Christen", vom "besonderen Freund Gottes", vom "Zeugen des Glaubens", vom "Märtyrer" Franz Jägerstätter. Andere wiederum befürchten bei einer Seligsprechung Jägerstätters die Verherrlichung einer erzkonservativen, aus heutiger Sicht verschrobenen Religiosität. Demokratisch geschulten Menschen könne der von Gottesfurcht und Sündenangst geprägte Mann nicht als Ideal hingestellt werden. Manche zweifeln an der Christlichkeit des Innviertler Bauern und Mesners, weil er seine Familie (Frau und drei minderjährige Töchter) im Stich gelassen habe. Sehr häufig wird vom religiösen Bezug überhaupt abstrahiert. Man sieht im Verhalten Jägerstätters einen wichtigen Beitrag zu Themen wie Gewissen, Obrigkeit, Gehorsam und Gerechtigkeit.
Ein Schlußstrich unter die Vergangenheit?
Die Erinnerung an Franz Jägerstätter ist vermutlich für manche kontraproduktiv: Man konnte ihn nach dem Krieg nicht brauchen bei der pastoralen Aufgabe, ehemalige Nazis wieder in die Kirche zu integrieren, Soldaten in ihren Gewissensnöten oder auch Gewissensbissen zu begleiten, Hinterbliebene zu trösten, denen man ja nicht sagen wollte, daß die Söhne, Ehemänner und Väter nicht für einen sinnvollen oder gerechten Krieg, sondern in einem verbrecherischen Feldzug gestorben sind. Und: Wenn Jägerstätter Recht hatte, wenn er den moralisch sittlichen Standpunkt eingenommen hat, wenn er sich aus der Tiefe des Glaubens heraus entschieden hat, sind dann die anderen im Unrecht, waren sie ungläubig und verblendet, sind sie verführt worden oder einfach der Banalität des Bösen auf den Leim gegangen? Wird durch eine Seligsprechung Jägerstätters der Sinn des Lebens der Kriegsgeneration zerstört, ihre Ehre und Würde verletzt, wird ihre Aufbauleistung zunichte gemacht, ihr Einsatz zu wenig geachtet? Ist ihr Sinn nur dadurch zu retten, daß Hitler ins Recht gesetzt wird, der Krieg zum gerechten Krieg erklärt wird? Fühlt sich eine Generation, die um ihre Jugend bedroht wurde, geringgeschätzt in ihrer Not, nicht wahrgenommen im Schmerz, nicht ernstgenommen in der konkret gelebten und erfahrenen Solidarität? Fühlt da die Kriegsgeneration ihren Unwert? Dürfte sie eigentlich gar nicht mehr leben2? Muß sie sich ständig entschuldigen, daß es sie noch gibt? Oder wird im Angesicht Jägerstätters gespürt, daß die Sicherung von Identität und Anerkennung durch Arbeit und Leistung doch bloß äußerlich und so die Seele, die Tiefen des Ichs ein Niemandsland bleiben, verwüstet und verkarstet? Oder geht es einfach um eine Neuauflage des Redeverbots für die Kriegsgeneration, die sich nichts von der Seele reden konnte, weil wir, die nachfolgende Generation, gleich mit Unverständnis und mit Vorwürfen gekommen sind? Geht es nur um ein Verstehen bzw. Verstandenwerden, um eine befreiende Rede oder auch um die direkte und indirekte Legitimation und Rechtfertigung einer Ideologie?
Nicht wenige wollen endlich einmal einen Schlußstrich ziehen, endlich einmal nicht mehr an diese Zeit erinnert werden, nicht mit den Greueln, dem Schmerz, den Opfern, den Vorwürfen von Schuld, mit der Beschämung konfrontiert werden. Gehört es nicht auch zur Instrumentalisierung der Opfer, wenn auf das Böse mit einer Tribunalisierung bzw. mit moralischer Verurteilung oder mit der Keule der Betroffenheit reagiert wird? Dient Jägerstätter zur Selbstbonifizierung der einen, so daß sie zum schlechten Gewissen der anderen werden, weil diese kein schlechtes Gewissen mehr haben? Flüchten sie damit aus dem "Gewissenhaben ins Gewissensein"3? Oder ist das Fragen und Gedenken ein Ausdruck der "Übertribunalisierung der menschlichen Lebenswelt"4? Jägerstätter hat sehr wohl Unrecht und Barbarei beim Namen genannt, er wollte aber die Menschen selbst nicht verurteilen:
"Wenn ich auch jetzt fest gegen den Nationalsozialismus losgehämmert habe, so ist es uns doch nicht erlaubt, über die Nationalsozialisten zu schimpfen. Weil es gegen das Gebot der Nächstenliebe ist. Wir dürfen verurteilen die nationalsozialistische Idee oder Gesinnung, aber nicht den Menschen selbst, der solche Gesinnung hat, denn es steht nur Gott allein zu, über den Menschen zu richten und ihn zu verurteilen, vor Gott sind wir eben alle Brüder und Schwestern ... Dieses Urteil müßten wir eigentlich gänzlich Gott überlassen, wir haben weder das Recht, sie zu verdammen, noch auch heilig zu sprechen."5
Mut zum Glauben oder: Wie hältst du es mit den Opfern?
Franz Jägerstätter ist tief im Gebet, in der Heiligen Schrift und in der Liebe zur Eucharistie verankert. Die inneren Voraussetzungen für das rechte Beten entnimmt er der Bergpredigt. Wer mit Menschen in Feindschaft lebt, kann nicht mit Gott in Freundschaft sein. Zudem soll jedes Gebet vom "Zuerst" des Reiches Gottes getragen sein und nicht durch die Sorge um irdische Güter überlagert werden. Gebet ist für Jägerstätter die Betrachtung der Liebe Gottes zu uns Menschen in Jesus Christus und der dankbare Mitvollzug dieser Liebe.
Franz Jägerstätter hält es für unvereinbar, Soldat Christi und zu gleicher Zeit Soldat für den Nationalsozialismus zu sein, unvereinbar, für den Sieg Christi und seiner Kirche und zur selben Zeit auch für die nationalsozialistische Idee und für deren Endsieg zu kämpfen6. Er weiß sich vor die Alternative gestellt: Gott oder Götze, Christus oder Führer bzw. Christus oder Satan7. Jägerstätter bezeugt den biblischen Gott gegen die Götzen Hitlers. So wurde er zu einem Dolmetscher Gottes in einer Zeit der gott- und menschenverachtenden Barbarei. Er verleiblicht das "Ich widersage" des Taufbekenntnisses gegenüber den Verlockungen und Verführungen des Bösen, gegen Vergötzungen von Nation und Rasse und hält dafür den Kopf hin. So bezeugt Jägerstätter den personalen Gott als Herrn und Freund des Lebens. Er weiß sich vom Unbedingten in einer Welt des Beliebigen in Anspruch genommen.
Die Kirche sieht Jägerstätter vom Reich Gottes, von der Nachfolge Jesu und vom Bekenntnis zu Jesus her. Im Kontext seiner Überlegungen zum gerechten oder ungerechten Krieg schreibt er: "Sollten wir Christen denn nicht wahre Nachfolger Christi werden?"8 Die Nachfolge Christi wird für ihn zum kritischen Kriterium gegenüber der konkreten Kirche. Er weiß, daß die Kirche eine höchst gemischte Gesellschaft ist, d.h. auch eine Kirche der Sünder:
"Jesus selber hat also gelehrt, daß es in seiner Kirche auf Erden nicht nur gute Christen geben werde. Die große Scheidung kommt am Ende."9
In Franz Jägerstätter bricht so auch die Krisis, das Gericht gegenwärtiger Lebensund Glaubensstile ein. Jesus eignet sich nicht als Kuscheltier: In der Begegnung mit dem seligen Franz Jägerstätter darf und soll durchaus auch ein Erschrecken dabei sein. Eine allzuschnelle Vertrautheit stünde in Gefahr der Vereinnahmung und Neutralisierung, oder auch der Verkitschung und Verhübschung, wie es bei gar nicht so wenigen Heiligen der Fall ist. Für manche hat er auch schon wieder seine Schuldigkeit getan, nachdem er bloß als Lieferant von Stichworten, Parolen oder Schlagworten oder auch als moralische Keule verwendet wurde.
Franz Jägerstätter tut weh mit seiner Klarheit, seinen Fragen und seinen Entscheidungen. Er läßt sich nicht einfach bewundern, ohne zugleich die Frage an die eigene Biographie zu richten: Und was ist mit dir? Deine Sache wird hier abgehandelt, um deine Motive geht es hier, dein Gott steht zur Debatte! Wie hältst du es mit den Opfern? Wie ernsthaft stellt sich die Frage, ob es in deinem Leben etwas gibt, das groß genug ist, um dafür zu sterben? Selige wie er sind nicht nur Therapie - das auch, weil sie ja Versöhnung leben -, sie sind darüber hinaus schmerzliches Gericht, in dem die Wahrheit Gottes und des Menschen aufleuchtet: nicht Gericht im Sinn der Verurteilung zum Tod, auch nicht als reine Anklage von Unglaube und Inhumanität, nicht als Sezieren von Leichen. Die Begegnung mit Franz Jägerstätter soll uns nicht vor der notwendigen Scham bewahren, nicht vor dem Beklagen und der Klage, nicht von der Umkehr, schon gar nicht vor der Nachfolge.
Franz Jägerstätter realisierte die Widerstandskraft des Glaubens gegenüber barbarischen Systemen der Menschenverachtung und der Gottlosigkeit. Er war dabei alles andere als ein notorischer Neinsager, ein Lebensverächter, ein bloßer Kritiker, ein Wirklichkeitsflüchtling. Die Krisis des Glaubens hat bei ihm nichts zu tun mit projektiver Aggressivität oder abstrakter Lust am Widerstand. Er hat die Gabe der "Unterscheidung der Geister". Absolutes und letztes Kriterium für die Unterscheidung der Geister ist bei Jägerstätter der Wille Gottes: "Das Festhalten des Willens des Vaters ist für Jesus die oberste Norm."10 An Jesus liest er den Willen des Vaters ab: "Wenn uns der 'Sinn Christi' abgeht, werden wir nie den Standpunkt wahrhaft religiöser Menschen verstehen."11
Franz Jägerstätter ist ein Prophet mit einem Weitblick und Durchblick, wie ihn damals die wenigsten seiner Zeitgenossen hatten, er ist Vorbild in der Treue zum Gewissensanspruch, Anwalt der Gewaltlosigkeit und des Frieden, Warner vor Ideologien; er ist ein gläubiger Mensch, dem Gott wirklich Mitte und Zentrum des Lebens war. Sein prophetisches Zeugnis für die christliche Wahrheit beruht auf einer klaren, radikalen und weitsichtigen Analyse der Barbarei des menschen- und gottverachtenden Systems des Nationalsozialismus, dessen Rassenwahn, dessen Ideologie des Kriegs und der Staatsvergottung wie dessen erklärten Vernichtungswillen gegenüber Christentum und Kirche. Aus einem gebildeten und reifen Gewissen heraus hat er ein entschiedenes Nein zum Nationalsozialismus gesagt und ist wegen seiner konsequenten Weigerung, in Hitlers Krieg als Soldat zu kämpfen, hingerichtet worden. Jägerstätter hat objektiv Zeugnis für die Wahrheit und für die Gerechtigkeit, insofern sie auf Gott bezogen sind, abgelegt. Ansonsten würde man das nationalsozialistische System und den von ihm ausgelösten Krieg als gerecht und wahr hinstellen12. Jägerstätter war in seiner Diagnose nicht geblendet, sondern klarer und weitsichtiger als viele seiner Zeitgenossen.
Mut zum Gewissen
Franz Jägerstätter blieb seinem Gewissen treu - selbst als ihn alle priesterlichen Begleiter, alle staatlichen und kirchlichen Autoritäten an die gebotene Sorge gegenüber seiner Familie und an seine Pflichten gegenüber Volk und Vaterland erinnern. Sicher läßt sich eine ethische Pflicht zum Widerstand bis hin zum Opfer des eigenen Lebens nicht allgemein begründen. Von den Grundsätzen der allgemeinen Moral hätte ihm auch der leichtere Weg offen gestanden. Jägerstätter verlangt von sich selbst mehr, als in dieser vergleichbaren Situation allen anderen zugemutet werden könnte.
Jägerstätter war der Wahrheit näher als eine vordergründige Kasuistik, die auch im nachhinein nicht von den Opfern her denkt. Er hat prophetisch um Jahrzehnte voraus gelebt, wozu die Kirche noch eine Weile brauchte. Zu stark war zunächst noch die Verklärung der Tugenden der Soldaten im Krieg, zu zurückhaltend die Verurteilung und Ächtung des Krieges. Moraltheologisch blieben sie, zum Beispiel der Weihbischof und Kapitelvikar Josephus Calasanz Fließer in Linz, auf einer sekundären Ebene stehen. Sie stellten nicht die Frage nach der Legitimität des Krieges, sie fragten nicht nach dem zentralen Tötungsverbot. Im Hinblick auf die Autorität des Staates blieben sie an Röm 13, 1 kleben: "Jeder leiste den Trägern der staatlichen Macht den schuldigen Gehorsam." Über die Rechtmäßigkeit des Kriegs sollte allein die staatliche Obrigkeit entscheiden. Jägerstätter hingegen interpretierte gerade diese Stelle, wie übrigens auch Thomas von Aquin, von Apg 5, 29 her: "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen."
Mit der Berufung auf das Gewissen wird oft das Ziel verfolgt, die individuellen Kosten einer Entscheidung niedrig zu halten. Gewissen ist da die Instanz der Selbstrechtfertigung. Demgegenüber haben die Gewissenstäter der Vergangenheit wie Sokrates, Thomas Morus oder Franz Jägerstätter einen hohen Preis für die Treue zu ihrem Gewissen bezahlt: einen Preis, der das Opfer des eigenen Lebens einschloß. Das Gewissen war für sie verbindliche Instanz, für die sie den Kopf hingehalten haben. Im Zeugnis von Franz Jägerstätter strahlt die Würde der menschlichen Person auf, die Würde des menschlichen Gewissens. Jägerstätter war keiner, der der Mehrheit nach dem Mund geredet hat. Er wollte sich nicht auf allgemeine Vorschriften und Regeln hinausreden. Er ist ein "einsamer Zeuge" des Gewissens. Das Gewissen läßt sich für Jägerstätter nicht durch die Autorität der Obrigkeit suspendieren: "Keiner irdischen Macht steht es zu, die Gewissen zu knechten. Gottes Recht bricht Menschenrecht."13 Das so gelebte Gewissen ist kein "Handlanger der Eigeninteressen" (Eberhard Schockenhoff). Es gibt nicht die Erlaubnis für alles und jedes, es ist nicht die Instanz der Beliebigkeit oder der Auflösung der Normen. Es ist auch nicht der Ort für ein Christentum zu ermäßigten Preisen. Das Gewissen ist der Ort der Erfahrung des Unbedingten, das uns in Anspruch nimmt und von uns Gehorsam einfordert. Es ist der Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch, der Ort der Nachfolge Christi. Bei der Entscheidung Jägerstätters geht es um sittliche Urteilskraft, um ein Gewissensurteil, das nicht im Geschrei der Massen mitplärrt. Der damalige Kontext waren Krieg und Frieden, Gerechtigkeit und Terror, Leben oder Tod. Beim Gewissenszeugnis Jägerstätters geht es also ganz und gar nicht um Willkür oder Unverbindlichkeit, auch nicht um eine Skepsis gegenüber Ethik und Moral. Im Gegenteil: Aus der Rückschau erinnert sein Gewissensprotest gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime daran, daß die Maßstäbe von Gut und Böse unverrückbar bleiben, auch wenn sie in der damaligen pervertierten öffentlichen Moral kaum Widerhall fanden. Heute sind die Kontexte vielleicht anders, aber es geht auch um Fragen des Rechts auf Leben, um Menschenwürde, um Gerechtigkeit, um die Gottesfrage.
Mut zur Verantwortung
Im Jahr 1961 stand Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht, eines der "Ungeheuer", die für die massenhafte Tötung der Juden verantwortlich waren. Das vermeintliche Ungeheuer stellte sich während des Prozesses als pflichtbewußter Bürokrat dar, der nur die Befehle eines Höheren ausgeführt hatte. Das veranlaßte Hannah Arendt, ihrem Prozeßbericht den Titel zu geben: "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen". Das Wort von der Banalität des Bösen sollte die Durchschnittlichkeit des Täters bezeichnen; es legte nahe zu sagen: Die große Masse war nicht besser als Eichmann, jederzeit bereit, Gleiches unter gleichen Umständen zu tun. Es war der Sachverhalt des Schreibtischtäters, der kein spezifisches Unrechtsbewußtsein aufzubringen vermochte. In einer technisierten und bürokratisierten Welt wurden der Völkermord und die Ausrottung "überflüssig" erscheinender Bevölkerungsgruppen geräuschlos und ohne moralische Empörung der Öffentlichkeit zur Gewohnheit. Die Einzigartigkeit des Holocaust erblickte Arendt im Fehlen jeglicher moralischer Dimensionen, damit in der ausschließlich bürokratischen Natur des Vorgangs. Persönliche und moralische Mediokrität des Angeklagten veranlaßt zur Schlußfolgerung, die im Untertitel des Buchs aufgenommen ist: Banalität des Bösen. Eichmann hat sich nie vorgestellt, was er eigentlich anstellt. Seine Handlungen und Entscheidungen waren banal, gedankenlos, vordergründig ohne teuflisch dämonische Tiefe:
"Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte."14
Eichmann entschuldigte sich damit, daß er nicht als Mensch, sondern als bloßer Funktionär gehandelt habe.
Franz Jägerstätter hatte den Mut zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit, obwohl damit massive Gefahren für sein eigenes Leben verbunden waren. Er war "guten Mutes", für die Wahrheit Gottes Zeugnis zu geben und entsprechend den Zu-mut-ungen der Bergpredigt vorrangig Gottes Reich zu suchen15. Er vermittelt in seinen Aufzeichnungen und Briefen nicht den Eindruck eines Angsthasen oder eines Feiglings. Furcht ist nicht das Leitmotiv seiner Entscheidungen und seines Handelns. Wiederholt greift er die Thematik der Menschenfurcht mit Hinweis auf biblische Stellen auf. Diese "elende" Menschenfurcht ist ein schlechter Ratgeber, sie führt zur Preisgabe des Gewissens, zur Spaltung der Seele16. Er beklagt, daß viele Katholiken oft Feiglinge sind und vom Lob anderer abhängen und denken, die anderen Menschen seien einmal ihre Richter. Diese Angst vor Menschen nennt Jägerstätter dumm17. Lebensraum dieser Freiheit und Individualität, die Jägerstätter vor der Menschenfurcht und vor dem Aufgehen in die Masse bewahren, sind übrigens Gebet, Sonntag und Eucharistie. An Hans Rambichler schreibt er am 30. November 1941: "Gib ja das Beten nicht auf, damit Du nicht von dieser Schwachheit der Menschenfurcht überwältigt wirst."18 Jägerstätter versteht Gebet nicht fatalistisch oder quietistisch, "sondern als Résistance der Innerlichkeit, als höchste innere Freiheit, die gerade dazu befähigt, angstfreier und nicht korrumpierbar sich einzumischen in die Verhältnisse, wie sie sind"19.
Franz Jägerstätter lebt den Mut zur Wahrheit. Im Brief an seine (heute 94jährige) Frau Franziska aus dem Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Linz vom 5. März 1943 schreibt er:
"Wenn man dich fragt, ob Du mit dem einverstanden, daß ich nicht mehr kämpfen will, so sage ganz ehrlich aus, wie es dir am liebsten gewesen, denn für mich glaub ich, kann nichts erleichtern und auch kaum beschweren, denn würde ich vor Lügen und Schwindeln keinen so großen Schrecken haben, dann würde ich ohnedies nicht hier sitzen, und will mir auch weiterhin durch keine Lüge das Leben retten."20
Am Tag vor der Hinrichtung schreibt er: "Glaubt ihr vielleicht, Euch könnte dann kein Leid mehr treffen, wenn ich jetzt durch eine Lüge mir das Leben noch zu verlängern suchen würde?"21
Franz Jägerstätter hatte den Mut zur Verantwortung. Sehr deutlich spricht er von Verantwortung und Verantwortungslosigkeit, von Sünde und Schuld22, auch im Hinblick auf den Krieg und die damit verbundenen Verbrechen: "An der Diebsbeute wollen wir uns zwar fast alle ergötzen, die Verantwortung über das ganze Geschehen wollen wir nur einem in die Schuhe schieben!"23 Und an anderer Stelle:
"Und noch immer sind viele der Ansicht, daß über das ganze Toben des Krieges, das schon bald die ganze Welt erfaßt hat, nur einige die Schuld und Verantwortung tragen. Wie sehr ist man dafür aber gleich beängstigt, es könnte einem an zeitlichen Gütern irgendein Schaden entstehen, das kommt eben daher, weil man sich am ganzen Weltgeschehen für schuldlos hält."24
Jägerstätter war keiner, der der Mehrheit nach dem Mund geredet hat. Die Zeiten des Kollektivismus in Nationalsozialismus oder Kommunismus sind einmal vorbei. Und doch: Auch wenn seit Jahrzehnten von Überwindung der Entfremdung, von Selbstfindung, Subjektivität, Identitätsbildung und auch von Selbstverwirklichung gesprochen wird, haben doch viele eine riesige Angst vor dem Ich, sie gehen auf im "Man", in der Rolle, sie schwimmen in der Masse mit. "Als Man lebe ich aber immer schon unter der unauffälligen Herrschaft der anderen. Jeder ist der andere und keiner er selbst. Das Man ist das Niemand."25
Jürgen Habermas spricht von der Kolonisierung der Lebenswelt durch systemische Intervention, zum Beispiel durch das Recht, aber auch durch Macht und Geld26. Nicht wenige haben ihre Überzeugungen vollständig an die verführerischen Sinnangebote und dramatischen Rollenspiele der Fernsehwelt delegiert. Die Kolonisierung der Lebenswelt durch die modernen Kommunikationsmedien ist zur universellen Wirklichkeit geworden. Wenn etwas die Lebensgefühle der Figuren steuert, dann sind es die täglichen Maskenspiele in Talkshows und die Reichtumsverheißungen in den beliebten Quiz-Formaten. Man müßte in den Spiegel der medialen Wunschbilder blicken und darin die Fratze einer verkrüppelten Identität erkennen!
Einsamer Zeuge des Gewissens ist Franz Jägerstätter gerade in einer Zeit, in der ethische Werte auf den Kopf gestellt werden, in der nicht die ethische Existenz und die Verantwortung entscheidend sind, sondern die ästhetische Lebensform. Er steht wie ein Leuchtturm gegen die Resignation in das Schicksal, er bezeugt, daß der einzelne nicht einfach machtlos naturalen Prozessen ausgeliefert ist. Glaube entzieht sich für ihn dem enormen Anpassungsdruck und ist personalisiert, nicht einfach von der Mehrheit, von der Masse getragen.
Er lähmt die Hände der Krieger (Jer 38, 4)
Franz Jägerstätter war zunächst kein absoluter Pazifist. Der Weg zur Gewaltlosigkeit ist bei ihm ein Lernprozeß. Im Hinblick auf den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich am 12. März 1938 spricht er von einer möglichen und gerechtfertigten Verteidigung27. Jägerstätter war aber dann davon überzeugt, daß der Angriffskrieg Hitlers ungerecht war und daß er deshalb nicht mitmachen könne. Das hat er wiederholt anderen gegenüber geäußert. So sagt ein Mitgefangener im Linzer Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis über ihn: "Er hat einfach gesagt, es ist ein ungerechter Krieg, da kämpft er nicht mit."28 Zur Ungerechtigkeit des Angriffskriegs äußert er sich auch wiederholt in seinen schriftlichen Aufzeichnungen:
"Welcher Katholik getraut sich, diese Raubzüge, die Deutschland schon in mehreren Ländern unternommen hat, für einen gerechten und heiligen Krieg zu erklären?"29
Das Unternehmen des Kriegs ist für ihn ein "schon mehr als zwei Jahre grauenhaftes Menschenmorden"30. Zuletzt denkt er ganz vom biblischen Prinzip der Gewaltlosigkeit und der Seligpreisung der Friedensstifter her:
"Die Losung des Christen im Kampfe ist nicht: Gewalt mit Gewalt abwehren, sondern Geduld und Ausharren im Glauben (vgl. Judas 20)."31
Im Unterschied zu nationalsozialistisch Gesinnten betet er nicht um den Sieg, sondern um den Frieden. Dieses Gebet soll nicht nur Wort bleiben, sondern auch die Tat prägen32. Er will lieber die Militärpflicht verweigern als andere morden:
"Es kann unmöglich ein Verbrechen oder eine Sünde sein, wenn man als Katholik einfach die jetzige Militärpflicht verweigert, obwohl einer dann den sicheren Tod vor Augen hat, ist es denn nicht christlicher, sich selbst als Opfer hinzugeben, als daß man zuerst noch andre morden muß, die ja auch ein Lebensrecht auf Erden besitzen und leben wollen, um sich selbst noch auf eine kleine Weile das Leben zu retten."33
Bei der Beurteilung des Kriegs geht er nicht von den Siegesmeldungen aus, sondern von der Frage nach der Schuld an den Opfern34. So überwindet er die Apathie und Fühllosigkeit in der Wahrnehmung gegenüber Leid und Opfer35. Als Gerechter in einer ungerechten Zeit fühlt er sich in die Opfer hinein, und das in einer Gesellschaft, die den Willen zur Macht und die Verachtung der Schwachen vergötzt hat. Prophetisch ist sein Aufdecken der Antlitze der Opfer gegen deren Verhüllung durch die Sieger. Er bringt die Leidenden in die Sprache gegen das Gebrüll der Propagandareden. Franz Jägerstätter benennt das gewalttätige Subjekt:
"Gibt es denn noch viel Schlechteres, als wenn ich Menschen morden und berauben muß, die ihr Vaterland verteidigen, nur um einer antireligiösen Macht zum Siege zu verhelfen, damit sie ein gottgläubiges oder besser gesagt, ein gottloses Weltreich gründen können?"36
Und er nennt die Gier beim Namen, die an der Wurzel von Krieg und Mord steht:
"Kämpft man gegen das russische Volk, so wird man sich auch aus diesem Land so manches holen, was man bei uns gut gebrauchen kann, denn kämpfte man bloß gegen den Bolschewismus, so dürften doch diese andren Sachen wie Erze, Ölquellen oder ein guter Getreideboden doch gar nicht so stark in Frage kommen?"37
Franz Jägerstätter ist ein Prophet der Gewaltlosigkeit, der die Macht Gottes und die Ohnmacht der Ideologien, der Götzen und des Kriegs bezeugt. Dabei kennt er das Leiden der Propheten. Prophet ist ja nicht schon einer, wenn er das Prinzip Unruhe in einer sonst monotonen und faden Gesellschaft provoziert. Nicht jeder unruhige Geist, nicht jede Nervensäge ist schon ein Prophet. Es gibt einen Tourismus der Krawalle, die mit dem Evangelium herzlich wenig zu tun haben: "Der falsche Gott macht aus dem Leiden Gewalt. Der wahre Gott macht aus der Gewalt Leiden."38
Hoffnung für Täter, Verführte und Verblendete
Für Franz Jägerstätter ist die Religion Jesu eine Religion des Kreuzes39. Er ist dabei nicht auf das Leid fixiert oder masochistisch in den Tod verbohrt. Er ist nicht in die Sühne oder in die Verbitterung verliebt. Es ist die Nachfolge Jesu, die höher steht als die Furcht vor Schmerz und Tod. Und diesem Leiden will er nicht aus dem Weg gehen. Es ist eine im Unglück und in der Verfolgung durchgehaltene Treue, Wahrhaftigkeit und Liebe. Er nimmt seinen Tod als Sühne für andere an40. Stellvertretung und Sühne sind - so gesehen und gelebt - Vollzüge der Hoffnung und nicht der Destruktion41. Sie sind Konsequenz des Glaubens und der Berufung in einer Situation der Verblendung. Sie sind Ausdruck der Liebe unter den Bedingungen der Lieblosigkeit und der Vergiftung. Sie kommen aus dem Stehen in der Wahrheit unter dem Vorzeichen der Lüge. An stellvertretenden Zeugen wie Franz Jägerstätter leuchtet Hoffnung auf, die auch Täter und Verführte mit einschließt42. Freilich wird den Tätern und den Verführten diese Hoffnung nicht durch die Bestätigung ihrer Verblendung und ihrer Ideologie geschenkt. Diese ihre Hoffnung muß durch die Krisis der Umkehr hindurch. Eine Hoffnung ohne Gerechtigkeit und Solidarität würde letztlich im Unrecht der Starken verkommen.
Gegen den Tod und gegen tödliche Mächte bezeugt Franz Jägerstätter Gott als den schöpferischen Ursprung des Lebens. Im Licht von Tod und Auferstehung Jesu setzt er die Hoffnung frei, daß uns am Ende nicht das Nichts erwartet, sondern die schöpferische Liebe dessen, der uns erschaffen hat. Die Evangelien setzen darauf, daß Tod und Auferstehung Jesu mitnehmen in ein neues Leben. So ist Franz Jägerstätter ein Hoffnungsträger für dieses Mitgenommen-Werden in das neue Leben, wie es sich in den Seligpreisungen konkretisiert.
Stimmen der Zeit (2007) 675-686