Im Begriff Wahrheit ist zunächst eine Alltagsbedeutung enthalten, die Übereinstimmung einer Aussage mit dem von ihr gemeinten Sachverhalt. Davon unterscheidet sich das philosophische und theologische Verständnis von Wahrheit. Geistesgeschichtlich existiert eine zeitlose „Frage nach der Wahrheit“ nicht, ebenso meinen nicht alle Sprachen mit ihren unterschiedlichen Begriffen für Wahrheit einfach „dasselbe“.
Zur Geschichte
In der griechischen Philosophie galt vom 5. Jh. v.Chr. bis Plotin († 270 n.Chr.) die Aufmerksamkeit der Bemühung des Denkens um größtmögliche Übereinstimmung mit dem kosmischen göttlichen Geist, die darum möglich sei, weil ein ursprünglicher innerer Zusammenhang von Denken und göttlichem Logos (oder „nous“) bestehe. In der christlichen Theologie (Thomas von Aquin †1274) wurde dieses Übereinstimmungs-Denken aus dem Schöpfungsglauben begründet: Die menschliche Erkenntnis ist ebenso wie dasjenige, was sie erkennt, in ein und demselben göttlichen Geist begründet (erschaffen), daher ist Wahrheit „die Übereinstimmung der Sache und des erkennenden Denkens“ (wobei in dieser Definition nicht ausgesprochen wird, dass die Übereinstimmung aussagbar ist und daher grundsätzlich überprüfbar sein muss). Seit dem Nominalismus wird der Zusammenhang der Erkenntnis mit dem göttlichen Geist nicht mehr in die philosophische Diskussion über die Wahrheit einbezogen. Im 20. Jh. gilt die erstrangige Aufmerksamkeit vielmehr der Sprache, wobei sprachanalytische, semantische, logische und pragmatische Untersuchungen zu unterschiedlichen Wahrheitstheorien führen. Abgesehen von der Redundanztheorie, nach der prinzipiell auf die Begriffe „wahr“ und „falsch“ zu verzichten sei, sehen alle die „Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit“ als in der Sprache gegeben an. Eine gewisse Favorisierung gilt der Konsenstheorie, nach der ein Verfahren der dialogischen Wahrheitsfindung und das diskursive Auffinden einer Übereinstimmung von Wahrheitsansprüchen die Voraussetzungen dafür sind, dass eine Aussage allgemein als wahr anerkannt werden kann. Hinsichtlich bestimmter logischer Bedingungen dafür besteht ein Konsens: Eine Aussage muss im logischen Zusammenhang mit anderen Aussagen stehen, widerspruchsfrei sein, einen Bezug zu einem bestimmten Kontext haben (denn aus dem Zusammenhang gerissene Aussagen können nicht Anspruch auf Wahrheit erheben) usw. Ihre Geltung dauert an, bis sie durch eine andere, ihrerseits „verifizierte“ Aussage „falsifiziert“ wird.
Das religiöse „Sein in der Wahrheit“
Das einfache Bei-sich-selber-Sein eines Erkennenden (seine innere „Gelichtetheit“ im Sinn der „a-letheia“) kann als dessen Wahrheit verstanden werden. Diese ursprüngliche „Gelichtetheit“ muss nicht immer begrifflich-gegenständlich oder thematisch sein. Als Bedingung ihrer Möglichkeit enthält sie eine Erfahrung der Transzendenz des Geistes in sich, und in dieser Erfahrung ist eine Wahrheit gegeben, die in allen anderen Erfahrungen enthalten, also die umfassende Wahrheit und nicht eine unter vielen Wahrheiten ist. Diese Wahrheit ist identisch mit einem Verwiesensein auf Gott, ein schweigendes Sein vor Gott als dem abgründigen Geheimnis. Wird diese Wahrheit nicht verdrängt, emotional abgewiesen, sondern unbefangen angenommen, dann ist ein Mensch „in der Wahrheit“, er ist an die unbegreifliche Wahrheit, die ihn umfasst, hingegeben und so selber „wahr“gemacht, d.h. von sich selber befreit (Joh 8, 32).
Der religiöse Glaube sagt dem Menschen, dass er zu dieser freien Annahme seiner eigenen Transzendenz von sich aus nicht fähig ist, sondern dass sie wegen des allgemeinen Heilswillens Gottes durch dessen Gnade „erhoben“ ist, so dass die Annahme der eigenen Transzendenz zugleich die Annahme dessen bedeutet, dass das eigene Leben auf den sich in seiner Selbstmitteilung erschließenden Gott hingeordnet ist. Im Sinn des religiösen Glaubens besagt „Sein in der Wahrheit“ also die Bejahung der eigenen Hinordnung auf den Gott des ewigen Lebens, der „die Wahrheit“ schlechthin ist und der durch sich selber der Kreatur den absolut lichten und liebenden Besitz der Fülle der Wahrheit in der Anschauung Gottes schenken will.
Wahrheitsprobleme der Theologie
Wenn Theologie nicht Gott zum „Gegenstand“ hat, sondern ihre Aufgabe das Reden von Gott und die Überprüfung der Rede von Gott ist, dann ist sie primär auf die geglaubte Offenbarung Gottes bezogen. Stellt sich die Theologie der heutigen Wahrheitsdiskussion, dann bedeutet das a) dass ihre Sätze überprüfbar mit de Wortoffenbarung Gottes übereinstimmen und widerspruchsfrei sein müssen; b) dass ihre Sätze mit dem 3Konsens der Glaubensgemeinschaft im Verstehen der Wortoffenbarung übereinstimmen müssen; c) dass sowohl ihre Sätze als auch die Konsensaussagen der Glaubensgemeinschaft in Übereinstimmung mit gegenwärtigen Erfahrungen gebracht werden, jedenfalls nicht im Widerspruch zu diesen stehen; d) dass die Ansprüche der Offenbarung Gottes, Menschen zu praktischem Handeln zu bewegen, durch die Theologie in ihrer Bedeutung als Handlungsimpulse für die jeweils „heutige Situation“ ausgelegt werden müssen, damit die „Bewahrheitung“ umfassend, nicht nur auf der Ebene der Übereinstimmung, sondern auch auf der Ebene der Praxis erfolgt. Diese Bewahrheitung ist immer ein Geschehen, verbunden mit einer Wegsuche unter dem Vorzeichen der im Wort Gottes enthaltenen Verheißungen.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder