In der Theologie bezeichnen Verstand und Vernunft das durch Transzendenz (Geist) gekennzeichnete geistige Erkenntnisvermögen des Menschen und damit seine unausweichliche Verwiesenheit auf Gott, die auch dann noch existiert, wenn ein Mensch sie leugnet. Dieses eine Erkenntnisvermögen des Menschen kommt bewusstseinsmäßig zu sich selber und damit zu seiner Transzendenz, indem es sich (notwendig) dem sinnlich Anschaulichen, der „Vorstellung“, dem „Bild“ und damit der Konkretheit menschlicher Erfahrung und Erkenntnis zuwendet, wie sie in der Gesellschaft und ihrem kulturellen Gedächtnis gegeben ist. Dieses eine Vermögen ist begrifflich und schlussfolgernd („diskursiv“) und zugleich „intuitiv“, weil es nicht nur hingewendet zum sinnlich Anschaulichen denkt, sondern – indem es seiner eigenen Transzendenz inne wird – zu höchsten „metaphysischen“ Einsichten gelangt, die ursprünglich und unableitbar sind.
Mit dem Wesen des Menschen als Person ist es gegeben, dass der Grundvollzug seines Verstandes wesentlich auch auf den Grundvollzug seines Willens bezogen ist. Beide Grundvollzüge zusammen machen den einen Selbstvollzug des menschlichen Geistes aus (so wie in analoger Weise zwei und nur zwei „Hervorgänge“ und Möglichkeiten der Selbstmitteilung in der göttlichen Trinität erkannt werden). In der Sicht der katholischen Theologie nimmt der Verstand, das vernünftige Denken des Menschen, nicht „nachträglich“ Stellung zu einer ohne menschlichen Verstand ergangenen Offenbarung Gottes. Vielmehr ist dieses menschliche Erkenntnisvermögen in der ganzen Breite seiner Wirklichkeit und in der ganzen Vielfalt seiner Aspekte von der Offenbarung Gottes angerufen. Angerufen wird das Erkenntnisvermögen in seiner Transzendentalität durch die Gnade, in seiner Verwiesenheit auf die Welt und das sinnlich Anschauliche durch die Erfahrbarkeit Gottes in der Geschichte und durch das Wort der Verkündigung (das als menschliches Wort erscheint), in seiner Gesellschaftlichkeit durch die kirchlich-kommunikative Gestaltwerdung der Offenbarung, in seiner geschichtlichen Entwicklung durch die Geschichte des Glaubensbewusstseins der Kirche, in seiner „diskursiven“ Rationalität durch den Wissenschaftscharakter der die Offenbarung reflektierenden Theologie. Von da her versteht sich die katholische Überzeugung, dass Glaube und Vernunft sich nicht widersprechen, sondern gegenseitig positiv beeinflussen.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder