Das Erste Vatikanische Konzil tagte vom 8. Dezember 1869 an und gilt heute als das 20. Ökumenische Konzil. Papst Pius IX. berief die Versammlung ein, um die liberalen Ideen der Aufklärung (etwa Bürgerrechte, Gewaltenteilung, Toleranz und Bildung) abzuwehren, die Autorität des Papstes festzuschreiben und die kirchliche Gesetzgebung entsprechend anzupassen.
An dem Konzil nahmen rund 700 kirchliche Würdenträger teil, davon stammte gut ein Drittel aus Italien. Unter dem absolutistisch eingestellten Papst spaltete sich die kirchliche Hierarchie in zwei Lager, wobei sich Pius der ihm treuen Minderheit bediente, um seine autoritären Vorstellungen durchzusetzen.
Infolge des Deutsch-Französischen Kriegs 1870 zogen die Franzosen – die bisherige Schutzmacht des Kirchenstaats – ihre Truppen aus dem Vatikan ab, und Italien annektierte den Kirchenstaat. Der Papst vertagte daraufhin das Konzil am 18. Oktober 1870 auf unbestimmte Zeit und es wurde nicht mehr aufgenommen.
Der historische Hintergrund
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts veränderte sich das geistige Klima in Europa mit den neuen Ideen der Aufklärung gewaltig. Die Wissenschaften entzauberten die Welt und konnten vermeintliche Wunder rational erklären. Die Aufklärer beriefen sich auf die Vernunft als höchste Urteilsinstanz und machten damit der Kirche ihre Stellung als gottgewollte Autorität streitig. Die Französische Revolution schaffte den absolutistischen Ständestaat schließlich ab und zerbrach damit die alte Ordnung, in der auch die Kirche ihren festen Platz gehabt hatte.
Mit der Reformation war die Einheit der Christenheit schon ein paar hundert Jahre zuvor zerfallen und Martin Luther hatte dem Papst die alleinige Lehrautorität streitig gemacht. Zudem traten nun religionskritische Tendenzen in der Gesellschaft immer deutlicher zu Tage und das Eigentum der Kirche war in vielen Ländern der Säkularisierung durch die Revolutionäre zum Opfer gefallen.
„Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Päpste die Entwicklungen der Neuzeit verurteilten und dass sie mit der Neuscholastik eine Theologie protegierten, die sich dezidiert von deren Idealen absetzte und sich auf überzeitliche und vom Wandel der Geschichte angeblich nicht berührbare Wahrheiten zurückzog“, schreibt der Dogmatiker Peter Neuner in einem Beitrag für die Herder Korrespondenz.
Schon Papst Gregor XVI. verurteilte in der Enzyklika Mirari Vos (1832) die Moderne. Sein Nachfolger Pius IX. erklärte, der Papst könne sich nicht mit dem Fortschritt und der modernen Welt anfreunden. Die liberale Presse sah darin eine Kriegserklärung an die moderne Gesellschaft, und der Konflikt zwischen staatsnahen und romtreuen Katholiken verschärfte sich. „Einig waren sich Freunde und Feinde darin, dass Katholizismus und Moderne ein für alle Mal für unvereinbar erklärt wurden“, so Neuner. Ausgelöst durch diese heftige Kritik wurde der Papst vom katholischen Volk zum Märtyrer stilisiert. In diese Entwicklungen hinein berief Papst Pius IX. das Erste Vatikanische Konzil ein.
Die Beschlüsse des Konzils: Dei Filius und Pastor Aeternus
Es scheint, als habe der Papst von Anfang an den Plan verfolgt, die päpstliche Unfehlbarkeit zum Dogma zu erheben. „Beide Dokumente des Konzils, das Dekret Dei Filius über den Glauben und Pastor Aeternus über den Papst sind vom Gedanken der Autorität und des Gehorsams geprägt und verwerfen das Streben nach Freiheit und Autonomie der Person. Glaube erscheint als Gehorsam, den der Mensch der göttlichen Offenbarung, so wie sie durch die Kirche vermittelt ist, entgegenzubringen hat“, erklärt Neuner. Durch massive Einflussnahme erreichte der Papst eine Mehrheit für die Dogmen seiner Unfehlbarkeit und seines Jurisdiktionsprimats. Die Gegner der Unfehlbarkeitserklärung, vor allem die deutschen, österreichischen und ungarischen Bischöfe, machten rund zwanzig Prozent des Konzils aus. Um nicht gegen die Erklärung stimmen zu müssen, verließen sie die Stadt vor der Abstimmung und „unterwarfen“ sich später, während sich die „Altkatholiken“ von der römisch-katholischen Kirche abspalteten.
Das Schreiben Pastor Aeternus wurde von den Konzilsvätern am 18. Juli 1870 verabschiedet. Darin wird festgehalten, dass der Papst die oberste Befehlsgewalt in der katholischen Kirche innehat und damit einhergehend bei allen lehramtlichen Entscheidungen über Glaubens- und Sittenfragen unfehlbar sei. Diese höchste innerkirchliche Rechtsgewalt - wie auch das höchste Lehramt - sei von Christus verliehen worden und setze sich in den Bischöfen von Rom fort.
Das Konzilsdokument Dei Filius diente in erster Linie der Verteidigung des katholischen Glaubens gegen die „Irrtümer der Zeit“ und wurde bereits am 24. April 1870 beschlossen. Darin verurteilten die Konzilsväter Indifferentismus, Rationalismus und Materialismus, sowie theologische Gegenpositionen wie Pantheismus, Fideismus und Traditionalismus. Außerdem betonen die Verfasser die Bedeutung von Wundern für den Glauben.
Die Auswirkungen auf die Kirche heute
Obwohl sich in der Folgezeit zeigte, dass die Päpste bis heute mit dem Argument ihrer Unfehlbarkeit sehr zurückhaltend umgegangen sind und schon Benedikt XV., der Nachfolger von Papst Pius X., den schlimmsten Auswüchsen der Modernistenhetze ein Ende setzte, prägt das Erste Vatikanische Konzil die katholische Kirche noch immer. „Das Konzil von 1869/1870 hat die katholische Kirche in ein geistiges und gesellschaftliches Abseits geführt … Man hat die Moderne den Liberalen, im theologischen Bereich den Protestanten überlassen, und sich in ein idealisiertes Mittelalter zurückgezogen“, schreibt der Münchner Dogmatiker Peter Neuner in seinem Buch „Der lange Schatten des I. Vatikanums“ (Freiburg 2019). Darin stellt er dar, wo die Beschlüsse des Konzils ein sachgemäßes Handeln der Kirche noch heute blockieren: „Die autoritären Strukturen der Dogmen von 1870 haben ihre Frucht getragen, sie sind keineswegs Sache einer weit zurückliegenden Historie.“
Das Erste Vatikanische Konzil tagte vor 150 Jahren. Welche Bedeutung hat es heute noch für die katholische Kirche?
Peter Neuner: Das Konzil war von dem Gedanken geprägt, alle neuen Ideen abzuwehren. Aus kirchlicher Sicht waren die Neuerungen der Moderne für alle Unglücke und Katastrophen der Zeit verantwortlich. Die Herausforderungen, die die Kirche gerade in Zusammenhang mit der Französischen Revolution massiv bedrückten, haben in diesem Konzil einen tiefen Niederschlag gefunden. Im Zweiten Vatikanum finden wir die entgegengesetzte Position: die Öffnung der Kirche für die Welt und eben gerade nicht ihre Abschottung. Diesem Anliegen wurde vor allem in der Pastoralkonstitution „Kirche in der Welt von heute“ Rechnung getragen. Allerdings muss man dabei auch sehen, dass – wahrscheinlich um die konservative Minderheit zu befriedigen und ihre Zustimmung zu ermöglichen – auch Formulierungen des Ersten Vatikanums, etwa über den Primat und die Unfehlbarkeit des Papstes, in die Dokumente des Zweiten Vatikanums aufgenommen wurden. In den gut fünfzig Jahren, die vergangen sind, hat sich die römische Kurie gerade auf diese Textstellen stark bezogen.
Wo stellt das Erbe des Ersten Vatikanums die Kirche hierzulande vor konkrete Probleme?
Peter Neuner: Das betrifft meiner Meinung nach vor allem das Verhältnis von Bischöfen beziehungsweise Bischofskollegium und dem Papst. Im Ersten Vatikanischen Konzil hatte man den Eindruck, dass das Konzil, also das Bischofskollegium, völlig entmachtet werden sollte. Die einzige Quelle der Vollmacht in der Kirche liegt demnach beim Papst. Er kann seine Vollmachten nach seinem Belieben weitergeben. Im Zweiten Vatikanischen Konzil wird in Korrektur dazu festgehalten, dass auch das Bischofskollegium die oberste Vollmacht in der Kirche innehat. Das geschieht nicht nur, weil der Papst seine Macht an die Bischöfe delegiert, sondern es speist sich aus der Ordination, der Bischofsweihe. Aus sakramentaler Verleihung, also von Christus selbst, sind die Bischöfe beauftragt, ihre Vollmacht wahrzunehmen. Nun ist allerdings festzustellen, dass – wann immer im Zweiten Vatikanum von dieser kollegialen Vollmacht der Bischöfe gesprochen wird – immer auch mit höchster Eindringlichkeit formuliert wird, dass diese Vollmacht nur in Gemeinschaft mit dem Papst ausgeübt werden kann. Der Papst ist in seiner Entscheidung, ob er diese Vollmacht kollegial oder persönlich ausüben möchte, immer frei. Alle Neubesinnung und alle Möglichkeiten, die im Zweiten Vatikanum für eine Eigenständigkeit der Ortskirchen aufgegriffen und formuliert wurden, stehen unter diesem Vorbehalt. Das hat sich an mehreren Stellen konkret ausgewirkt. Am offensichtlichen trat das wohl in der Enzyklika Humanae vitae von 1968 zutage, die sich mit Geburtenkontrolle und Familienmoral befasste. In dieser Sache hat der Papst gegen die überwiegende Mehrheit der Bischöfe aus eigener Vollmacht entschieden und sich darauf berufen, dass ihm in besonderer Weise die göttliche Führung zugewiesen und die Verantwortung auferlegt wurde. In ähnlicher Weise ist dies bei Papst Johannes Paul II. in den Auseinandersetzungen geschehen, die dann zu „Donum Vitae“ geführt haben. Damals waren die deutschen Bischöfe fast einmütig überzeugt, dass die Beratungsregelung einer reinen Fristenlösung vorzuziehen sei. Der Papst entschied allerdings, dass die deutschen Bischöfe aus dem Beratungssystem aussteigen müssen. Das sind wahrscheinlich die deutlichsten Beispiele für den langen Schatten des Ersten Vatikanum.
Was müsste die katholische Kirche tun, um dieses Erbe loszuwerden?
Peter Neuner: Die Kirche müsste sich bemühen, das Erste Vatikanum heute im Licht des Zweiten Vatikanums zu lesen. Das Zweite Vatikanum hat zweifellos keine geringere Bedeutung als das Erste und stellt der Kirche die Aufgabe, sich für die Welt von heute, wie sie nun einmal ist, zu öffnen. Diese Aussage scheint mir einer der zentralen Punkte des Zweiten Vatikanums zu sein und dies müsste auch in der Rechtsordnung seinen Niederschlag finden, vor allem im Verhältnis von Ortskirche zu Universalkirche beziehungsweise von Bischofskollegium zu Papst. Im Augenblick ist die kirchliche Rechtordnung - die Aussagen des Ersten Vatikanums sind in aller Deutlichkeit in den Codex von 1983 aufgenommen worden – vom Ersten Vatikanum geprägt. Derartige, dem Absolutismus sehr nahestehende Positionen, sind heute in der Kirche nicht mehr akzeptabel.