Das Gute, so lesen wir im berühmten Eingangssatz der Nikomachischen Ethik (= EN), ist das, „wonach alles strebt“ (1094a3), und das Glück (eudaimonia), so lesen wir wenig später, „das höchste aller durch Handeln erreichbaren Güter“ (1095a16 f.), also das höchste Ziel des menschlichen Strebens. Aber was sind die Voraussetzungen für eine solche teleologische Konzeption des Guten? Wie lässt sich die Gleichsetzung von Gütern und Strebenszielen begründen? Wie verhält sich die Bestimmung des Glücks als höchstes Strebensziel zu derjenigen, nach der das Glück in der Ausübung der spezifisch menschlichen Funktion (ergon) liegt? Welche Konsequenzen hat der teleologische Ansatz für unser Verständnis von Aristoteles’ Ethik im Ganzen? Diese und ähnliche Fragen zu beantworten, ist das Ziel der 2011 erschienenen Untersuchung von Philipp Brüllmann1 , die inzwischen auch in einer portugiesischen Übersetzung vorliegt2 .
Brüllmann (= B.) möchte ein Dreifaches zeigen: (1.) Aristoteles hat gerade kein unkritisches, vielmehr ein problembewusstes Verhältnis zur teleologischen Konzeption des Guten. (2.) Die entscheidenden Hinweise, um dieses Verhältnis zu rekonstruieren, finden sich nicht außerhalb der EN, sondern in EN I 1–5. Es muss also nicht auf eine externe (zum Beispiel naturphilosophische) Hintergrundtheorie zurückgegriffen werden. (3.) Der Ansatz beim Streben sollte nicht „psychologisch“ verstanden werden: Wenn Aristoteles vom Glück als dem höchsten Strebensziel spricht, dann liegt hier kein „Psychologischer Eudaimonismus“ vor, vielmehr ist die Identifikation konsequent „gütertheoretisch“ zu verstehen (VII, 4 f.). Den Kern seiner Arbeit bildet eine „gütertheoretische Lektüre“ von EN I 1–9: Nach B. entwickelt Aristoteles in EN I 1–5 eine „Theorie des Guten“, die dann die Grundlage für die Bestimmung der eudaimonia in I 6–9 ist. Eine Interpretation, die die Argumentation in diesen Kapiteln auf gütertheoretische Fragen bezieht, sei dem Text angemessener als mögliche Alternativen: Sie könne eine Reihe gängiger Interpretationsprobleme vermeiden und biete insgesamt ein kohärenteres Bild der Argumentation (6).
1. Das Problem der Verschiedenheit der Güter als Hintergrund von EN I
Sachlicher Ausgangspunkt der EN ist, dass die eudaimonia als das höchste menschliche Gut verstanden wird. Diese Identifikation spielt für die Herangehensweise in der Ethik eine wichtige Rolle: Eine Untersuchung des höchsten Guts bildet den Zugang zur Antwort auf die Frage, was die eudaimonia ist (16). Aber was bedeutet es, höchstes Gut zu sein? Aristoteles entwickelt in EN I 5 drei Kriterien, die die eudaimonia als höchstes Gut erfüllt: Sie ist erstens das, was stets um seiner selbst willen und niemals um etwas anderes willen erstrebt wird, sie ist zweitens autark, und drittens kann sie nicht durch Hinzufügung eines weiteren Guts verbessert werden. Ist ein Gegenstand denkbar, der alle drei Kriterien erfüllt, oder laufen diese Kriterien auf widersprüchliche Konzeptionen des höchsten Guts beziehungsweise der eudaimonia hinaus? Die herkömmliche Herangehensweise bemüht sich zu zeigen, dass Aristoteles eine konsistente Konzeption von eudaimonia vertritt: entweder in einem dominanten (ein einzelnes Gut, dem alle anderen Güter untergeordnet sind) oder in einem inklusiven (ein geordnetes Ensemble aller intrinsischen Güter) oder in einem beide Ansätze vermittelnden Sinn (21). Eine solche Herangehensweise führt aber nach B. zu einem verzerrten Bild von EN I: Aristoteles befindet sich in EN I 5 noch im Bereich des allgemein Anerkannten (1097a24 f., b22–24). Nach B. liegt es nahe, „die durch die Kriterien aufgeworfenen Schwierigkeiten nicht in Aristoteles’ Konzeption von eudaimonia zu suchen, sondern in der allgemein anerkannten Auffassung, dass die eudaimonia das höchste Gut ist“ (22). Es ist denkbar, dass in den verschiedenen Kriterien ein sachliches Problem zum Ausdruck kommt, das mit dem Begriff eines höchsten Guts zusammenhängt. Die verschiedenen Kriterien des höchsten Guts (höchstes Ziel, größte Gütersumme) sind von Kriterien des Besseren beziehungsweise des Guten abhängig. Wie aber kommt es zu so unterschiedlichen Kriterien des Guten? Es liegt nahe, diese als allgemein anerkannt anzusehen: „Auf eine näher zu bestimmende Weise wäre es allgemein anerkannt, dass Güter Ziele sind und dass sie sich addieren lassen.“ (26)
Um diese Aussage zu stützen, wendet sich B. den Topen zum größeren Gut in Rhet. I 7 zu. Diese enthalten verschiedene, auf anerkannten Meinungen basierende Kriterien, durch die beurteilt werden kann, welcher Gegenstand eines Paars der bessere ist, und hier ist unter anderem auch von Kriterien die Rede, die wir aus EN I 5 kennen. Dass es verschiedene, vielleicht auch unvereinbare Kriterien des Besseren gibt, ist also im Kontext der Rhetorik kein Problem. Es stellt sich die Frage, ob es nach Aristoteles ein gemeinsames Kriterium gibt, durch das sich alle anerkannten Güter als Güter identifizieren lassen. Im Hinblick auf EN I heißt das: Es ist nicht ohne Weiteres klar, was es bedeuten soll, dass etwas das höchste Gut ist. „Wenn wir von den Gegenständen ausgehen, die anerkanntermaßen für Güter gehalten werden, dann fällt es offenbar schwer, die Eigenschaft zu benennen, die alle diese Gegenstände gleichermaßen zu Gütern macht.“ (37) Diese Verschiedenheit der Güter wird zu einem Problem für die Formulierung eines Kriteriums oder einer Definition des Guten oder für einen Gütervergleich. Vor diesem Hintergrund ist jedes Kriterium des Guten begründungsbedürftig. Da aber Aristoteles keinen revisionistischen Ethikansatz vertritt, ist die Annahme begründet, dass Probleme, die sich aus der Verschiedenheit der anerkannten Güter ergeben, auch für die Ethik relevant sind; sie stehen einer Untersuchung, die vom Begriff des höchsten Guts ausgeht, im Wege (39).
2. Eine gütertheoretische Option
Dass und wie sich das Problem der Verschiedenheit der Güter und die Vielzahl möglicher Kriterien des Guten tatsächlich auf die Argumentation von EN I auswirken, zeigt B. anhand seiner „gütertheoretischen Lektüre“. Die beiden in EN I 2 angeführten Gruppen von gängigen Meinungen über das Glück – die „Vielen“, die etwas Sichtbares und Offenbares (etwa Lust, Reichtum, Ehre) für das Glück halten, und die „Intellektuellen“ oder „Weisen“, die neben den vielen Gütern ein Gut „an sich“ annehmen – stehen für zwei verschiedene gütertheoretische Ansätze: einen teleologischen Ansatz, nach dem das höchste Gut das oberste Strebensziel ist, und einen ontologischen (genauer: ideentheoretischen) Ansatz (44). Den teleologischen Ansatz führt Aristoteles in I 1 ein, benutzt ihn in I 3 und kommt auf ihn in I 5 zurück. Mit dem ideentheoretischen Ansatz als der „grundlegenden Alternative“ setzt er sich in I 4 auseinander.
Der Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Erstrebten am Beginn von EN I (1094a1–22) ist nach B. stipulativ zu verstehen; er ermöglicht einen Vergleich zwischen Gütern und führt zu einem Kriterium eines höchsten Guts. Was Aristoteles hier nicht bietet, ist eine Begründung der Gleichsetzung von Gütern und Zielen (was nicht heißt, dass Aristoteles überhaupt keine Argumente für eine solche Identifikation zur Verfügung stünden) und er verweist auch nicht auf eine Hintergrundtheorie: „Dem Text angemessener scheint es dagegen, von der Einführung einer gütertheoretischen ‚Option‘ zu sprechen, deren Status zunächst einmal offen bleibt“ (48). Der Abschnitt 1094a1–22 bietet nach B. auch keinen Beweis für die Existenz eines einzigen höchsten Guts oder Strebensziels, wie gängige Interpretationen annehmen, und er kann dies für sich genommen auch nicht leisten. Wenn man die Passage nicht auf dieses Argumentationsziel hin liest, lassen sich die bekannten Interpretationsprobleme (Quantorendreher, psychologischer Eudaimonismus, naturalistischer Fehlschluss) vermeiden. Die ersten Zeilen sollten ohne Rückgriff auf andere Texte oder Theoreme, vielmehr als „unabhängige und in sich geschlossene Argumentation interpretiert werden“ (54). Sie haben den Charakter einer Einleitung; es ist „der Beginn eines Proömiums, in dem geklärt wird, worum es in der Ethik geht und warum diese Untersuchung wichtig ist“ (57). Der Beginn von I 1 zeigt nach B. lediglich, wie sich die These „Die eudaimonia ist das höchste der Güter“ teleologisch ausdrücken lässt.
Die Kapitel I 2 und I 3 lassen sich als „Anwendung“ des teleologischen Ansatzes begreifen: Aristoteles führt vor, „welche Konsequenzen es nach sich zieht, wenn man der zu Beginn der Untersuchung stipulierten Güterkonzeption folgt“ (65). Der teleologische Ansatz scheint auf eine „relativistische“ Güterkonzeption, die von einer „subjektivistischen“ streng zu unterscheiden ist, hinauszulaufen, das heißt auf eine Vielzahl „gleichberechtigter“ höchster Güter, die sich je nach Relatum (ein Gut ist stets ‚ein Gut in Bezug auf x‘) voneinander unterscheiden, nicht aber qua Ziele (66 f.). Es stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien eine Prüfung der anerkannten Meinungen über das Glück (1095a28–30) möglich ist. Darauf antwortet die Analyse der Lebensformen in I 3. Hier zeigt sich aber: Während im Falle der Ehre und des Reichtums ein Kriterium des Guten zur Anwendung kommt, das auf dem teleologischen Ansatz basiert, ist dies im Falle der Lust (ein Leben der Lust ist „sklavenartig“), der Tugend (der Besitz der Tugend schließt Untätigkeit sowie Übel und Unglücksfälle nicht aus) und auch der Ehre (sie ist leicht verlierbar, nicht „etwas Eigenes“) gerade nicht gegeben: Hier sind also Kriterien des Guten im Spiel, die sich nicht auf den teleologischen Ansatz zurückführen lassen; es gibt Gegenstände, die zwar höchste Güter im Sinne höchster Ziele sind, andere Kriterien des Guten aber nicht erfüllen (68). „Wenn wir aber“, so B., „davon ausgehen, dass Aristoteles nach dem einen höchsten Gut sucht […], das möglichst alle Kriterien des Guten erfüllt […], dann lassen sich diese Eigenschaften als Schwierigkeiten begreifen, die eine Identifikation von Gütern und Zielen mit sich bringt.“ (68 f.) Anhand von EN I 1–3 lässt sich feststellen, dass Aristoteles den teleologischen Ansatz „wie eine gütertheoretische Option behandelt, die tatsächlich nicht allen Kriterien des Guten gerecht wird. Die Kritik der Lebensformen in Kapitel I 3 enthält die Situation einander widersprechender Topen zum Guten oder Besseren, wie sie auch in Rhet. I 7 vorgesehen ist“ (69). Das Kapitel I 3 endet damit, dass keines der hier identifizierten Dinge, die um ihrer selbst willen erstrebt werden, das gesuchte Gut (τὸ ζητούμενον ἀγαθόν) ist. „Eine weitere Differenzierung“, so B., „ist auf der Basis eines teleologischen Ansatzes offenbar nicht möglich“ (69).
Aristoteles wendet sich in I 4 zunächst der „grundlegenden gütertheoretischen Alternative“ zu, der platonischen Konzeption des Guten. Es scheint so, als hätte Aristoteles dem teleologischen Ansatz bereits prinzipiell den Vorzug gegeben; das abgetrennte Gute ist weder bewirkbar noch erwerbbar, „gerade ein solches aber wird gesucht“ (1096b34 f.). Diese Sicht wird aber nach B. der Rolle der Platonkritik nicht gerecht: EN I 4 ist kein Einschub, sondern hat eine wichtige Funktion im ersten Buch, es enthält eine „allgemeine gütertheoretische Pointe“ und ist für die Einschätzung des teleologischen Ansatzes von Bedeutung (71). In der Platonkritik möchte Aristoteles zum einen zeigen, dass es keine Idee des Guten gibt, zum anderen, dass sie, wenn es sie gäbe, für die Ethik nutzlos wäre. Da das Bestehen von Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten zwischen Einzeldingen eine notwendige Bedingung für die Annahme von Ideen ist, eine solche Gemeinsamkeit aber, wie Aristoteles nachweist, zwischen den Gütern nicht besteht (1096a27 f.; b25 f.), geht die platonische Konzeption des Guten von falschen Voraussetzungen aus. „Die als Güter bezeichneten Gegenstände sind ganz einfach zu unterschiedlich“ (76 f.). Da das Gute ein πολλαχῶς λεγόμενον ist, das heißt in unterschiedlichen Kategorien ausgesagt wird, kann es keine einheitliche Definition des Guten geben, die auf alle Güter gleichermaßen zutrifft. Dann stellt sich aber die Frage, „auf welcher Grundlage diese Gegenstände überhaupt alle als Güter bezeichnet werden“ (87). Wenn auch die „an sich“ erstrebten Güter (Ehre, Denken, Lust), insofern sie Güter sind, unterschiedliche Definitionen haben (λόγοι ᾗ ἀγαθά: 1096b23–25), dann bedeutet dies, dass auch die Eigenschaft, um seiner selbst willen erstrebt zu werden, keine gemeinsame Definition des Guten sein kann: „Eine Identifikation von Gütern und Zielen bietet keine Definition des Guten“ (89), also keinen Zugang zu einem Wissen über das Gute (47). Die verschiedenen Güter haben aber nicht zufällig denselben Namen; vielmehr entspricht der sprachlichen Gemeinsamkeit ein sachlicher Zusammenhang ‚unterhalb‘ der Gattungseinheit. Für diese besondere Art der Gemeinsamkeit führt Aristoteles drei Kandidaten an: ἀφ‘ ἑνὸς, πρὸς ἕν und κατ‘ ἀναλογίαν. Der Text lässt es offen, für welche Möglichkeit sich Aristoteles entscheidet, auch wenn die Analogie, also die Verhältnisgleichheit, „mit Vorzug erwähnt wird“3 (ἢ μᾶλλον κατ‘ ἀναλογίαν: 1096b28). Nach B. wird aber aus dem Kontext „schnell deutlich, welche Lösung Aristoteles präferiert“, nämlich die Gemeinsamkeit κατ‘ ἀναλογίαν (92). Das Muster zur Darstellung der Analogie – das heißt, verschiedene Dinge, die mit demselben Ausdruck bezeichnet werden, stehen zu jeweils Verschiedenem in derselben Beziehung4 – ist im Kontext des teleologischen Ansatzes omnipräsent (92). Die entscheidende metaethische These lautet also, dass Aristoteles die Gemeinsamkeit zwischen den als Zielen aufgefassten Gütern als eine Gemeinsamkeit „der Analogie nach“ betrachtet (94).5 Was folgt daraus für die Ethik? Würde zwischen den Gütern eine Gemeinsamkeit πρὸς ἕν vorliegen – das heißt, die verschiedenen Güter stünden in jeweils verschiedener Beziehung zu einem primären Bezugspunkt –, könnte sich die Untersuchung des Guten auf diesen Bezugspunkt konzentrieren; im Falle einer Analogie muss dagegen die Untersuchung „von einer Struktur ausgehen, die an prinzipiell gleichberechtigten Einzelfällen vorkommt“ (95). Die Darstellung und Untersuchung der Einzelfälle wird dadurch gerade nicht überflüssig: Im Blick auf die (jeweils verschiedene) Definition des Guten (λόγος ᾗ ἀγαθόν) ist die Gleichsetzung von Gütern und Zielen nachrangig; das Gutsein „hängt auf die eine oder andere Weise mit weiteren Eigenschaften des als gut bezeichneten Gegenstandes zusammen“ (100).
Wenn also Aristoteles am Anfang von EN I 5 zum teleologischen Ansatz zurückkehrt (1097a16 f.), so verfügt er nach B. über eine Einschätzung des am Beginn der Abhandlung stipulierten teleologischen Ansatzes, an die die weitere Untersuchung anknüpfen kann. Demnach bietet dieser Ansatz zwar die Möglichkeit, Güter miteinander zu vergleichen, und er stellt auch ein Kriterium des höchsten Guts bereit, bringt aber andererseits eine „relativistische“ Vielzahl heterogener Güter hervor, die, wie die Platonkritik gezeigt hat, lediglich durch eine analoge Gemeinsamkeit zusammengehalten werden. Es gibt außerdem weitere Kriterien des Guten, die bei der Bestimmung des „gesuchten Guts“ berücksichtigt werden müssen und denen höchste Strebensziele nicht genügen. „Aristoteles’ Verhältnis zum teleologischen Ansatz ist also alles andere als unreflektiert“ (102).
3. Die Bestimmung der eudaimonia
Wie kann innerhalb eines teleologischen Ansatzes dann überhaupt ein höchstes Gut bestimmt werden, das auch die anderen Kriterien des Guten erfüllt, das den „Relativismus der Güter“ überwindet und der relevanten Verschiedenheit der Güter gerecht wird? Nach B. sollen das ergon-Argument in I 6 und der Vergleich mit den gängigen Meinungen in I 8–9 eine Antwort auf diese Probleme geben (108). B. entwickelt seine Interpretation in Absetzung von einem „Psychologischen Eudaimonismus“ (= PsE), der I 1 anders liest und dementsprechend I 6–9 auf andere Fragen bezieht. Die Kernthese des PsE, der für B. als eine „Negativfolie“ fungiert, lautet: Alle tun alles um des Glücks willen. Dies wird als eine psychologische Tatsache verstanden (109).6 Wird der Beginn von I 1 in einer psychologischen Perspektive betrachtet, dann bezieht sich der Ausdruck „Ziel“ auf den Gehalt der Wünsche und Strebungen handelnder Personen. Bei der Identifikation des höchsten Ziels mit der eudaimonia ginge es dann letztlich um die Erklärung konkreter Handlungen und der Fortgang der Argumentation müsste zu dieser Handlungserklärung ins Verhältnis gesetzt werden. Auch der Begriff des Guten müsste in diesem Kontext verstanden werden: „Am Beginn der Nikomachischen Ethik würde es somit darum gehen, was handelnde Personen für gut, besser oder für das Glück halten und dementsprechend erstreben“ (113). Was Menschen für das Glück halten, ist aber letztlich kontingent (I 2). Wenn also der Beginn der EN einen handlungstheoretischen Kontext eröffnet, muss Aristoteles bei der Bestimmung der eudaimonia einerseits berücksichtigen, was handelnde Personen für die eudaimonia halten und faktisch erstreben (subjektive Perspektive), andererseits ist er aber zweifellos auch an einer objektiven Bestimmung der eudaimonia interessiert: Im ergon-Argument wird das Glück aus der Perspektive der dritten Person bestimmt (114). Das zentrale Problem für die Aristotelische Glückskonzeption würde folglich im Verhältnis von subjektiver und objektiver Perspektive liegen. Die Frage würde also lauten: Warum sollte jemand überhaupt nach dem streben, was die eudaimonia objektiv ist? Auf welche Weise kann die objektiv bestimmte eudaimonia dem Handelnden als eudaimonia erscheinen und so zum Ziel seines Handelns werden (115)?
Wie sich die Perspektive PsE auf die Beschreibung der Argumentation von EN I auswirkt, lässt sich am Übergang zum ergon-Argument und den damit verbundenen Irritationen in der Auslegung aufzeigen. Das grundsätzliche Problem besteht nach vielen Interpreten darin, wie sich die hier gegebene Bestimmung des Guten (das Gute liegt in der tugendgemäßen Erfüllung des ergon) zu der in I 1–5 (das Gute liegt in einem Strebensziel) verhält. In der Perspektive des PsE markiert das ergon-Argument einen Einschnitt oder einen Bruch im Verlauf der Argumentation, nämlich den Wechsel von der subjektiven Perspektive des Handelnden (was Menschen kontingenterweise erstreben oder wollen) zur objektiven Perspektive des ‚wahren Glücks‘ (was das Glück ist beziehungsweise was Menschen erstreben oder wollen sollten). Eine prominente Strategie, um diesen Bruch zu heilen, besteht in dem Nachweis, dass die Erfüllung des menschlichen ergon für jeden von uns eigentlich erstrebenswert ist, das heißt, „dass es etwas gibt, was aus der Sicht des Einzelnen für die Erfüllung des menschlichen ergon spricht, und zwar abgesehen davon, dass diese Erfüllung das beste menschliche Gut darstellt“ (120). Der Text legt mindestens zwei Optionen nahe, wie der objektive Glücksbegriff mit den tatsächlichen Strebenszielen verbunden werden kann. Nach der ersten Option liegt der Schlüssel zur Lösung im ergon-Argument selbst: Wenn Aristoteles davon spricht, dass für jeden Gegenstand (Flötenspieler, Bildhauer, Technik; Mensch), der ein ergon hat, das Gute (τἀγαθόν) und das „auf gute Weise“ (τὸ εὖ) in diesem ergon liegt (1097b25–28), dann kann der Ausdruck „das Gute für x“ im Sinne von „Das Gute zum Vorteil von x“ (dativus commodi) verstanden werden: Die Erfüllung des ergon wäre also für den Menschen vorteilhaft und daher auch erstrebenswert (122). Diese These kann als Ausdruck einer Hintergrundtheorie verstanden werden: Für Gegenstände, die ein ergon haben, ist es allgemein vorteilhaft, dieses ergon zu erfüllen (vgl. den Zusammenhang zwischen der Artzugehörigkeit eines Individuums und dem, was objektiv vorteilhaft für dieses Individuum ist). Nach der zweiten Option könnte der Vergleich mit den gängigen Meinungen in I 8–9 „eine Brücke vom Ergon-Argument zu den Strebenszielen handelnder Personen schlagen“, insofern hier die Kompatibilität der objektiven Glücksbestimmung mit den gängigen Auffassungen über die eudaimonia nachgewiesen wird. „Tugendhaft zu sein wäre deshalb erstrebenswert, weil seine Begleiterscheinungen dem entsprechen, was wir erstreben“ (123); zum Beispiel wäre ein tugendhaftes Leben lustvoll und daher für den Einzelnen erstrebenswert. Nach B. ist keine der beiden Optionen problemlos mit dem Text zu vereinbaren (126). In der alternativen, gütertheoretischen Perspektive, die B. entwickelt, gehört die Identifikation von Gütern und Zielen am Beginn der EN dagegen nicht in einen handlungstheoretischen, sondern in einen gütertheoretischen Kontext: „Bei der Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem obersten Ziel geht es nicht um die Erklärung konkreter Handlungen […], sondern um eine Darstellung der These, dass die eudaimonia das höchste Gut ist.“ (129) B. möchte nicht bestreiten, dass Aristoteles zur Erklärung von Handlungen einen teleologischen Ansatz vertritt: Am Beginn der EN geht es aber Aristoteles, so B., nicht um die psychologische Tatsache, dass Menschen mit ihren Handlungen Ziele verfolgen, sondern um die Beschreibung eines begrifflichen Zusammenhangs: „Es gehört zum Begriff des Ziels, Ziel von etwas zu sein“ und dieser Zusammenhang wird „aus der Perspektive der ‚dritten Person‘ hergestellt.“ (129) Die Gleichsetzung des Guten mit dem Erstrebten führt also einen gütertheoretischen Ansatz ein, der auf einer analogen Gemeinsamkeit beruht (129 f.). Da sich hier aber je nach Relatum (zum Beispiel menschliche Tätigkeiten, Personen, Lebensformen) stets weitere analoge Fälle, das heißt je eigene höchste Güter konstruieren lassen, Aristoteles aber davon ausgeht, „dass es eine richtige Antwort auf die Frage nach der eudaimonia gibt […], und da er analogen Gemeinsamkeiten kritisch gegenübersteht“, stellt sich die zentrale Aufgabe, „wie die eudaimonia innerhalb des gewählten Ansatzes überhaupt bestimmt werden kann“ (130).
Genau auf diese Aufgabe reagiert Aristoteles in EN I 6–9. Im ergon-Argument geht es darum, noch deutlicher zu sagen, was das Beste oder das höchste Gut ist (1097b23): Es ist als Fortsetzung der bisherigen Untersuchung des „gesuchten Guts“ (τὸ ζητούμενον ἀγαθόν: 1096a6 f., b34 f., 1097a15, 1098a20 f.) zu verstehen und markiert gerade keinen Wechsel in der Fragestellung (133). Wenn im ergon-Argument das gesuchte Gut als ein „menschliches“ bestimmt wird (τὸ ἀνθρώπινον ἀγαθόν), so ergibt sich die zentrale Frage, inwiefern dieses als genauere Bestimmung des gesuchten höchsten Guts begriffen werden kann; innerhalb eines teleologischen Ansatzes erschien ja gerade eine nichtrelativistische Bestimmung des höchsten Guts als Problem. Einziger Anhaltspunkt zur Lösung dieser Aufgabe ist nach B. die erste Prämisse des ergon-Arguments (1097b25– 28), da nur hier „über den Zusammenhang zwischen der Erfüllung des ergon und dem für den Menschen Guten gesprochen wird“ (134 f.). Neu ist hierbei „die These, dass es Personengruppen gibt, die als solche ein ergon haben“; kein neuer Gedanke ist, dass ein ergon als ein Ziel und damit als ein Gut bezeichnet werden kann (135). Innerhalb der These, dass im ergon des Menschen das für den Menschen Gute liegt, versteht B. den Dativ ἀνθρώπῳ (1097b28) nicht im Sinne des für den Menschen Vorteilhaften (dativus commodi), sondern bezieht ihn auf der Basis der Gütertheorie von I 1–5 „auf die Relation zwischen den Gütern und den ihnen zugeordneten Gegenständen“: So, wie in Bezug auf den Aulosspieler das Gute im Aulosspielen liegt, „so liegt das Gute in Bezug auf den Menschen (anthrôpôi) im ergon des Menschen“; das ἀνθρώπινον ἀγαθόν ist das Gut „in Bezug auf den Menschen“ (136).
B. kann mit seiner gütertheoretischen Lektüre also eine sehr einfache Antwort auf die zentrale Frage geben, inwiefern das „menschliche Gut“ als genauere Bestimmung des gesuchten Guts verstanden werden kann: Das ergon-Argument hält am teleologischen Rahmen von I 1–5 fest; es knüpft „nahtlos“ an die Vorgehensweise dieser Kapitel an. Es führt aber innerhalb dieses Rahmens eine neue Klasse von Gegenständen (Personengruppen, die als solche ein ergon haben) ein, auf die sich das Gute qua Ziel beziehen lässt. „Die eigentliche ‚Aufgabe‘ des Ergon-Arguments besteht zum einen in dem Nachweis, dass der Mensch zu der relevanten Gegenstandsklasse gehört, das heißt, dass er ein spezifisches ergon hat, und zum anderen in der Bestimmung dieses menschlichen ergon.“ Es wird hier „einer der zahllosen analogen Fälle herausgegriffen und einer genaueren Betrachtung unterzogen […]. Das menschliche Gut ist deshalb eine genauere Bestimmung des gesuchten (höchsten) Guts, weil es einen der Fälle bildet, die mit Hilfe des teleologischen Ansatzes identifiziert werden können.“ Das höchste Gut lässt sich innerhalb des teleologischen Ansatzes also „nur dadurch genauer bestimmen, dass man den entscheidenden Einzelfall betrachtet“, das heißt eines der relativen höchsten Güter herausgreift (137 f.). Damit ist die Funktion des ergon-Arguments für B. im Wesentlichen beschrieben. Es gibt für ihn keinen Grund, eine Hintergrundtheorie heranzuziehen, und es gibt auch keinen Bruch in der Argumentation (138–143). Wie aber kann, so lässt sich fragen, gezeigt werden, dass der herausgegriffene Fall der richtige ist? Warum ist gerade das „menschliche Gut“ das entscheidende höchste Gut? Das ergon des Menschen zur Bestimmung des höchsten Guts in den Blick zu nehmen, wird von Aristoteles als ein Vorschlag präsentiert (1097b24 f.), und als ein solcher Vorschlag muss auch die Konklusion des ergon-Arguments verstanden werden (144). Der Nachweis, dass es sich beim „menschlichen Gut“ tatsächlich um das „gesuchte Gut“ handelt, muss also noch erbracht werden. Genau das ist die Aufgabe von I 8–9: Beim Abgleich mit den gängigen Ansichten geht es „um die Richtigkeit der vorgeschlagenen Definition“ (145). Die Begründung der Richtigkeit der Glückskonzeption ist also dialektisch und nicht metaphysisch.
icht metaphysisch. Die gütertheoretische Lektüre erlaubt es im Gegensatz zum PsE, das erste Buch der EN als in sich geschlossenen Argumentationsgang zu begreifen. Die Fragen, welche die „Theorie des Guten“ in I 1–5 aufwirft, werden in I 6–9 beantwortet: Der „Relativismus“ des teleologischen Ansatzes wird nicht durch eine „absolute“ Konzeption des Guten7 überwunden, sondern dadurch, dass eines der relativen Güter herausgegriffen wird. Der relevanten Verschiedenheit der Güter wird dadurch Rechnung getragen, dass dieses herausgegriffene Gut genauer beschrieben wird. Anhand eines Vergleichs mit den gängigen Meinungen in I 8–9 ist zu überprüfen, ob das herausgegriffene Gut auch anderen Kriterien des Guten erfüllt (146). Aristoteles’ Glückskonzeption darf also nicht als Verbindung einer subjektiven und einer objektiven Perspektive verstanden werden; vielmehr geht es ihm ausschließlich um eine objektive Bestimmung der eudaimonia innerhalb eines teleologischen Rahmens (147).
4. Ist die Ethik des Aristoteles eine normative Ethik?
Was folgt aus der gütertheoretischen Lektüre für die Frage, wie die Aristotelische Ethik als „ethische Theorie“ zu charakterisieren ist? Handelt es sich um einen moralphilosophischen Ansatz, der sich als eine systematisch attraktive Alternative in die Debatten zeitgenössischer Ethik einbringen lässt? B. nimmt zwei Aspekte der Aristotelischen Ethik in den Blick: Zum einen betrachtet er den Zusammenhang zwischen Glück und Tugend, der sich auf die Grundsatzfrage „Warum moralisch sein?“ beziehen lässt, zum anderen den Aspekt, dass der Tugendhafte Maßstab des richtigen Handelns ist, der sich auf die Grundsatzfrage „Was soll ich tun?“ beziehen lässt. Nach B. beruhen allerdings beide Verknüpfungen, die sich erst einmal nahelegen, auf einem Missverständnis: „Der Zusammenhang zwischen Glück und Tugend dient bei Aristoteles nicht dazu, Gründe zu benennen, die für moralisches Verhalten sprechen, und der Verweis auf den Tugendhaften dient nicht dazu, Kriterien des moralisch Richtigen zu formulieren.“ (150) Eignet sich der in EN I hergestellte Zusammenhang von Glück und Tugend als Grundlage für eine „eudaimonistische Antwort“ auf die Frage, warum wir moralisch sein sollen, das heißt ob es Gründe gibt, die dafür sprechen und uns auch dazu motivieren können, das moralisch Richtige zu tun? Wenn die gütertheoretische Lektüre von EN I richtig ist, dann muss diese Frage verneint werden. Das ergibt sich aus der Zurückweisung des PsE: Die These, dass die eudaimonia ein höchstes Ziel ist, ist keine psychologische oder handlungstheoretische Aussage, wie es das „Glücksargument“ annehmen muss, sondern eine primär gütertheoretische Aussage: Sie trägt zum Verständnis dessen bei, was es heißt, dass die eudaimonia das höchste Gut ist, indem sie einen teleologischen Rahmen vorgibt. Sie betrifft aber nicht die Frage nach der Motivation des Handelnden. (159) Zwar ist nicht zu bestreiten, dass Aristoteles einen objektiven Zusammenhang zwischen Tugend und Glück behauptet und dieser Zusammenhang ein Grund dafür ist, tugendhaft zu handeln. „Ob aber dieser Grund auch dazu in der Lage ist, jemanden zu tugendhaftem Handeln zu motivieren, ist eine völlig andere Frage“, die nicht durch den Verweis auf das allgemeine Glücksstreben beantwortet werden sollte. (160)
Kann der Tugendhafte als Kriterium des moralisch richtigen Handelns betrachtet werden? Wie die moderne Tugendethik, so ist auch die Aristotelische Ethik akteurszentriert, das heißt, im Mittelpunkt der moralischen Beurteilung steht die handelnde Person: Tugendhaftes Handeln heißt nicht nur, etwas Bestimmtes zu tun, sondern dies auch in einer bestimmten Verfassung zu tun (1105a28–33). Zudem findet sich in der Aristotelischen Ethik eine „begriffliche Hierarchie“: Aristoteles behauptet, dass die für die Tugend wesentliche „Mitte in Bezug auf uns“ so ist, wie sie der Kluge bestimmen würde (1107a1 f.), das heißt, „dass eine Handlung genau dann moralisch richtig ist, wenn sich ein phronimos dafür entscheiden würde“ (167). Es wird nicht auf eine allgemeine Regel verwiesen, sondern auf das Urteil einer Person. B. kann zeigen, dass sich bei der Interpretation des Aristotelischen Textes genau die beiden Probleme stellen, die sich ebenfalls für die moderne Tugendethik ergeben: (i) Auch für Aristoteles gibt es per se falsche Handlungen (Ehebruch, Diebstahl, Mord: 1107a9–15). Wie wären solche Handlungen zu beurteilen, wenn sich ein Tugendhafter für sie entscheiden würde? Wenn man hier entgegnen würde, ein solcher Fall wäre per definitionem ausgeschlossen, weil der Tugendhafte per definitionem die richtige Entscheidung träfe, wäre der Begriff des tugendhaften Menschen nicht mehr der primäre, oder aber die Definition des Tugendhaften wäre zirkulär, da seine Definition die Unterscheidung zwischen moralisch Richtigem und moralisch Falschem schon voraussetzen würde (165, 168). (ii) Es ist bei Aristoteles schwierig, „eine Bestimmung des Tugendhaften zu gewinnen, die nicht auf dessen (moralisch) richtiges ‚Verhalten‘ […] zurückgreift“, also ein „moralunabhängiges“ oder deskriptives Merkmal zu seiner Identifizierung zu finden (168). Die Entscheidungen des Tugendhaften sollen ja gerade das Kriterium des moralisch Richtigen sein. Dann aber darf dessen Bestimmung nicht schon den Begriff des moralisch Richtigen voraussetzen. Für dieses Problem gibt es zwei Lösungsansätze: Entweder es wird wie in der kommunitaristischen Interpretation eine deskriptive und nicht-zirkuläre Bestimmung des Tugendhaften zu rekonstruieren versucht, oder ein „moralexternes“, deskriptives Kriterium wird überhaupt zurückgewiesen. (169 f.)
Hinter beiden Strategien steht, so B., ein vergleichbares Anliegen: Sie behandeln „den Tugendhaften als Aristotelisches Äquivalent eines moralischen Prinzips“ (170). Gegenüber solchen Ansätzen schlägt B. eine grundsätzliche Alternative vor: Der Zusammenhang zwischen dem moralisch Richtigen und der Entscheidung des Tugendhaften ist trivial; es ist trivialerweise wahr, dass der Tugendhafte immer richtig handelt. Dennoch verbindet sich mit der Einführung des Tugendhaften als Maßstab eine Pointe, insofern sich durch ihn eine mit dem teleologischen Ansatz verbundene Schwierigkeit löst (170). B. bezieht sich auf EN III 6, wo Aristoteles vom Tugendhaften als „Richtschnur und Maßstab“ spricht. Mit dem Bezug auf den Tugendhaften soll hier kein Kriterium des moralisch Richtigen gegeben, sondern eine dilemmatische Konsequenz vermieden werden. Der Verweis auf den Tugendhaften ermöglicht es, „den Unterschied zwischen dem Guten und dem scheinbar Guten zu berücksichtigen, ohne die grundsätzliche Identifikation des Guten mit dem Gewünschten aufzugeben“ (175).
Was folgt aus all dem für die Frage, wie die Aristotelische Ethik als „ethische Theorie“ zu charakterisieren ist? Wer die EN als normative Ethik zu interpretieren versucht, sollte, so B., nicht bei den beiden Aspekten ‚Glück und Tugend‘ und der ‚Tugendhafte als Maßstab‘ ansetzen. Es dürfte überhaupt fraglich sein, ob sich die EN als eine normative Ethik interpretieren lässt (180). Aristoteles betont zwar das praktische Anliegen (1095a5 f.); dennoch lassen sich weite Teile seiner Untersuchung einem deskriptiven Projekt zuordnen (Was ist Glück? Was ist Tugend? Was ist Freundschaft? etc.). Dass seine begrifflichen Bestimmungen mit einem normativen Vokabular arbeiten, ist nicht überraschend. „Eine weitergehende inhaltliche Fixierung des Richtigen scheint dagegen nicht das Anliegen des Aristoteles zu sein.“ Wenn das Bild, das B. mit seiner Interpretation zeichnet, zutreffend ist, „dann wäre grundsätzlich zu fragen, ob die Aristotelische Ethik als eine normative Ethik begriffen werden kann und ob es angemessen ist, sie als Alternative zu anderen normativen Ethiken ins Spiel zu bringen“ (183).
5. Kritische Rückfragen an die Interpretation
Die von B. vorgelegte Interpretation von EN I 1–9 zeichnet sich durch Konsistenz, Kohärenz und Sparsamkeit, zudem durch eine außerordentliche Transparenz in der Vorgehensweise und nicht zuletzt durch eine gewisse Eleganz aus. Sie löst zweifellos den Anspruch ein, näher am Text zu sein als viele andere Interpretationen. Sie beruht auf einer genauen Lektüre des Textes und geht in jedem Kapitel äußerst kleinschrittig und sensibel vor. Die Interpretationen einzelner Passagen und Kapitel (zum Beispiel I 1, 1094a1–22; I 4; I 6; III 6) sind ausgesprochen subtil. Zugleich erhebt sich aber die Frage, ob einige dieser Vorzüge nicht vielleicht durch eine zu starke Fokussierung auf das erste Buch der EN, und hier wiederum auf EN I 1–9, und die Ausklammerung anderer wichtiger Texte erkauft sind. Das möchte ich an den folgenden Punkten verdeutlichen.
5.1 Das Gute: pros hen oder Analogie?
In der Frage, wie die nicht-zufällige Homonymie des Guten zu denken ist, sollte man respektieren, dass Aristoteles in EN I 4 die Alternative zwischen ἀφ‘ ἑνὸς und πρὸς ἕν einerseits sowie κατ‘ ἀναλογίαν andererseits offenlässt und sich nicht explizit auf eine der genannten Möglichkeiten festlegt. Es ist richtig, dass es Indizien gibt, die für die Analogie sprechen. Die Darstellung der Güter funktioniert, wie B. zu Recht herausarbeitet (92 f.), immer nach dem gleichen Muster: Das Gut A verhält sich zu Kunst/Handlung C wie das Gut B zu Kunst/Handlung D; „es scheint nämlich je nach Handlung und Kunst ein anderes zu sein“ (1097a16 f.). Es gibt aber ebenfalls Indizien, die für eine πρὸς ἕν-Einheit des Guten sprechen. Auch wenn Aristoteles kein radikaler Revisionist ist, der die allgemein anerkannten Güter zu bloßen Scheingütern erklärt, spricht er an einigen Stellen doch so, als ob es eine primäre Instanz des Gutseins gibt, auf die hin beziehungsweise von der her anderes Seiendes in seinem Gutsein verstanden werden kann. Schon das „Kategorienargument“ in I 4 (1096a23–29) weist auf ein solches Abhängigkeitsverhältnis hin. Besonders deutlich wird dies im Schlussabschnitt des ‚Glückstraktats‘ des ersten Buchs, in I 12, 1101b35–1102a4. Dieser Abschnitt wird von B. leider zu wenig berücksichtigt (lediglich im Zusammenhang mit dem PsE erwähnt er die Stelle). Hier bezeichnet Aristoteles die eudaimonia als ein Prinzip: „Denn ihm zuliebe tut jeder alles Übrige, das Prinzip und die Ursache der Güter (τὴν ἀρχὴν δὲ καὶ τὸ αἴτιον τῶν ἀγαθῶν) aber halten wir für etwas Hochgeschätztes und Göttliches“ (1102a2–4; Übers. Wolf). Demnach ist das Glück nicht nur das letzte Ziel menschlichen Handelns, sondern auch Ursache für das Gutsein all dessen, was auf es hingeordnet ist.8
Wäre die Analogie für Aristoteles das einzige Instrument, um die nicht-zufällige Homonymie des Guten genauer zu fassen, wäre eine solche Hierarchie der Güter9 nicht denkbar. In der Analogie stehen verschiedene Dinge, die mit demselben Wort bezeichnet werden, in jeweils identischer Relation zu Verschiedenem.10 Es gibt keinen Grund, warum die eine Relation der anderen Relation übergeordnet sein soll. Im Rahmen einer solchen „strukturellen Gleichheit“ oder „Gleichheit der Verhältnisse“ stehen die verschiedenen Aussageweisen vielmehr „im Prinzip gleichberechtigt nebeneinander“ (91). Wir wären also mit einer Vielzahl ‚relativer‘ höchster Güter konfrontiert, die sich mit Hilfe des teleologischen Ansatzes beliebig um weitere analoge Fälle erweitern ließen: „Die Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gut scheint zwangsläufig relativistisch auszufallen.“ (130) Das ist die Situation, die wir nach B. am Ende von I 3 vorfinden und die in I 4 ihre metaethische Deutung durch Aristoteles erfährt: Der teleologische Ansatz beruht auf einer Gemeinsamkeit κατ‘ ἀναλογίαν. Das „menschliche Gut“ in I 6 ist dann nichts anderes als einer der zahllosen analogen Fälle, die mit Hilfe des teleologischen Ansatzes gewonnen werden können. (137) Uns bleibt nichts anderes übrig, als diesen Fall „herauszugreifen“ und genauer zu untersuchen. Damit ist nach B. im Wesentlichen die Funktion des ergon-Arguments beschrieben. Die Konsequenz einer solchen Interpretation ist allerdings, dass die eudaimonia als das „gesuchte (höchste) Gut“ in einer eigentümlichen Weise „neben“ den anderen Gütern beziehungsweise Zielen menschlicher Tätigkeiten, Rollen, Lebensformen etc. liegt. Die Frage, wie sich die eudaimonia als „Prinzip und Ursache der Güter“ (1102a3 f.) zu diesen anderen intrinsischen Gütern verhält, lässt sich in einer solchen Interpretation nicht mehr beantworten.
Das Problem liegt m. E. in der Deutung des Zusammenhangs von I 3 und I 5: Es ist vollkommen richtig, dass in I 3 auch nicht-teleologische Kriterien des Guten zum Zuge kommen, dass es also Dinge gibt, die zwar höchste Güter im Sinne höchster Ziele sind, andere Kriterien des Guten aber nicht erfüllen. (68) Ich halte es aber für falsch, wenn B. schreibt, dass an diesem Punkt eine „weitere Differenzierung […] auf der Basis eines teleologischen Ansatzes offenbar nicht möglich“ ist, die Untersuchung also in eine „Sackgasse“ geraten zu sein scheint. (69) So, wie B. den Text liest, hat es den Anschein, als ob wir am Ende von I 3 hilflos vor einer Vielzahl relativer ‚höchster Ziele‘ stehen. Dagegen ist zu sagen, dass der teleologische Ansatz in I 5 weiter differenziert wird: Wenn es mehrere abschließende Ziele gibt, dann wird, so Aristoteles, dasjenige das „gesuchte Gut“ sein, was „am meisten abschließend“ ist (τὸ τελειότατον: 1097a30), das heißt was wir immer um seiner selbst willen und niemals um etwas anderes willen wählen.11 Dass der auf diese Weise differenzierte teleologische Ansatz hinreicht, um das „gesuchte Gut“ als eine betrachtende Tätigkeit (θεωρητική τις ἐνέργεια) zu identifizieren, davon scheint Aristoteles jedenfalls in X 7 auszugehen (1177b1–4). Wir befinden uns in I 5 also schon auf dem Boden der Aristotelischen Glückskonzeption und nicht erst im Raum allgemein anerkannter Kriterien des Guten. Das bedeutet dann aber auch, dass man als Interpret nicht umhinkommt zu fragen: Ist es denkbar, dass die eudaimonia als „Prinzip und Ursache der Güter“ mehrere „gleichberechtigte“ intrinsische Güter umfasst, oder ist sie ein einzelnes höchstes Gut, dem alle anderen intrinsischen Güter in verschiedener Weise untergeordnet sind? Im Gegensatz zu B. (22) möchte ich die These vertreten, dass diese Frage im Zentrum der Aristotelischen Glückstheorie verwurzelt ist. Aristoteles versucht tatsächlich, eine komplexe Theorie der eudaimonia zu entwickeln, die die unterschiedlichen Kriterien integrieren kann (vgl. X 7, 1177a12–b15). Das „menschliche Gut“ liegt nicht „neben“ den anderen intrinsischen Gütern, sondern ist diesen in einer bestimmten Weise übergeordnet.
Kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: Nach meiner Auffassung spricht vieles dafür, im Fall des Guten sowohl die πρὸς ἕν-Einheit als auch die Analogie für zutreffend zu halten.12 Die „an sich“ erstrebten Güter (zum Beispiel Ehre, Denken, Lust) sind verschieden, insofern sie Güter sind (διαφέροντες οἱ λόγοι ταύτῃ ᾗ ἀγαθά: I 4, 1096b24 f.), das heißt, dass es für sie jeweils verschieden ist, was es heißt, gut zu sein. Sie sind, wie B. zu Recht sagt, nur der Analogie nach die gleichen, nämlich als um ihrer selbst willen erstrebte Ziele.13 Es spricht aber nichts dagegen, diesen „an sich“ erstrebten Gütern jeweils verschiedene derivative Güter in Form einer πρὸς ἕν-Relation zuzuordnen, das heißt Güter, die das jeweilige „an sich“ erstrebte Gut hervorbringen, bewahren, dessen Gegenteil verhindern etc.14 Es spricht auch nichts dagegen, intrinsische Güter ihrerseits in eine besondere Relation zu setzen zu einem noch „zielhafteren“ Ziel (zum Beispiel I 5, 1097b4 f.; VI 13, 1145a8–11). Insgesamt scheint Aristoteles darum bemüht zu sein, ein intrinsisches Gutsein bestimmter Güter bei gleichzeitiger Hinordnung auf eine primäre Instanz des Guten zu denken.15
5.2 Eine ausschließlich objektive Bestimmung der eudaimonia?
Zentral für die „depotenzierte“ Interpretation des ergon-Arguments, wie sie B. entwickelt, ist, den Dativ in der ersten Prämisse nicht im Sinne des für den Menschen Vorteilhaften zu verstehen (dativus commodi), sondern auf die Relation zwischen Gütern und den ihnen zugeordneten Gegenständen zu beziehen (136). Dagegen spricht aber eine Passage in EN X 7 – ein Kapitel, das an das ergon-Argument anknüpft (1177a12 f.) und das zeigt, dass die betrachtende Tätigkeit die Kriterien für das höchste Gut in höchstem Maße erfüllt. Dort heißt es: „Denn was einem Lebewesen von Natur aus eigen ist, das ist jeweils für es das Beste und Lustvollste (κράτιστον καὶ ἥδιστόν ἐστιν ἑκάστῳ). Für den Menschen ist dies also das Leben gemäß dem Intellekt …“ (1178a5–7; Übers. U. Wolf mit Änderungen von St. H.). Wie überhaupt für jedes Lebewesen, das von Natur aus eine ihm eigene Tätigkeit hat, so ist auch für den Menschen die Erfüllung seines ergon sowohl in höchstem Maße gut als auch in höchstem Maße lustvoll. Genau diese Einheit von prudentiell Gutem, Lustvollem und moralisch Gutem stellt Aristoteles auch in EN I gegenüber der „delischen Inschrift“ heraus: „Das Glück ist also das Beste, Werthafteste und Erfreulichste (ἄριστον ἄρα καὶ κάλλιστον καὶ ἥδιστον), und diese Eigenschaften lassen sich nicht trennen […] Denn alle diese Eigenschaften kommen den besten Tätigkeiten zu; diese aber, oder eine – die beste – von ihnen, ist, so sagen wir, das Glück“ (I 9, 1099a24–31; Übers. Wolf). In EN I 9 beansprucht Aristoteles zu zeigen, dass sein objektiver Glücksbegriff das integrieren kann, was im Zusammenhang mit dem Glück von uns gesucht wird (τὰ ἐπιζητούμενα τὰ περὶ τὴν εὐδαιμονίαν: 1098b22 f.).
Es verwundert überhaupt, dass B. keine genauere Interpretation von EN I 8–9 vorlegt – dies umso mehr, als diese Kapitel in seiner Interpretation eine erhebliche Last zu tragen haben: Nimmt man seine rein gütertheoretische Lektüre ernst, dann hat der ganze Argumentationsgang, angefangen von der teleologischen Bestimmung des Guten in I 1 bis zur Konklusion des ergon-Arguments in I 6, einen hypothetischen, quasi ‚experimentellen‘ Charakter: Der teleologische Ansatz wird nach B. „lediglich stipuliert“; über seine genauere Begründung wird nichts gesagt (47);16 es handelt sich um eine „gütertheoretische Option“ (48). Mit dem teleologischen Ansatz wird zunächst nur ein „hypothetischer Kontext“ hergestellt (69, Fn. 55).17 Streng genommen muss dann auch die Konklusion des ergon-Arguments als Stipulation angesehen werden. (145) Da eine Begründung über das ergon-Argument selbst (im Sinne des objektiv Vorteilhaften) ausscheidet, kommt dem Vergleich mit den gängigen Meinungen in I 8–9 eine zentrale Bedeutung zu: Hier muss nachgewiesen werden, dass es sich tatsächlich um das „gesuchte Gut“ handelt, dass die vorgeschlagene Definition richtig ist. Die Interpretation müsste auch zeigen, wie die außer-teleologischen Kriterien des Guten (vgl. I 3) erfüllt werden.
5.3 Die Ethik als Prinzipienwissenschaft des Praktischen
Die grundsätzliche Frage, ob Aristoteles in seiner Glückskonzeption die Perspektive des Handelnden mit seinen (tatsächlichen oder opaken) Wünschen und Neigungen berücksichtigt, lässt sich an dem wiederkehrenden und für das Thema von EN I zentralen Begriff des „gesuchten Guts“ (τὸ ζητούμενον ἀγαθόν: 1096a6 f., b34 f., 1097a15, a29) veranschaulichen. Man kann das Problem auf die einfache Frage bringen: ‚Wer sucht hier was?‘ Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten: (i) Der einzelne Handelnde sucht nach dem wahren Glück, das heißt nach dem, was in Wahrheit sein tiefstes Verlangen und Streben erfüllt. Die Ethik belehrt ihn hierüber. (ii) Die Ethik sucht nach einer adäquaten Bestimmung des Begriffs eines „höchsten Guts“. Der Begriff als solcher ist klärungsbedürftig: Was heißt es, ein höchstes Gut zu sein? B. versteht das „gesuchte Gut“ durchgängig im rein objektiven Sinn von (ii).18 Die ‚Glücksabhandlung‘ von EN I hat für ihn einen rein gütertheoretischen Charakter. Eine Lektüre unter diesem Blickwinkel ist durchaus möglich; sie kann verglichen werden mit Aristoteles’ Projekt einer begrifflichen und methodischen Neukonzeption einer „Ersten Philosophie“ (ἡ ζητουμένη ἐπιστήμη). Aristoteles würde demnach in der EN so etwas wie eine ‚Prinzipienwissenschaft des Praktischen‘ entwickeln in strenger Analogie zu den drei „theoretischen Philosophien“ in Met. VI 1, 1026a18 f.19 Im Mittelpunkt einer solchen Grundlagenuntersuchung stünde aber nach B. nicht die Formulierung und Rechtfertigung eines höchsten Moralprinzips (vgl. Kant, GMS B XV), sondern – im Sinne des Prinzipienbegriffs von An. Post. I 2, 72a15–24– die Definition von Grundbegriffen und Grundannahmen des Praktischen und ihre Überprüfung an den anerkannten Meinungen. Wie damit allerdings die dezidiert praktische Zielsetzung dieser Untersuchung, die Aristoteles an mehreren Stellen betont (1094a23 f.; 1095a5 f.; 1103b26–29), eingelöst werden kann, bleibt nach wie vor offen.