Was ist Dogmatik?
Der Begriff „Dogmatik“ verweist auf die einzelnen „Dogmen“ und damit auf die konkreten Glaubenssätze der Kirche. Doch ist Dogmatik als wissenschaftliche Disziplin mehr als die Summe dieser Dogmen. Ihr Gegenstand ist das Ganze des christlichen Glaubens, sowohl in der Lehre als auch im Leben der Kirche. Dieses Beziehungsgefüge macht der Titel des großen evangelischen Entwurfs der Dogmatik aus dem letzten Jahrhundert besonders deutlich: Karl Barths „Kirchliche Dogmatik“ macht auf die Kirche als praktisches Bewährungsfeld der Dogmatik aufmerksam. Dogmatik ist also nicht abstrakte Theorie, sondern Glaubensreflexion im Dienst der Praxis.
Die Dogmatik ist der Systematischen Theologie zugeordnet. Sie will den Glauben in seinen Zusammenhängen verständlich machen. Im Fokus steht die innere Logik der Glaubenssätze. Deshalb hat die Vermittlung (vermeintlicher) Spannungen zwischen einzelnen, isoliert betrachteten Glaubenssätzen in der Dogmatik ihren Ort. Insofern sie die in der Geschichte ergangene Überlieferung des Glaubens in die Gegenwart hinein übersetzt, kommt der Dogmatik auch eine Brücken-Funktion zwischen damals und heute zu. Sie dient der individuellen Aneignung verbindlicher Glaubenslehre auf dem Weg der vernünftigen, das heißt nachvollziehbaren Darlegung. Darin unterscheidet sich die Dogmatik als theologische Disziplin grundlegend von einem blinden Dogmatismus, der sich nicht dafür interessiert, sich verständlich zu machen. Dogmatik ist demgegenüber reflektierter Glaube, der verstanden werden will.
Fragen und Themen der Dogmatik
Da die Dogmatik um Verständigung bemüht ist, befasst sie sich auch mit den Voraussetzungen für das Verstehen beziehungsweise mit der Lehre des Verstehens, der sogenannten Hermeneutik. Ausgehend von den maßgeblichen Offenbarungszeugnissen und den in der Kirchengeschichte dargebotenen Zugängen zu ihnen formuliert die Dogmatik Sätze der Gotteslehre (inklusive Trinitätslehre) ebenso wie der Lehre von der Schöpfung und vom Menschen (Anthropologie). Eine für das Christentum eigentümliche Verbindung finden Gotteslehre und Lehre vom Menschen in der Lehre von Person und Werk Jesu Christi (Christologie). Hier sucht die Dogmatik plausible Antworten auf die Frage, was es heißt, dass Jesus Christus zugleich Gott und Mensch ist.
Hinzu kommen:
Während beispielsweise in den Bibelwissenschaften heute kaum noch Unterschiede zwischen katholischer und evangelischer Theologie auszumachen sind, werden in der Teildisziplin der Dogmatik konfessionelle Differenzen sichtbar. So beinhaltet die katholische Dogmatik auch das Themenfeld (Traktat) der Mariologie und eine ausführliche Sakramentenlehre. Beides wird in evangelischen Entwürfen nicht in dieser Form behandelt.
Bedeutende dogmatische Ansätze
Der klassische Aufbau eines dogmatischen Entwurfs orientiert sich an einer heilsgeschichtlichen Abfolge. Andere Zugänge beruhen auf einer trinitarischen Struktur und setzen auf diese Weise schon im formalen Aufbau inhaltliche Akzente. Zu den neueren Ansätzen zählen explizit ökumenische Herangehensweisen (Edmund Schlink, Wolfgang Beinert/Ulrich Kühn, Otto Hermann Pesch) oder Entwürfe mit interreligiösem oder religionstheologischem Horizont (Hans-Martin Barth).
Mit der Katholischen Dogmatik (Herder 2016) hat der ehemalige Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, Gerhard Ludwig Müller, ein Standardwerk unter den dogmatischen Entwürfen der Gegenwart vorgelegt. Der Autor konzipiert sein bereits in zehnter Auflage erschienenes Buch explizit für Studium und Praxis der Theologie und führt seine Leserinnen und Leser kompetent durch „zwei Jahrtausende theologischen Bedenkens der Mysterien des Christentums“. Dabei bringt Kardinal Müller das ebenso notwendige wie ambitionierte Geschäft der Dogmatik bereits im Vorwort zum Ausdruck: „Theologie kann nie nur aus einem Blickwinkel geschehen, sondern richtet den Blick stets auf die gesamte Wirklichkeit des Bundes Gottes mit den Menschen. So ist es gerade in einer Zeit, die Spezialisierung zum alleinigen Maßstab wissenschaftlicher Erkenntnis erhebt, notwendig, eine Gesamtschau der Traktate zu erstellen, die sich gegen die Isolierung und Partikularisierung der Erkenntnisse stellt.“
Über weitere bedeutende Ansätze sowie allgemein über die Themen und Fragestellungen der Dogmatik informiert das Neue Lexikon der katholischen Dogmatik (Herder 2012). Mit seiner einzigartigen Konzeption vereint es die Stärken eines Lexikons mit denen eines Handbuches, welches die Einzelthemen nicht isoliert voneinander behandelt.
Eine kundige Einführung in die gegenwärtige Landschaft der Dogmatik mitsamt ihren kreativen Momenten bietet die Osnabrücker Dogmatikerin Margit Eckholt für die Herder Korrespondenz mit ihrem Aufsatz „Wissenschaft in Zeit und Geschichte. Dogmatische Theologie übersetzt die Gottesrede ins Heute“.
Dogma und Veränderung
In der Dogmatik verbinden sich die traditionellen Denkwege immer wieder neu mit aktuellen Fragestellungen. Im Zusammenhang des rechten Verständnisses der Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils prägte Papst Benedikt XVI. die auch für die Dogmatik insgesamt aufschlussreiche Formulierung einer „Hermeneutik der Reform in Kontinuität“.
Wie sehr gerade die Theologie diesem Spannungsverhältnis aus verbindlicher Tradition und innovativer Gegenwartsbezogenheit ausgesetzt ist, verdeutlichen die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes "Die Theologie und 'das Neue'. Perspektiven zum kreativen Zusammenhang von Innovation und Tradition" (Herder 2015). Neben der Systematischen Theologie kommen dabei auch Experten der Bibelwissenschaften, der Historischen und der Praktischen Theologie zu Wort.
Was Tradition im theologischen Sinne zu bedeuten hat, versucht der Schweizer Benediktiner Martin Werlen in seinem Aufsatz "Angesichts der Traditionen die Tradition nicht vergessen. Die katholische Kirche und die Herausforderung des Zeitgeists" für die Herder Korrespondenz zu klären.
Michael Seewald, der jüngste Theologieprofessor Deutschlands, nähert sich dem Problem der zeitbedingten Zeitlosigkeit des Dogmas in seinem Buch "Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln" (Herder 2018). Angesichts der Festlegung des Dogmenbegriffs auf dem Ersten Vatikanischen Konzil spricht Seewald von einer „Innovation in anti-innovatorischer Absicht“. Pointiert fragt er seine Leserinnen und Leser: „Was ist der Preis für diese Zeitgenossenschaft, die nur dann eine Möglichkeit hat zu gelingen, wenn der Glaube auch Signaturen der Gegenwart trägt, die das Vergangene nicht ungeschoren […] übernimmt?“