Rechtfertigungslehre

Rechtfertigung ist ein Begriff, der in kürzester Form das vergebende Handeln Gottes am sündigen Menschen bezeichnen soll.

Biblisch

gibt es eine Rechtfertigungslehre nur bei Paulus, der die Rechtfertigung und damit die von Gott geschenkte Gerechtigkeit polemisch gegen das Gesetz (Gesetz und Evangelium) ausspielt. Er beruft sich dabei auf Gen 15, 6 (Röm 4, 3; Gal 3, 6), Hab 2, 4 (Röm 1, 17; Gal 3, 11) und Ps 143, 2 (Röm 3, 20; Gal 2, 16). Nach der Gen-Stelle erklärt Gott Abraham als gerecht aufgrund seines Glaubens, doch ist weder von Gesetz noch von Sünde die Rede. Ebenso fehlen beide an der Hab-Stelle. Nach der Ps-Stelle erkennt der Beter die allgemeine Sündhaftigkeit; er spricht seine Hoffnung auf Gottes zuvorkommende Gerechtigkeit aus. Für Israel gelten Tora und Gesetz als Geschenke der Freundlichkeit und des Erbarmens Gottes; Israel lebt in einem tiefen Bewusstsein der Sünde und des Versagens, doch ist die Vergebung durch Gott nirgendwo Anlass zu einer sich selber rühmenden Selbstgerechtigkeit. Die Rettung durch die Gerechtigkeit Gottes bewirkt jeweils den Anfang eines neuen Lebens in Gerechtigkeit vor Gott. Die exegetische Untersuchung der Paulus-Texte ergab, dass am Ursprung seiner Rechtfertigungslehre seine Intention lag, den Heidenchristen nicht „Werke des Gesetzes“ aufzuerlegen (Phil 3 und Gal). In Röm ist er bemüht, angesichts der sündigen Schwäche des Menschen die Ohnmacht der Tora aufzuzeigen. Zentrum seine Lehre ist die Rechtfertigung allein durch den Glauben an Jesus Christus (Gal 2, 16).

Die nachpaulinische Veränderung innerhalb des NT von den „Werken des Gesetzes „ zu den „guten Werken“ überhaupt kann hier außer Betracht bleiben. Die „antipaulinische“ Wendung bei Jak 2, 14 und die Hinweise auf tätige Nächstenliebe (Jak 2, 8 16 22) lassen sich nicht als grundsätzlichen Widerspruch zu Paulus verstehen (für den der Glaube „durch die Liebe wirksam“ wird: Gal 5, 6). Die Rechtfertigung wird bei Paulus nicht einfach als Vergebung der Sünden verstanden, sondern als Befreiung von der Herrschaft der personifiziert gedachten Sünde (und zusammen mit ihr vom Tod), so dass dem Menschen neues Sein und Leben in Freiheit geschenkt wird. Die paulinische Rechtfertigungslehre kann angesichts von Röm 9–11 und seiner Bekräftigung der Treue Gottes gegenüber den Juden keinesfalls gegen das Judentum ausgespielt werden.

Systematisch

Nach einer komplexen Vorgeschichte mit einem nicht einlinigen Verständnis von Gnade – Gerechtigkeit – Barmherzigkeit – Genugtuung – Sündenvergebung stellte sich in der westlichen Theologie ein Verständnis der Rechtfertigung ein, wonach diese nicht einfach mit der Gnade identisch, sondern deren Wirkung und zwar „Gerechtmachung“ ist. M. Luther († 1546) wandte sich gegen mögliche Missverständnisse der spätmittelalterlichen Scholastik, als könne ein Mensch sich Gerechtigkeit durch eigene Tätigkeit verschaffen. In seiner Sicht ist Rechtfertigung „Gerechtsprechung“ vor dem Gericht Gottes; die Gerechtigkeit Gottes wird dem Menschen weder innerlich zu eigen noch als Geschenk von außen zuteil, sondern besteht in der gnädigen Gesinnung Gottes. Gegen dieses „forensische“ (lateinisch = juristisch-gerichtliche) Verständnis der Rechtfertigung wandte sich das Konzil von Trient. Dessen offizielle Lehre von der Rechtfertigung lässt sich folgendermaßen wiedergeben: Gott schenkt in seiner vergebenden Liebe den Heiligen Geist als Geist der Gotteskindschaft, der Freiheit und der Heiligkeit, der im Menschen Wohnung nimmt und ihm Zeugnis von der Neuschöpfung durch das Wort des Glaubens und durch die Zeichen der Sakramente gibt. Diese Selbstmitteilung Gottes schenkt dem Menschen eine rechtmachende, nicht nur eine juristisch anrechenbare Gerechtigkeit (nicht nur eine Imputationsgerechtigkeit), die zugleich die Vergebung der Sünden ist. Der Wille Gottes zur Rechtfertigung ist grundsätzlich in der Welt anwesend, eschatologisch unwiderruflich und gewiss durch die Inkarnation des Wortes Gottes, Jesu Tod und seine Auferstehung. Dass dieser Heilswille Gottes in Jesus Christus den Menschen gegeben ist, ist Gegenstand des Glaubens. Dass er gerade jeden einzelnen Menschen trotz seiner Sündigkeit, in der er sich schuldhaft, wenn auch uneingestanden der Liebe Gottes wirksam versagen kann, wirksam trifft, ist Gegenstand vertrauensvoller Hoffnung, nicht aber einer ihrer selbst sicheren Heilsgewißheit. Die Tat Gottes in der Rechtfertigung überspringt nicht den freien Selbstvollzug des Menschen, sondern kommt gerade in der – die Selbstmitteilung Gottes annehmenden –Freiheitstat des Glaubens, Hoffens und Liebens zu ihrer Wirksamkeit. Darum geht diese gottgeschenkte und angenommene Gerechtigkeit durch das schwer schuldhafte Sichversagen des Menschen gegenüber der göttlichen Liebe verloren. Insofern die Rechtfertigung am Menschen (als geschichtlichem Wesen) ereignishaft geschieht, ist sie ein wahrhaft radikaler Übergang vom Zustand der Sünde in den der Rechtfertigung, so sehr der Mensch von der Sünde angefochten bleibt (Begierde, Simul iustus et peccator). Der Mensch ist einer sicheren subjektiven Reflexion über seinen Zustand vor Gott nicht fähig; er sündigt auch immer und bleibt unter diesen Aspekten immer derjenige, der von seiner eigenen Verlorenheit zur Gnade Gottes flieht. Da der menschliche Heilsweg geschichtlich verläuft, können der Rechtfertigung Akte der Vorbereitung vorausgehen, die durch Gottes Gnade ermöglicht sind (wie Glaube und „unvollkommene“ Reue), und kann durch Gottes Gnade die Bewahrung bzw. Mehrung der Rechtfertigung den Menschen immer umfassender in Anspruch nehmen (das wird in katholischer Sprache dann u. a. mit Verdienst und guten Werken bezeichnet).

Ökumenisch konsensfähig sind die Aussagen, dass Menschen allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Jesu Christi, nicht aufgrund eines Verdienstes, von Gott angenommen werden und den Heiligen Geist empfangen, der die menschlichen Herzen erneuert und Menschen befähigt und aufruft zu guten Werken. Eine am 31. 10. 1999 in Augsburg feierlich unterzeichnete römisch-katholische und evangelisch-lutherische Konsenserklärung zur Rechtfertigung geriet alsbald in eine heftige, nicht beendete theologische Kontroverse hinein.

Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder

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