1. Im ursprünglichsten Sinn ist der göttliche Logos das Wort Gottes schlechthin. In theologischer Sicht begründet und verwirklicht der göttliche Logos im höchsten und einmaligen Maß, dass das geistig Seiende aussagbar ist, dass es also die Möglichkeit hat, als Frucht dessen, dass es sich selber „besitzt“ und sich erkennt, sein „Wort“ als sein „Abbild“ und als seine „Aussage“ selber zu „setzen“. Weil Gott „immer schon“ die Möglichkeit der Selbstaussage in seinem Logos in und bei sich hat, ist jede Worthaftigkeit jedes Seienden für sich und für andere (im Beisich- Sein und in Aussagbarkeit) in ihm begründet, und zwar in dem wesentlich je verschiedenen („analogen“) Grad, der der Teilhabe des betreffenden Seienden am Sein entspricht. Diese in Gott existierende Möglichkeit ist auch der Grund dafür, dass Gott sich selber aussagend mitteilen kann. Der Glaube bekennt die Schöpfung als vom Wort Gottes geschaffenen Adressaten der Selbstmitteilung Gottes und als einmaligen Höhepunkt dieser Selbstmitteilung in der Geschichte die Inkarnation des Wortes Gottes.
2. Ergeht die Selbstaussage Gottes im gesprochenen menschlichen Wort, dann heißt dies in Kirche und Theologie „Wort Gottes“. Es umfasst die Botschaft der Propheten, die Verkündigung Jesu, der Apostel, der Kirche in ihrem Wort-Zeugnis, das Wort Gottes in der Heiligen Schrift. In der Sicht der theologischen Systematik hat das menschliche Wort Möglichkeit und Fähigkeit (Potentia oboedientialis), Wort Gottes zu sein, ohne dass das Wort Gottes schließlich doch nur menschliches Wort und den apriorischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis unterworfen bleibt. Gott bewirkt in der Sicht des Glaubens in dreifacher Weise, dass das menschliche Wort zugleich Wort Gottes sein kann:
a) Gott wirkt charismatisch (Charisma) so auf den Propheten ein, dass er das aussprechen kann, was Gott durch ihn dem Menschen sagen will; Gott kann mit der menschlichen Hilfe des Propheten wenigstens analog (Analogie) alles sagen, was Gott gesagt haben will, weil das Menschenwort als Wort des Geistes grundsätzlich keine solchen inneren Grenzen hat, durch die bestimmte Wirklichkeiten grundsätzlich außerhalb seines Horizontes bleiben würden.
b) Das von Gott beeinflusste Menschenwort ist von Gottes Gnade begleitet, so dass das glaubende Hören auf es von der Gnade, die Gott selber ist, ermöglicht und getragen wird; das so vernommene Wort ist nicht bloß menschlicher Erkenntnis ausgeliefert.
c) Das von Gott beeinflusste Menschenwort ist grundsätzlich ein wirksames Wort, weil die Gnade, von der es ermöglicht, getragen und beeinflusst ist, die „Sache“, von der geredet wird, gegenwärtig setzt, wirksam macht und dem Hörenden zu eigen gibt. Im kirchlichen Vollzug ereignet sich diese Gegenwart Gottes in seiner Gnade durch das Sprechen (Verkündigen) und gläubige Hören des Wortes Gottes in den Wortgottesdiensten und in den Sakramenten.
Hinsichtlich der grundsätzlichen theologischen Auffassung vom Wort Gottes im Menschenwort und seiner allein aus Gnade ermöglichten Wirksamkeit bestehen heute keine katholisch-evangelischen Differenzen mehr. Noch kein Konsens ist erreicht in der Frage der Auslegungskompetenz des Lehramts hinsichtlich der Offenbarung (wobei die Respektierung des von Gott im einzelnen Menschen vorgängig zu Lehrinterpretationen bewirkten Glaubenssinns eine Gesprächsbasis bietet), hinsichtlich des genauen Verhältnisses von Heiliger Schrift und kirchlicher Tradition (vgl. Sola Scriptura) und hinsichtlich der vom Wort Gottes offenbar nicht oder jedenfalls nicht direkt angesprochenen und ethisch verbindlich gedeuteten Probleme der komplexen heutigen Lebenswelt.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder