Mythos

Mythos (griech. = anschauliche Erzählung) heißt eine Redeweise, die in erzählender Form Erkenntnisse vermitteln will, die rational-begrifflich nicht faßbar sind. In diesem Sinn verwendet schon die antike griech. Philosophie (Platon †347 v.Chr.) Mythen.

Alle Religionen haben ihre Mythen, in denen die Beschlüsse der Gottheiten, die Herkunft der Welt (Schöpfungsmythen), ihr gegenwärtiger Zustand oder menschliche Schicksale gedeutet werden (Ätiologie); sie sind Gegenstand religiöser Dichtungen (Dramen) und bilden vielfach wichtige Bestandteile des Kultes. Vonseiten der christlichen Theologie wurde der Mythos geraume Zeit (erste Hälfte des 20. Jh.) als (entstellende) Verkleidung der Offenbarung Gottes, des Kerygmas, negativ bewertet. Nachdem sich das Programm einer Entmythologisierung als nicht realisierbar herausgestellt hat (die „gemeinte Sache“ ist von ihrer „sprachlichen Einkleidung“ nur zum Schaden der Sache abtrennbar), wird der Mythos neuerdings religiös-theologisch positiv eingeschätzt: als Vergegenwärtigung des historisch nicht fassbaren „Ursprungsgeschehens“; Offenhalten der Erwartung einer unvorstellbaren Zukunft; Fundierung eines Ur-Vertrauens; wegen der Verwandtschaft der Mythen mit den religiös-theologischen unentbehrlichen Symbolen. So erhebt die Dogmatik keinen Einspruch (mehr), wenn die Exegese mythologische Erzählstücke in der Bibel feststellt, z. B. mehrere in Gen 1–11, andere in den Exodus-, Sinai- und Landnahmeerzählungen; mythische Motive bei mehreren Propheten, im Buch Ijob und im Hld, vielleicht in der Logos-Theologie und in den apokalyptischen Partien (Apokalyptik).

„Wenn man davon ausgeht, dass jeder Begriff einer metaphysischen und religiösen Wirklichkeit als jenseits der unmittelbaren Erfahrung mit einer Vorstellung arbeiten muss (in ursprünglicher, nicht nachträglich künstlicher und bloß didaktischer Synthese), die nicht die ursprüngliche Erscheinung dieser Wirklichkeit, sondern anderswoher gewonnen ist, wenn man dann noch voraussetzt, diese ‚Vorstellung‘ (ohne die jeder Begriff leer, d.h. unmöglich ist; thomistisch das ‚phantasma‘, dem sich jede transzendentale Erkenntnis zuwenden muss) sei nicht ein statisches ›Bild‹, sondern sei gegeben als dramatische, ereignishafte Vorstellung oder könne in eine solche hinein entfaltet werden und so etwas dürfe dann mythische Vorstellung genannt werden, dann ließe sich sagen: Jede metaphysische und religiöse Aussage ist eine mythische oder lasse sich als solche verdeutlichen. Und dies wäre nicht eine Leugnung der Möglichkeit echter und bleibend gültiger Wahrheitserkenntnis, sondern sie wäre mit einer solchen durchaus und wesentlich immer vereinigt, nur ein anderer Ausdruck für die Analogie in solcher Erkenntnis. Wo das kritische Bewusstsein für die notwendige, variierbare, aber unüberwindliche Bildhaftigkeit als solche in einer solchen Aussage entweder fehlt oder sogar ausgeschlossen wird (in wirklicher absoluter Identifikation von Vorstellung und Begriff), wäre das Mythos im eigentlichen oder pejorativen (formalen) Sinn des Wortes. Jeder Mythos kann natürlich, so aufgefasst, nochmals die Wahrheit treffen oder dadurch verfehlen, dass er schlechterdings etwas Falsches sagt oder eine richtige Teilinterpretation des menschlichen Daseins als die ganze verabsolutiert“ (Rahner-Vorgrimler 1961, 253).

Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder

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