Zwei Meinungen unterscheiden sich grundsätzlich von dieser Auffassung:
a) Nach der einen Meinung ist dasjenige, was die Theologie als Offenbarung versteht, nichts anderes als die geschichtliche, mit dem Menschsein notwendig gegebene Entwicklung des religiösen Bedürfnisses, das in der Religionsgeschichte in den unterschiedlichsten Formen zum Vorschein kommt, sich positiv weiterbildet und in Judentum und Christentum seine reinsten „Objektivationen „ erhalten hat.
b) Nach der anderen Meinung ist Offenbarung ihrem Wesen nach ein rein „von außen“ und „von oben“ kommender Eingriff Gottes, der ausgewählte Menschen, Propheten, anspricht und ihnen in Sätzen Wahrheiten mitteilt, die für sie anders nicht erreichbar sind, und Weisungen ethischer und institutioneller Art erteilt, die die Menschen zu befolgen haben. In der neueren Diskussion wird diese Meinung als „instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis“ bezeichnet.
Die sogenannte natürliche Offenbarung
Gestützt auf klassische Bibeltexte wie Weish 13, 1–9 und Röm 1, 18 ff. hielt die theologische Tradition jahrhundertelang an einer Erkennbarkeit Gottes aus den „Werken“ der Schöpfung fest. Es handelt sich dabei mehr um einen Rückschluss auf die Existenz Gottes als um eine Antwort auf die Frage, „wer“ und „wie“ Gott eigentlich ist. Der menschliche Geist erkennt durch seine Transzendenz das Endliche als Endliches und schließt daraus auf die Existenz eines Grundes, der qualitativ vom Endlichen völlig verschieden sein muss (Geheimnis). Der so in einer gewissen Weise kundgemachte Gott bleibt unbekannt, und ebenso ergibt sich aus dem schlussfolgernden Denken nicht, wie dieser Gott sich zu seiner Schöpfung und zu den Menschen verhält.
Die eigentliche Offenbarung Gottes
ist „Anrede“ (Hebr 1, 1–2), Ereignis und Dialog, eröffnet den Menschen dasjenige, was sich nicht durch den Hinweischarakter des Geschaffenen und durch die Erahnung des unendlichen Geheimnisses ergibt, die innere Wirklichkeit Gottes und sein personales, freies Verhalten zu dem von ihm Geschaffenen. In der theologischen Diskussion heißt diese Offenbarung die „geschichtlich-personale Wortoffenbarung“ oder auch die „amtliche“, „öffentliche“ (von Privatoffenbarungen verschiedene) Offenbarung.
a) Voraussetzung einer solchen Offenbarung ist, dass Gott das Hörenkönnen des Menschen und die Annahme des Gehörten im Glauben selber erst ermöglicht und mitträgt, da die endliche Kreatur und die durch Versagen und Schuld geprägte Kreatur von sich aus nicht fähig ist, eine Selbsterschließung Gottes wahrzunehmen. Voraussetzung des Geschehens und der Annahme der Offenbarung Gottes ist daher die heiligende und rechtfertigende Gnade, in der Gott sich selber dem Menschen zu eigen mitteilt. Da aufgrund der bereits geschehenen Offenbarung anzunehmen ist, dass Gott diese Gnade keinem einzigen Menschen versagt (universaler Heilswille Gottes), ist auch anzunehmen, dass diese Selbstoffenbarung Gottes zu allen Zeiten gegeben war und ist. Das Verständnis der Offenbarung beruht auf dem von der Gnade Gottes bewirkten Vertrauen, dass die unendliche Frage, die der Mensch ist, von Gott mit der unendlichen Antwort, die er selber ist, beantwortet wird (Glaubenssinn).
b) Diese Offenbarung Gottes in der Tiefe und Mitte der menschlichen Person ist zunächst „unreflex“, „unformuliert“, zwar bewusst, aber nicht kommunikabel „gewusst“. Wenn die Offenbarung Gottes eine Zielrichtung hat und ein bestimmtes Denken und Handeln des Menschen bewirken will, dann muss sie reflektiert, in Sätzen formuliert und kommunikabel gemacht werden können, wie es der Sozialnatur des Menschen entspricht. Daher hat die Offenbarung Gottes eine Geschichte der Reflexion, der sprachlichen „Übersetzung“ und der Kommunikation. Dass die Vorgänge dieser Ausformulierung von menschlichem Verständnis, individuellen Vorgegebenheiten auch schuldhafter Art, sozio-kulturell vorgeprägter Begrifflichkeit usw. mitbestimmt sind, ist selbstverständlich. So ist das Gotteswort nie „rein“, sondern immer nur im Menschenwort vermittelt, aber als Gotteswort, das nicht in die Irre führt, wahrnehmbar.
Für die Geschichte der Offenbarung sind zwei Faktoren wesentlich, die Propheten, die sich um Reflexion und sprachliche Übersetzung bemühen, und die Gemeinschaft der Hörenden, die ihre eigenen Gotteserfahrungen in Korrelation zur prophetischen Botschaft bringen und sich auf begriffliche Formulierungen dessen, was sie wahr- und angenommen haben, verständigen. Das Ergebnis dieser Vorgänge ist die „amtliche“ oder „öffentliche“ Offenbarung, die in der Heiligen Schrift festgehaltene Grundlage für die Existenz des Bundesvolkes Israel und der Glaubensgemeinschaft Kirche. Die Existenz dieser Glaubensgemeinschaften stellt die freie geschichtliche Antwort der Menschen auf die vernommene und angenommene Offenbarung Gottes dar. Obwohl aus allen Religionen, die sich schriftlich äußern, analoge Vorgänge bekannt sind, hat die Offenbarung des jüdischen und christlichen Glaubens innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte noch einmal eine eigene Geschichte und eine eigene Wirkungsgeschichte, die nach der Überzeugung der Glaubenden von Gott selber geleitet und gesteuert sind (Depositum fidei).
c) Der Vorgang der Reflexion, „Übersetzung“, Kommunikation und Annahme kann auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstmitteilung Gottes betrachtet werden. Im christlichen Glaubensverständnis hat die Selbstmitteilung Gottes an die geistige Kreatur ihren (vor der Anschauung Gottes) vorläufigen Höhepunkt in der Inkarnation, in der sich das ewige Wort Gottes mit der kreatürlichen Wirklichkeit Jesu zu einer unlösbaren Einheit ohne Vermischung verbunden hat. Der innergeschichtliche Höhepunkt ist damit gegeben, dass Gott als der Ausgesagte, die Art und Weise der Aussage, nämlich die ganze menschliche Wirklichkeit Jesu, und der Empfänger der Aussage, nämlich Jesus, absolut einer geworden sind. Darum darf Jesus als der Offenbarer Gottes schlechthin gelten. Mit ihm und in seinem Schicksal ist „unüberholbar“, nicht mehr rückgängig zu machen, geoffenbart, dass Gottes letztes Wort zur Menschheit Liebe und Vergebung und nicht Gericht ist. Das Verstehenkönnen dieser unbegreiflichen Liebe und die glaubend- dankende Antwort des Menschen schenkt Gott in seiner Selbstmitteilung an den einzelnen Menschen im Heiligen Geist.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder