Das wahre Verhältnis von Orient und Okzident
Die Diskussion zwischen Orient und Okzident ist gegenwärtig gekennzeichnet von Sorgen, Ängsten, auch Aggression und Hass. In den Meinungen spielen Klischees, zum Teil noch aus dem Mittelalter stammend, und Unkenntnis eine große Rolle. Viele haben den Eindruck, die Begegnungen zwischen Orient und Okzident seien von jeher geprägt von immerwährenden Konflikten, einem stets schwelenden und zuweilen offen ausbrechenden Kampf der Kulturen: von den Kämpfen zwischen Griechen und Persern über die arabisch-islamischen Eroberungen nach Mohammed, die Kreuzzüge und die Türken vor Wien bis zu heutigen islamistischen Terroranschlägen. Aber dies ist ein sehr unvollständiger Eindruck von der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung, der zu falschen Schlussfolgerungen führt. In Band 14 der Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung beschreiben Nevfel Cumart und Ulrich Waas die umfassendere Geschichte des kulturellen Austauschs zwischen Morgenland und Abendland, der für beide Seiten sehr bereichernd war und der die Basis für das Entschärfen heutiger Konflikte sein kann.
Das Buch greift – kritisch und selbstkritisch – in anschaulicher Form die wesentlichen Themen auf, die man für einen erfolgreichen Dialog kennen sollte. Was ist die gemeinsame kulturelle Tradition? Wie hat die kulturelle Entwicklung in Europa vom Orient profitiert – und wie die des Orients von Europa? Wie entwickelten sich die Religionen in diesem Zusammenhang? Gibt es überhaupt den Islam und das Christentum? Wie kann man sich dem Koran nähern? Vertieft behandelt werden die Entwicklung von Gewalt oder Toleranz gegenüber Andersgläubigen und Minderheiten, der Stellung der Frauen in der Gesellschaft und der Religion als Mittel zur Machtsicherung. Was folgt daraus für unser heutiges Handeln, damit wir nicht blind reagieren, sondern mit Kenntnis, was schadet und was hilft?
Die Autoren haben einen ganz verschiedenen Hintergrund: Nevfel Cumart türkischstämmig, muslimisch aufgewachsen, Geisteswissenschaftler, Schriftsteller, jetzt bekannt als deutscher Lyriker. Ulrich Waas deutschstämmig, christlich aufgewachsen, Physiker, war im Kraftwerksbau tätig, erfuhr bei etlichen Reisen in die Türkei, welche wichtigen Wurzeln die europäische Kultur in Anatolien hat.
Zusammen haben sie einen Weg gefunden, die Themen zwischen Okzident und Orient so zu behandeln, dass Abendländer und Morgenländer, Christen und Muslime in gleicher Weise angesprochen und zum Nachdenken angeregt werden.
Das Buch erscheint in der Schriftenreihe der Georges-Anawati-Stiftung. Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, das wechselseitige Verständnis von Menschen verschiedener kultureller und religiöser Traditionen zu fördern.
Die Widmung der Autoren:
Semiya Şimşek ist die Tochter von Enver Şimşek, der im September 2000 das erste Opfer in der Mordserie des rechtsradikalen, terroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) war. Sie hat im Februar 2012 eine beeindruckende Rede auf der Veranstaltung der Bundesrepublik Deutschland zum Gedenken an die Mordopfer des NSU gehalten. 2013 erschien ihr bewegendes Buch Schmerzliche Heimat, in dem sie die zusätzlichen Leiden ihrer Familie beschrieb, da jahrelang fälschlicherweise der Täter im Umfeld der Familie gesucht wurde. Ihre Rede und ihr Buch haben uns den Anstoß dazu gegeben, nachzudenken und im Folgenden aufzuschreiben, was Türken und Deutsche und darüber hinaus „Morgenländer“ und „Abendländer“ aus ihrer Geschichte verbinden kann. Wir hoffen, dass das Verbindende hilft, friedlich und respektvoll miteinander zu sprechen und zusammenzuleben.