Was ist Bewusstsein?

Zusammenfassung / Summary

Die Frage nach dem Bewusstsein wird von vier verschiedenen Schulen oder Richtungen behandelt, die sich aber wechselseitig kaum zur Kenntnis nehmen: 1) Naturalismus, 2) Phänomenologie, 3) Sprachphilosophie, 4) Bewusstseinsphilosophie. Den Naturalismus können wir weiter in zwei Versionen: unterteilen: a) empirische Neurowissenschaft, b) spekulativer Materialismus. 1a) ist unstrittig, während 1b) sich oft sehr weit von der Empirie entfernt (Dennett, Metzinger). Die Phänomenologie 2) geht auf Husserl zurück und artikuliert sich heute zumeist als Leibphilosophie (Merleau-Ponty, Waldenfels), während 3) im Werk von Bennett und Hacker kulminiert. Die Bewusstseinsphilosophie 4) findet nach wie vor ihre Anhänger (Henrich, Frank). Keine dieser Schulen oder Richtungen ist unproblematisch, aber auch keine ohne positiven Gehalt. Gleichwohl bilden sie kein Ganzes, sondern eher eine Collage.  

The issue of consciousness is taken up today by different schools: 1) naturalism, 2) phenomenology, 3) philosophy of ordinary language, 4) philosophy of consciousness. 1) Naturalism comes in two versions: a) empirical neuroscience, b) speculative materialism. 1a) is uncontested, while 1b) often strays far from empirical science (Dennett, Metzinger). The founder of phenomenology was Edmund Husserl, but nowadays phenomenology is mostly construed as philosophy of the human body (Merleau-Ponty, Waldenfels). 3) culminates in the publications of Bennett and Hacker. Philosophy of consciousness 4) is still alive (Henrich, Frank). No one of these four positions is without problems but all of them contain some truth, but of such different kinds that we have no overall theory, but only something like a collage.  

1. Einleitung

‚Bewusstsein‘ ist eines der schwierigsten Themen überhaupt, weil es im Grunde unfassbar ist. Man nennt es auch gerne ‚durchsichtig‘. Das heißt, dass wir zwar mittels des Bewusstseins erkennen, nicht aber dieses selbst. Zudem ist Bewusstsein privat. Habe ich Zahnschmerzen, so habe ich Zahnschmerzen, und niemand kann wissen, wie es sich für mich anfühlt, Zahnschmerz zu haben. Man nennt das auch ‚qualitatives Erleben‘ oder kurz ‚Qualia‘. Zu unseren eigenen Bewusstseinszuständen haben wir einen privilegierten Zugang, der unkorrigierbar ist, das heißt, für solche Zustände ergibt die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung keinen Sinn mehr. Hier gilt wirklich Berkeleys „esse est percipi“. Thomas Nagel hat in seinem berühmten Aufsatz über die Befindlichkeit der Fledermäuse hinzugefügt, dass es immer irgendwie ist, sich in einem bestimmten Bewusstseinszustand zu befinden.1

Wollen wir über das Bewusstsein handeln, dann würden wir zunächst einmal gerne wissen, was es ist und welche Formen es annimmt. Michael Pauen hält die Was-Frage für unentscheidbar: „Eine nichtzirkuläre Definition scheint also kaum möglich, man muss offenbar bei der Verständigung über den Begriff des Bewusstseins schon eine unmittelbare Vertrautheit mit dem Phänomen selbst unterstellen.“2 In einem Sammelband, herausgegeben von der Berliner Philosophin Sybille Krämer zum Thema, schreibt ein Dutzend verschiedener Autoren so Verschiedenes, dass nicht einmal zwei Positionen miteinander kompatibel sind.3 Es scheint schwierig festzustellen, was wir eigentlich unter ‚Bewusstsein‘ verstehen sollten. Was die Weisen des Bewusstseins anbelangt, so zählt Pauen vier davon auf: 1) Bewusstsein als Wachheit, 2) intentionales Bewusstsein, 3) phänomenales Bewusstsein, 4) Selbst-Bewusstsein (= Identitäts-Bewusstsein über die Zeit hinweg), aber auch die Gewissheit, man selbst zu sein.4

Aber hier beginnen schon die Schwierigkeiten. Manche Autoren bestreiten, dass Ich- und Selbstbewusstsein dasselbe seien. Man könne ohne Weiteres ein Bewusstsein von Bewusstseinszuständen haben, ohne dass gleich ein Ichbewusstsein mit im Spiel sein müsse. Umgekehrt gibt es eine mächtige Tradition von Fichte bis Manfred Frank, die unterstellt, dass alle Formen des Bewusstseins immer vom Ichbewusstsein begleitet seien. In diesem Fall fächern wir das Bewusstsein ‚von oben‘, das heißt von seinem höchsten Punkt her, als Ichbewusstsein auf. Umgekehrt baut der Philosoph Jesse Prinz das Bewusstsein ‚von unten‘ her auf und behauptet, dass es eigentlich nur QualiaBewusstsein gebe und dass alle ‚höheren‘ Formen lediglich Modifikationen davon seien.5 Eine solche Position vertritt auch John Searle. William Lycan unterscheidet allein acht (!) Arten von Bewusstsein.6 Da scheint es naheliegend, mit Colin McGinn anzunehmen, dass das Bewusstsein für uns Menschen ein ewiges Rätsel bleiben müsse.7 Andererseits kann Vernunft nicht darauf verzichten, Licht ins Dunkel zu bringen, und selbst, wenn vieles unklar bleiben muss, so ist doch schon ein geringer Erkenntnisgewinn besser als vorschnelle Resignation, die immer auch etwas Bequemes an sich hat. Versuche, das Bewusstsein wenn nicht zu erklären, so doch wenigstens aufzuklären, gibt es viele. In diesem Artikel unterscheiden wir 1) Naturalismus, 2) Phänomenologie, 3) Sprachphilosophie, 4) Bewusstseinsphilosophie. Das Missliche dieser vier Richtungen ist, dass sie sich wechselseitig kaum zur Kenntnis nehmen. Thomas Metzinger zum Beispiel brachte einen Sammelband „Bewusstsein“ von über 700 Seiten heraus, in dem er weltweit alles versammelt, was Rang und Namen hat, aber nur Autoren mit einer naturalistischen Grundeinstellung. Alles Übrige wird ignoriert.8 Dieses Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen ist aber keine Spezialität der Naturalisten. Die Phänomenologen nach Husserl kümmern sich ihrerseits weder um den Naturalismus noch um die Bewusstseinsphilosophie, und ein Sprachphilosoph wie Ernst Tugendhat lässt einen Bezug zum Naturalismus vermissen. Umgekehrt wird einer der prominentesten Bewusstseinsphilosophen der Gegenwart, Manfred Frank, von den Philosophen anderer Richtung fast vollständig ignoriert, wobei er sich selbst große Mühe gibt, die Kollegen der anderen Richtungen zu berücksichtigen. Die vorliegende Darstellung bemüht sich, die vier genannten Richtungen zu skizzieren, um einen Überblick über das zu gewinnen, was sonst beziehungslos nebeneinander steht.9

1.1 Der Naturalismus

1.1.1 Die Neurowissenschaft

Der Naturalismus bezüglich des Bewusstseins zerfällt in zwei Richtungen: Da sind 1) praktizierende Neurowissenschaftler, die konkret-experimentell arbeiten, 2) mehr spekulative, materialistisch eingestellte Philosophen.

An sich verhalten sich die meisten Neurowissenschaftler distanziert zum Problem des Bewusstseins. Das liegt einfach daran, dass es so wenig konkret zu fassen ist. So gibt es Lexika der Neurowissenschaft, die fast nichts zum Thema ‚Bewusstsein‘ sagen,10 und selbst Wissenschaftler, die ‚Bewusstsein‘ explizit zum Thema machen, bleiben oft merkwürdig unentschlossen. So schreibt zum Beispiel Wolf Singer einen Artikel mit dem Titel „Vom Gehirn zum Bewusstsein“11, in dem zwar sehr viel über das Gehirn, aber praktisch nichts über das Bewusstsein steht.

Der Neurowissenschaftler Gerhard Roth vertrat ursprünglich eine streng naturalistische Position, wurde aber seit einiger Zeit etwas vorsichtiger. So verweist er in dem Buch, das er gemeinsam mit Nicole Strüber geschrieben hat, darauf, dass die Mehrzahl der Philosophen einem phänomenologischen Ansatz folgen, wonach das Bewusstsein nur durch Introspektion zugänglich sei. Dies war gewöhnlich das Gegenteil von dem, was der Empiriker für richtig hält. Aber Roth meint, dass der phänomenologische Ansatz prinzipiell nicht falsch sei, weil es Bewusstseinszustände gebe, die nur derjenige bemerkt, der sie hat. Aber dieser private Zugang sei nicht der einzige. Es gebe auch den Blick von außen. Bislang könnten wir jedoch nur notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen fürs Bewusstsein angeben. Ein Kausalverhältnis Gehirn – Geist werde lediglich „nahegelegt“. Ohne vorgängige Kenntnis der mentalen Zustände könnten wir sie aus dem Gehirn allein nicht ableiten. Geist und Bewusstsein seien „immaterielle physikalische Zustände“ usw.12 Gerade die letzten Bemerkungen verweisen auf einen Aspektedualismus, den die meisten Naturalisten ablehnen. Wenn es sich erweisen sollte, dass das Gehirn nur eine notwendige Bedingung für den Geist ist, dann wäre der Naturalismus ganz aufgegeben, denn dann gäbe es kein Supervenienzverhältnis mehr zwischen Gehirn und Geist. Es zeigt sich also, dass empirisch arbeitende Wissenschaftler oft sehr vorsichtig sind, was stark mit dem triumphalistischen Ton der materialistischen Philosophen kontrastiert, die wir im zweiten Teil behandeln werden. Zuvor seien noch einige weitere Beispiele empirisch arbeitender Wissenschaftler genannt.

Die Schwierigkeit beim Erfassen dessen, was wir ‚Bewusstsein‘ nennen, wird auch bei Francis Crick betont, der eng mit dem Neurowissenschaftler Christoph Koch zusammenarbeitete. Crick lässt von vornherein keinen Zweifel an seiner naturalistischen Grundüberzeugung. Aber er lässt 1) offen, dass auch das Gegenteil des Naturalismus wahr sein könnte,13 und 2) und vor allem beschränkt er sich ganz auf das visuelle Bewusstsein und lässt höherstufige Formen wie Selbstbewusstsein oder Ichbewusstsein beiseite. Das visuelle Bewusstsein sei experimentell am leichtesten zugänglich. Über Qualia werde er erst gar nicht reden. Es sei nämlich denkbar, dass das Problem der Qualia wissenschaftlich unlösbar bleiben müsse. Es sei bis jetzt „die richtige Art der Konzeptualisierung von Bewusstsein noch nicht entdeckt“14.

Cricks Kollege Christof Koch äußert sich ebenfalls sehr selbstkritisch: „Warum sich Qualia so anfühlen, wie sie es tun, bleibt ein Rätsel.“15 Ganz ähnlich hat sich Antonio Damasio geäußert. Er gesteht, dass er das Bewusstseinsproblem bisher nicht gelöst habe, und es sähe auch nicht danach aus, dass es so bald gelöst werden würde.16

Wir finden also bei praktizierenden Neurowissenschaftlern eine große Bescheidenheit und einen deutlich reduzierten Geltungsanspruch, der bemerkenswert mit der Sicherheit gewisser Neurophilosophen kontrastiert. Andererseits können wir erwarten, dass in der Neurowissenschaft immer mehr gesetzlich beschreibbare Zusammenhänge zwischen sensoriellem Input und Bewusstseinszuständen aufgedeckt werden, denn wenn es solche Kausalzusammenhänge nicht gäbe, hätten wir nicht überleben können. Sowohl Flucht- als auch Raubtiere sind schließlich darauf angewiesen.

1.1.2 Spekulative Neurophilosophie

Unter ‚Neurophilosophie‘ sollen hier die Überlegungen Analytischer Philosophen verstanden werden, sofern sie Naturalisten sind. In der „Stanford Encyclopedia of Philosophy“, die frei im Internet zugänglich ist, findet man unzählige Ansätze, die nur auszeichnet, dass sie fast nichts gemein haben. Man ist schon etwas überrascht zu sehen, dass der Naturalismus, der doch vorgibt, im besten Einvernehmen mit der Naturwissenschaft zu stehen, weder über ein einheitliches Explanandum, noch über ein einheitliches Explanans verfügt. Von Josh Weisberg gibt es eine gute, kompakte Einführung in die Analytischen Bewusstseinstheorien, an deren Ende er gesteht, dass wir heute einen ziemlichen Mischmasch verschiedenster Theorien vorfinden, und man könne höchstens hoffen, dass sie dereinst einmal zur Klarheit führen werden.17 Von daher ist es einigermaßen erstaunlich, wenn Thomas Metzinger ankündigt, uns stünde mit der Bewusstseinstheorie „eine der größten wissenschaftlichen Revolutionen der Menschheitsgeschichte“ bevor18.

Unter den Neurophilosophen ragt Daniel Dennett heraus,19 dessen Ansatz wir aber aus Platzgründen übergehen wollen zu Gunsten von Thomas Metzinger, der in Deutschland viel bekannter ist und dessen spekulativer Materialismus des Bewusstseins viele elementare Zirkel enthält, die wir auch bei Dennett finden würden. Das Problem bei Metzinger ist, dass er sich, im Gegensatz zu den Empirikern, umgehend an die höchsten Formen des Bewusstseins heranwagt, um sie zu naturalisieren.

Seine Vorstellung ist die, dass wir die Innen- und Betroffenenperspektive des Menschen von außen, das heißt von ihrem materiellen Seinsbestand, vollständig rekonstruieren können. Wir schauen sozusagen dem Gehirn zu, wie es uns und unsere Welt hervorbringt. Diese Position nennt er selbst „nemocentrism“.20 Metzinger gebraucht sehr eindrückliche Metaphern, um seine Position zu verdeutlichen: Demnach stecken wir alle in einem sogenannten „Ego-Tunnel“, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Eine andere seiner Lieblingsmetaphern bezieht sich auf den Flugsimulator. Angehende Piloten trainieren zunächst auf einem solchen Simulator, der keine Glasscheiben nach außen hat, sondern vielmehr Monitore, die eine virtuelle Welt hervorrufen, die so aussieht, als fl öge man wirklich. Zudem stehen diese Simulatoren auf hydraulisch angesteuerten Beinen aus Metall, die die auftretenden Belastungen beim Flug simulieren. Nach Metzinger stecken wir dauernd in einem solchen Flugsimulator, jedoch mit dem Unterschied, dass sogar unser Ich simuliert wird. Ein nicht-existierendes Ich sieht also eine Welt, die es auch nicht wirklich gibt; vielmehr wird all dies rein intern vom Gehirn erzeugt, aber wir bemerken es nicht.

Aber woher weiß es dann Metzinger? Wenn alle, auch Metzinger, immer und ausschließlich in einer virtuellen Welt stecken, wie könnten wir das dann wissen? Hilary Putnam hat das berühmte Gedankenexperiment mit den „Gehirnen im Tank“21 erfunden, wonach die Nervenenden eines Gehirns mit einem Supercomputer verbunden sind, der dem entleibten Menschen eine reale Welt vorgaukelt, die es gar nicht gibt. Das könnte er aber nur wissen, wenn seine Begriffe einen Außenbezug hätten. Entsprechend könnte nur der, der sich zeitenweise außerhalb des Tunnels oder des Flugsimulators befindet, beurteilen, dass er sich gewöhnlich in einem Tunnel oder einem Simulator aufhält.22 Es ist wie mit Platos Höhlengleichnis: Die Gefangenen erkennen die Höhle erst dann als Höhle, wenn einer von draußen hereinkommt und es ihnen sagt. Wenn wir nun die reine Immanenz des Ego-Tunnels ernst nehmen, dann ergibt sich für den Neurowissenschaftler eine absurde Situation. Da alles, was er wahrnimmt, eine Konstruktion seines Gehirns ist, wären auch die Gehirne, die er untersucht, lediglich seine eigenen Konstrukte. Sein Vorgehen wäre also zirkulär. Unter den Neurowissenschaftlern war es Gerhard Roth, der diese Zirkularität durchschaute und aufzuheben suchte:23 Man müsse zwischen ‚Realität‘ und ‚Wirklichkeit‘ unterscheiden. All unser Erkennen bezöge sich auf das Konstrukt ‚Wirklichkeit‘, während uns die dahinter liegende ‚Realität‘ für immer verborgen bleibe. Es gibt also ein ‚Gehirn-für-uns‘ und ein ‚Gehirn-ansich‘. Damit handelt sich Roth alle Aporien ein, die schon Kants Ding-an-sichVorstellung belastet hatten, denn wenn das „Ding-an-sich“ völlig unerkennbar ist, woher wissen wir dann, dass es existiert oder dass es sogar die Ursache der Erscheinungen ist?

Aber unabhängig davon werden doch nur wenige Neurowissenschaftler akzeptieren, dass die Gehirne, die sie untersuchen, lediglich ihre eigenen Konstrukte sind. Sie halten sie also für real. Das macht sich bei Metzinger so bemerkbar, dass er sehr oft den Modellcharakter des wissenschaftlichen Erkennens betont, was einen echten Realitätsbezug voraussetzt. Aber dann kann der Ego-Tunnel nicht wahr gewesen sein. Konstruktivismus und wissenschaftliches Erkennen schließen sich aus. Metzingers Konzept ist also vom Ansatz her zweideutig.

In seinem Buch über den Ego-Tunnel heißt es: „Es gibt einfach keinen unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit.“ Aber nur zehn Seiten später betont er, unsere Repräsentationen seien „Fenster zur Welt“. Später spricht er dann wieder von „Wirklichkeitserzeugung“. Das ist es auch, was wir im Flugsimulator erfahren: eine rein konstruierte Wirklichkeit, der nichts in der realen Welt entspricht, denn: „Der ‚Pilot‘ wird in eine virtuelle Realität hineingeboren und zwar ohne jede Möglichkeit, diese Tatsache zu entdecken.“24 Wie kommt es, dass Metzinger diesen Widerspruch zwischen Modell und Konstruktion nicht durchschaut, der doch ganz offen zu Tage liegt?

Der Grund scheint der zu sein, dass ein realistisches Wissenschaftsverständnis nicht ohne Subjektivität auskommen würde. Die These vom fiktiven Charakter des Ich ist nur dann haltbar, wenn Ich und Welt gleichermaßen Hirnkonstrukte sind. Ist aber unser Erkennen modellhaft, dann stellt sich sofort die Frage nach der Wahl der Modelle, denn ‚Modell‘ heißt doch, dass wir die Erfahrung, je nach Fragestellung, ganz verschieden deuten können. Das heißt, dass wir im kantischen Sinn ein spontanes, also ein bewusstes Subjekt voraussetzen müssen. Merkwürdigerweise erwähnt Metzinger die Spontaneität des Erkennens, wenn er betont, „dass wir die Welt immer nur unter Beschreibungen kennen“ und zwar auch in der Naturwissenschaft.25 Das hieße aber, dass die Möglichkeitsbedingungen von Wissenschaft Metzingers Konstruktivismus und dem vorgeblich fiktiven Charakter des Bewusstseins widersprechen.

Wir können also sagen, dass bei Metzinger das reale, bewusste Subjekt immer wieder nolens volens zu Tage tritt und bei näherem Zusehen ist das in verschiedenster Hinsicht der Fall. Seine Bücher wirken, gegen den Willen des Verfassers, wie eine Bestätigung der Generalthese Husserls, wonach wir ohne zugrundeliegende Subjektivität auch nicht intentional auf irgendwelche Objekte ausgerichtet sein könnten. Das wird schon deutlich in Bezug auf den Informationsbegriff, der bei Metzinger eine zentrale Rolle spielt. Metzinger spricht von einer „phänomenalen Informatik“26. Das hieße, dass unser Bewusstsein, Selbst- und Ichbewusstsein, letztlich nichts anderes wären als ein subjektloses, eshaftes Informationsgeschehen.

Bei der zentralen Stellung des Informationsbegriffs in seiner Systematik würde man nun erwarten, dass Metzinger diesen seinen Grundbegriff näher bestimmt; denn weniges ist mehrdeutiger als der Begriff der ‚Information‘. An einer bestimmten Stelle identifiziert er diesen Begriff mit dem der physikalischen ‚Negentropie‘27, aber das ist offenbar viel zu schwach, denn potenzielle Information ist in der Physik das Maß der Anzahl der möglichen Mikrozustände zu einem Makrozustand, was theorierelativ ist. Aus diesem Grund ist für die meisten Physiker Information nichts Objektives, sondern eine bloß subjektive Wissensrelation. Ähnlich ist es in der Biologie, wo viele Biologen die Anwendung des Informationsbegriffs auf die Gene für rein metaphorisch halten. Information, so gesehen, ist nichts Ontologisches.

In seiner Monographie zum Begriff der ‚Information‘ bezweifelt der Philosoph und Physiker Holger Lyre, dass wir diesen Begriff rein objektiv gebrauchen können: „Die Kernfrage ist, ob Information ohne Beobachter oder Subjekt gedacht werden kann“ – eine Frage, die er verneint.28 Ist aber dies der Fall, dann kann der Informationsbegriff nicht dazu dienen, Subjektivität aus der Welt zu schaffen. Die Schriften Metzingers sind also wider Willen lehrreich, weil bei ihm beständig die Unhintergehbarkeit von Subjektivität zu Tage tritt, die er doch eliminieren möchte.

Die leiblich-bewusste Präsenz des Menschen ist indexikalisch, also perspektivisch bestimmt. Wir beziehen uns immer auf ein konkretes Hier und Jetzt oder auf ein Du oder Wir. Solche Indexikalien kommen in der Physik nirgends vor. Thomas Nagel hat dies den „view from nowhere“ genannt. Der Physiker blickt auf die Welt, als blicke er nicht. Seine Theorien abstrahieren vom physisch-konkreten Standpunkt des Beobachters. Sie sind orts- und zeitinvariant.

Metzinger akzeptiert diesen neutralen „view from nowhere“. Es gebe eine „mittelpunktlose Abbildung der Welt“. Aber wenn dies der Fall ist, dann müsste er auf die konkrete Perspektivität des Bewusstseins verzichten. Indes versucht er, sie ‚wissenschaftlich‘ zu rekonstruieren. Aber dann hat diese Wissenschaft nichts mehr mit dem „view from nowhere“ zu tun, sondern sie muss Gebrauch von unserer natürlichen Lebenswelt und der viel verschrienen „folk psychology“ machen, die doch wiederum außer Kraft gesetzt werden sollte. Es nützt nichts, das Jetztbewusstsein für eine Illusion zu halten29, denn auch eine Illusion muss erklärt werden, und wenn das ‚Jetzt‘ in der Physik nicht vorkommt, dann kann auch die Illusion eines ‚Jetzt‘ nicht von dorther begründet werden – abgesehen davon, dass man nicht sehen kann, wie der Physiker ein Experiment durchführen sollte, ohne zu wissen, dass er es hier und nicht dort, jetzt und nicht etwa gestern, durchführt.

Bei Metzinger spielen technische Vergleiche, vor allem die Computermetapher, eine große Rolle. Da Technik die Möglichkeit zur Manipulation ist, würde ein rein technisch begriffener Mensch der manipulierte Mensch sein: „Wenn wir die Orte im Gehirn gefunden haben, wo die Willensregungen festgelegt werden, können wir sie manipulieren“, denn Willensfreiheit sei nur ein „subjektives Erleben“. Metzinger ergeht sich dann in weitläufigen ‚human enhancement‘-Phantasien, wonach „wir an unserem eigenen Tunnel ‚herumbasteln‘“ können: „Das phänomenale Erleben selbst wird schrittweise technisch verfügbar werden.“30

Aber nun geraten wir erneut in einen circulus vitiosus: So, wie die Wissenschaft ein Subjekt voraussetzt, das mit ihrer Hilfe nicht etwa aus der Welt geschafft werden kann, so setzt auch Technik ein solches Subjekt voraus, weil sonst jeder Anreiz fehlen würde, sie in Gang zu setzen. Abgesehen von der moralisch fragwürdigen Art, am eigenen Ego „herumzubasteln“, kann doch eine solche Manipulation nur dann Sinn haben, wenn wir uns frei dazu entscheiden können – eine Fähigkeit, die Metzinger dem Menschen abgesprochen hat. Ist diese Fähigkeit aber nicht gegeben, dann gibt es auch keinen ‚Bastler‘, der etwas ausrichten oder ‚verbessern‘ könnte.

Metzinger bemüht sich sogar, dem moralischen Handeln einen Ort in seinem Konzept zu geben. Aber was soll Moralität ohne Freiheit sein und ohne jemanden, der sie in Anspruch nimmt? In seinem Buch über „Subjekt und Selbstmodell“ spricht er von der „Würde informationsverarbeitender Systeme“ (das sind wir). Diese Würde komme dadurch zustande, dass wir den Mut hätten, einer naturalistischen Deutung des Menschen in seinem Sinne zuzustimmen.

Lässt sich Würde auf Grund rein theoretischer Einsicht ableiten? Würden wir zum Beispiel sagen, dass der Anspruch Darwins, der Mensch sei auch nur ein Tier unter Tieren, demjenigen, der ihn akzeptiert, aus eben diesem Grunde Würde verleihen, wo es doch umgekehrt so ist, dass der Begriff der ‚Würde‘ dadurch außer Kraft gesetzt wird, wenn wir auch nur Tiere wie andere Tiere sind? Das ist a fortiori der Fall, wenn wir Subjektivität ganz allgemein für einen reinen Rechenvorgang halten, denn: „Werden wir nicht errechnet, so gibt es uns nicht.“31 Hat jemand Achtung vor einem Kalkül? Dann noch eher vor einem Tier.

Wir seien, sagt Metzinger, Wesen, die die eigenen Handlungen rechtfertigen können. Dies bedeute, „dass wir uns über alle biologischen Imperative hinwegsetzen“32. Aber dann haben wir den Naturalismus gesprengt, denn Metzinger schärft uns doch immer wieder ein, dass das Bewusstsein ein bloßes Mittel der Evolution zu Zwecken sei, die außerhalb unserer selbst liegen: „Wenn man das naturwissenschaftliche Weltbild ernst nimmt, dann existieren so etwas wie ‚Ziele‘ nicht, und es gibt auch niemanden, der eine Handlung auswählt oder spezifi ziert.“ In diesem Sinn gebe es auch keine Werte. Ziele würden nur „halluziniert“ und mit ihrer Hilfe werde lediglich unsere Fitness maximiert.33 Aber dann sind wir auch nicht imstande, uns „über alle biologischen Imperative hinwegzusetzen“.

Metzinger legt den Menschen einerseits auf bloße Biologie fest, andererseits gesteht er ihm einen unabhängigen Standpunkt zu. In seinem Buch mit dem charakteristischen Titel „Being no One“ zieht er ganz zum Schluss das Fazit: „At least in principle, one can wake up from one’s biological history. One can grow up, defi ne one’s own goals and become autonomous.”34 Das heißt also: Die Einsicht in die eigene Substanzlosigkeit verleiht mir Autonomie und befähigt mich, mir neue Ziele zu setzen. Und das, nachdem Metzinger erklärt hatte, dass es Ziele überhaupt nicht gibt!

Es zeigt sich also: Solange wir empirisch arbeiten und ganz bestimmte, konkrete Leistungen des Gehirns, wie zum Beispiel die Wahrnehmung untersuchen, befinden wir uns auf dem Boden der Tatsachen. Wenn wir aber das Ich- oder Selbstbewusstsein kausal erklären oder vielmehr wegerklären wollen, dann können wir das nicht, ohne es ständig vorauszusetzen. Es gibt keinen „Nemozentrismus“, denn man muss jemand sein, um eine zentrierte Perspektive zu haben.

Noch radikaler als Metzinger sind die ‚eliminativen Materialisten‘, allen voran Paul und Patricia Churchland. Während bei Metzinger oder Dennett das Bewusstsein in seiner materialistischen Reduktion so erhalten bleibt, wie Druck und Temperatur eines Gases erhalten bleiben, wenn man sie molekularkinetisch deutet, bleibt bei den Churchlands nichts zurück. Das Bewusstsein ist einfach nur ein Irrtum. Paul Churchland vergleicht es mit der Vorstellung vom ‚Phlogiston‘, von dessen Existenz man noch im 18. Jahrhundert überzeugt war, oder er vergleicht es mit dem mittelalterlichen Hexenglauben.35

Diese Radikalposition wird aber nur von wenigen gehalten, denn sie ist extrem kontraintuitiv – muss doch das Bewusstsein eine positive Funktion in der Evolution gehabt haben, sonst hätten wir nicht überlebt. Selbst wenn es nur eine Sekundärwirkung des Gehirns wäre, müsste es doch wenigstens als solche real sein, sonst wären seine Träger ausgestorben. Wenn man also den Reduktionismus auf das Bewusstsein anwendet, dann muss es ein solcher sein, der das Phänomen bewahrt, nicht einer, der es eliminiert.

1.1.3 Der Protopanpsychismus

Da das Bewusstsein sich hartnäckig weigert, naturalisierbar zu sein, haben manche, allen voran David Chalmers, begonnen, seine Unreduzierbarkeit anzuerkennen, um aus einem Explanandum ein Explanans zu machen. Eine solche Verschiebung gab es auch früher schon, zum Beispiel zum Ende des 18. Jahrhunderts, als man vergeblich versucht hatte, Elektrizität mechanistisch zu erklären. Die Situation damals war so ähnlich wie heute. Die Physik Newtons war imstande, vom fallenden Apfel bis hin zu den Planetenbewegungen alles zu erklären, und es war einfach nicht einzusehen, weshalb die Elektrizität hier eine Ausnahme sein sollte. Aber allen heroischen Versuchen zum Trotz entzog sich die Elektrizität einer mechanistischen Erklärung. Man kam erst weiter, als man mit Coulomb die Ontologie der Physik erweiterte und die Elektrizität zur unableitbaren Grundkraft hinzurechnete. Diesen ‚shift‘ schlägt auch David Chalmers vor und zwar gerade mit Berufung auf die Entwicklung der Elektrizitätslehre. Er erweitert also die Ontologie um ein Erfahrungsmoment, das überall in der Natur vorkommen soll, wenn auch in den Atomen und Molekülen nur rudimentär (daher der Name ‚Protopanpsychismus‘). Allerdings wundert man sich etwas, dass für Chalmers Erlebnisqualitäten nun plötzlich relational sein sollen, wie das für alle physikalischen Kräfte gilt – war doch der nichtrelationale Charakter der Erlebnisqualitäten ein zentrales Motiv für Chalmers, ihre Eigenständigkeit zu betonen.

Chalmers behauptet nun, dass der Materialismus grundsätzlich falsch sei, weil die Erlebnisqualitäten in ihm keinen Ort hätten. Er nennt seine eigene Position auch „naturalistic Dualism“36. Aber bereits dies signalisiert die Problematik des Unternehmens. Kein Materialismus mehr, aber dennoch ein Naturalismus und dann ein regelrechter Dualismus? Was könnte das wohl sein, und lässt sich das Bewusstsein so leichthin in die physikalische Weltkonstruktion einfügen, wo es doch nur in der ersten Person Perspektive gegeben ist, ex definitione also nicht objektivierbar sein kann, was Chalmers sonst immer wieder betont? Wir könnten auch das Bewusstsein nicht messen, sagt er, denn es gebe keinen „experience meter“. Andererseits behauptet er dann auch wieder, dass das Psychische und das Physische durch strenge Gesetze von der Art der mathematischen Physik verbunden sein müssten, was er doch zunächst geleugnet hatte.37 Nun hat aber noch nie jemand solche Gesetze finden können.

Wie unsicher Chalmers ist, sieht man daran, dass er drei sich wechselseitig ausschließende Konzepte vertritt, wie sich die Erlebnisqualitäten in die physikalische Weltkonstruktion einsortieren ließen: einmal das oben genannte, wonach sie sich wie eine zusätzliche Kraft den relational bestimmten physikalischen Kräften hinzufügen lassen, und dann eine gegensätzliche, wonach sie die Relate der physikalischen Relationen bilden sollen, und schließlich noch ein informationstheoretisches Konzept.38 Zunächst ist es wohl richtig, dass die mathematische Physik nur aus Relationen besteht und dass man sich fragen müsste, welches dann die zugehörigen Relate sein könnten. Aber beides kann nicht zugleich wahr sein. Entweder sortieren wir die Erlebnisqualitäten unter die physikalischen Kräfte ein, dann sind sie rein relational, oder wir machen sie zu Relaten. Beides geht wohl nicht zusammen. Unabhängig davon vertritt aber Chalmers auch noch eine informationstheoretische Lösung, die mit den beiden anderen ebenfalls inkompatibel ist.

Chalmers möchte also insgesamt zweierlei, was man nicht zugleich wollen sollte. Er möchte den Szientismus zugleich sprengen und bewahren. Wer die Erlebnisqualitäten zur Ontologie rechnet, das heißt, dass sie bis hinab zu den Atomen Bedeutung haben, der hat den Materialismus und Szientismus hinter sich gelassen. Er bewegt sich im Rahmen einer Metaphysik der Natur wie bei Aristoteles, Leibniz, Schopenhauer oder Whitehead. Weil aber Chalmers immer noch am Naturalismus festhält, muss er dann wieder behaupten, dass sich die Erlebnisqualitäten nomologisch ‚zähmen‘ lassen wie eine ordentliche physikalische Kraft. An dieser Stelle gibt es keine Analogie mehr zur Einführung der Elektrizität im 18. und der Einführung der Erlebnisqualitäten als ontologischer Größen im 20. Jahrhundert, denn Elektrizität ließ sich quantifizieren und nomologisch beschreiben, und die Gesetze der Elektrizität konnten später mit den mechanischen Gesetzen durch die Lorentzkraft deduktiv verbunden werden.

Weil eine solche Art, die Erlebnisqualitäten an die Physik rückzubinden, wenig überzeugend ist, gehen manche Protopanpsychisten, wie zum Beispiel Thomas Nagel, einen anderen Weg. Er entwickelt sein Konzept in dem Buch „Mortal Questions“. Dort gewinnt er seinen Protopanpsychismus auf folgende Weise, indem er vier Voraussetzungen als wahr unterstellt:

1) „Materielle Zusammensetzung“: Alles was existiert, ist eine komplexe Zusammenfügung aus materiellen Teilen.

2) „Negation des Reduktionismus“: Propositionale Zustände sind nicht identisch mit physikalischen Zuständen.

3) „Realismus“: Subjektive Zustände sind real.

4) „Negation der Emergenz“: „Wirklich emergente Eigenschaften gibt es nicht.“39

Unter ‚Emergenz‘ versteht er offenbar so viel wie ‚starke Emergenz‘40, das heißt mehr als bloße Systemeigenschaften, die überall auftreten und die deshalb metaphysisch harmlos sind.41 Starke Emergenz bezeichnet das Entstehen von radikal Neuem, das weder aus den Systemkomponenten noch aus der Vorgeschichte eines Systems ableitbar ist. Ein solches Konzept hält Nagel für irrational. Dann aber, wenn das Bewusstsein nicht aus dem Nichts entstanden sein kann, muss es in rudimentärer Form immer schon existiert haben. In manchen Publikationen bringt er seine Position in die Nähe idealistischer Konzepte, wie solche bei Schelling, Hegel, Bergson oder beim neutralen Monismus zu finden sind.42 Man sieht, dass Nagel etwas uneins ist mit sich. Solche Unsicherheiten entstehen, wenn man erst einmal angefangen hat, den gängigen Naturalismus in Frage zu stellen. Dies wird besonders deutlich in „Mind and Kosmos“ (siehe Anm. 42). In diesem Werk geht Nagel noch einen Schritt weiter. Nicht nur das Entstehen von Erlebnisqualitäten sei auf Grund des herrschenden Materialismus unverständlich; man könne auch auf dieser Basis nicht begreifen, wie Selbstzwecklichkeit, Werthaftigkeit, Vernunft und Freiheit entstanden sein sollten, denn bei der Erklärung solcher Eigenschaften müsse man versteckt wieder auf sie zurückgreifen, denn was sei schließlich eine Erkärung?

Dann heißt es ganz deutlich: „I would reveal mind and reason as basic aspects of a nonmaterialistic natural order.” Er fordert eine wissenschaftliche Revolution wie bei Einstein, Galilei oder Newton, indem wir in gewissem Sinn zu Aristoteles zurückkehren und wieder teleologische Gesetze einführen, denn der Kosmos sei auf den Menschen hin ausgerichtet, sonst könnten wir das Entstehen von Vernunft und Freiheit nicht erklären. Nach Nagel erwacht das Universum im Menschen nach und nach und wird seiner selbst bewusst.43 Das ist eine hochidealistische These, die man auch bei Schelling finden könnte. Kein Wunder, dass dieses Buch wütende Proteste hervorrief. Wie sollen wir denn die mathematischen Gesetze der Physik mit natürlichsprachlichen, teleologischen Gesetzen verbinden, die gewöhnlich nicht quantifizierbar sind?

Der Fall Nagel zeigt, wie hilflos wir sind, wenn wir begreifen wollen, welche Stellung das Bewusstsein im Universum einnimmt – jedenfalls dann, wenn wir am Naturalismus als Referenzrahmen festhalten, und das möchte Nagel eben immer noch. Wenn wir aber mit Nagels Überlegungen ernst machen, dann geraten wir in eine Metaphysik der Natur, die nicht mehr mit dem naturalistischmaterialistischen Rahmen verträglich ist. Der Protopanpsychismus bewegt sich also auf der Kippe zu einer nicht-materialistischen Weltanschauung.

Wir könnten also in der Summe sagen: Der spekulative Naturalismus ist wenig überzeugend, im Gegensatz zum empirischen Naturalismus, und wir haben deshalb Gründe, andere Ansätze zu prüfen.

2. Die Phänomenologie

2.1 Edmund Husserl

Mit der Phänomenologie betreten wir eine neue Welt. Während der Naturalist versucht, das Bewusstsein ‚von außen‘ kausal/funktional zu rekonstruieren oder als Illusion zu entlarven, nimmt der Phänomenologe dagegen die Verwobenheit des Subjekts als Ausgangspunkt mit dem Argument, dass wir gar nicht anders können. Die Objekte sind uns nie anders denn als solche im Bewusstsein gegeben. Wo das Bewusstsein fehlt, erlischt die Wahrnehmung und mit ihr alles Denken.

Edmund Husserl44 nimmt seinen Ausgangspunkt bei Descartes, aber auf eine völlig andere Weise als die Deutschen Idealisten, die sich ebenfalls auf ihn berufen. Descartes, so Husserl, habe zwar mit seinem ‚Cogito‘ den richtigen Ausgangspunkt gefunden, sich aber in der Folge ständig verirrt. Man könne zwar, indem man im Sinne einer Epoché von allem Konkreten, der Welt und sogar dem eigenen Leib abstrahiere, ein ‚Cogito‘ isolieren; es sei aber ein Fehler, dessen Evidenz mit anderen, davon logisch unabhängigen Evidenzen zu einem deduktiven Gefl echt nach Art der Mathematik zu verbinden.

Der richtige Weg hingegen sei der, die fundamentale Eigenschaft des Bewusstseins, intentional ausgerichtet zu sein, für eine philosophische Systematik fruchtbar zu machen. Demnach ist das Bewusstsein nicht, wie bei Descartes, ein ausdehnungsloser isolierter Punkt, sondern Bewusstsein ist zumeist Bewusstsein von etwas, also zweipolig. Da ist zum einen der Kern des Bewusstseins, das „transzendentale Subjekt“, und dann sind da die Gegenstände, auf die es hin ausgerichtet ist, sei es auf Phantasmata oder auch auf reale Gegenstände in Raum und Zeit. Das Ausgerichtetsein des Bewusstseins spielt also in der Spannung zwischen „cogito“ und „cogitatum“, was dem Gegensatz zwischen „noesis“ und „noema“ entspricht. Da das „cogitatum“ beziehungsweise das „noema“ eine Vielheit von Bezügen beinhaltet, eröffnet sich der Phänomenologie ein ganzes Universum verschiedener Bezüge, wodurch sie zu einem gigantischen, im Grunde unabschließbaren Unternehmen wird.

Man sollte nie vergessen, dass Husserl ursprünglich Mathematiker war, der diese Wissenschaft bis hin zu einer glänzenden Promotion und Habilitation bei so bekannten Wissenschaftlern wie Leopold Kronecker und Karl Weierstraß vorangetrieben hat. Dies zu erinnern, ist deshalb von Bedeutung, weil Husserl nichts weniger im Auge hatte als eine apriorische Letztbegründung der Philosophie nach dem Vorbild Platos. Wie dieser, so sah auch Husserl in der Mathematik ein Muster an rationaler Klarheit, die aber durch ihren hypothetischen Charakter letztlich nicht wirklich begründet war. Diese Begründung, und in eins damit auch die Letztbegründung aller empirischen Wissenschaften, sollte nun in unhintergehbarer Evidenz des Bewusstseins durch die Phänomenologie geleistet werden. Husserl machte also Gebrauch von dem, was wir heute den ‚privilegierten Zugang‘ zu unseren Erlebnisqualitäten und ihre ‚Unkorrigierbarkeit‘ nennen. Dabei kam es zu einer Koinzidenz des Mathematischen und des Phänomenologischen, die uns inzwischen ziemlich ferngerückt ist, weil die Nachfolger Husserls diese Seite seines Unternehmens aufgegeben haben.

Die Evidenz verbindet beides, Mathematik und Phänomenologie, und in beiden Disziplinen verfügen wir, jedenfalls nach Husserl, über Wesensbestimmungen. Er spricht explizit von der Mathematik als einer „eidetischen Disziplin“. Auch der Mathematiker enthalte sich der Urteile über die reale Welt. Auf eine solche Weise glaubt Husserl, dass wir auch in der Phänomenologie evidente philosophische Wesensdefinitionen ableiten können, die dann unhintergehbar wären, weil es in diesem Bereich so etwas wie eine „Wesensschau“ gebe. Schon hier meldet sich natürlich das Bedenken, dass es einen Unterschied ausmacht, ob wir Mathematik als eine Idealwissenschaft betreiben, die nur nachträglich, etwa in der Physik, auf das Konkrete angewendet wird, oder ob wir ein Bewusstseinsapriori entfalten, das aus sich selbst heraus ontologische Relevanz haben soll. Einen solchen Anspruch finden wir bei Fichte und Schelling und auf eine andere Weise bei Hegel, aber Husserl lehnt den gesamten nachkantischen Deutschen Idealismus ab. Wie man aber auf phänomenologischer Basis dennoch sollte Ontologie betreiben können, und was dies dann heißen würde, ist nicht ganz klar.

Weil es hier gravierende Probleme gibt, haben sich die Nachfolger von Husserl mehr auf seine Analysen zur leiblichen Präsenz gestützt, womit nicht nur der Verlust des Letztbegründungsanspruchs und einer „Wesensschau“ verbunden war, was man als Gewinn ansehen könnte, sondern damit war zugleich der Verlust des transzendentalen Subjekts und einer Mathematikbegründung verbunden, was man sicher nicht als Gewinn verbuchen sollte.

Natürlich sind Husserls Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie gewichtig, also seine Überlegungen zum Zeitbewusstsein, zur Wahrnehmung und ihrem Möglichkeitshorizont, zur Wiedererinnerung, Phantasie und Vorerwartung, seine Lehre von der „Kinästhese“, das heißt von der Verbindung des Bewusstseins mit Körperbewegungen oder seine Lehre von der Einheit von Körperbewegung und deren Sinn als Ausdrucksphänomen. Sehr fruchtbar und bis heute noch nicht abgegolten ist auch Husserls später Versuch einer Fundierung der Wissenschaft in der Lebenswelt. Neben solchen wichtigen Entdeckungen erachten viele seine Ableitung der Sozialnatur des Menschen als weniger überzeugend, weil ja doch der Ansatz beim transzendentalen Subjekt zunächst einmal gezwungenermaßen individualistisch ausfallen wird. Dan Zahavi allerdings besteht darauf, dass es beim späten Husserl eine „transzendentale Intersubjektivität“ gibt, sodass auf diese Art der Kokon des „Solipsistischen“ (wie es Husserl selbst nennt) der frühen Schriften gersprengt wird.45 Allerdings gebraucht Husserl auch öfter einmal den Begriff der ‚Einfühlung‘, den er von Theodor Lipps übernimmt, aber mit anderem Inhalt füllt, also das, was wir heute unter dem Stichwort ‚Empathie‘ diskutieren.46 Auf diesem Niveau lässt sich Intersubjektivität aus der ersten Personperspektive einbringen. Die weiteren Details sind aber hier nicht von Belang. Wesentlich in unserem Zusammenhang ist die Zweipoligkeit des Bewusstseins im Sinne von ‚Intentionalität‘, die Husserl von seinem Lehrer Franz Brentano übernommen hat. Die Frage allerdings, ob sich aus dem Bewusstsein eine echte Ontologie ableiten lässt, bleibt bestehen. Zunächst sieht es nicht so aus, denn der phänomenologische Ansatz ist indifferent gegenüber der Unterscheidung von Fiktion und Realität. Dies liegt schon in der Natur der Epoché. Ich soll ja doch die gesamte Realität ausklammern. Aber wie kommt sie dann wieder ins Spiel?

Oder, wie Husserl selbst sagt, der oft sein eigener schärfster Kritiker ist: „Was kümmern sich die Sachen an sich um unsere Denkbewegungen und um die sie regelnden logischen Gesetze?“47 Vielleicht hat der Phänomenologe, und das wird sich auch bei Husserls Nachfolgern zeigen, das umgekehrte Problem wie der im letzten Abschnitt vorgestellte Naturalist. Wenn der Naturalist bei einer vorgeblich subjektfreien Realität ansetzt, kommt er nie mehr zum Bewusstsein, und wenn der Phänomenologe gerade beim Bewusstsein ansetzt, scheint er nie mehr zur Natur hinauszukommen. Hegel hat versucht, diesen Gegensatz in seinem Programm einer „Substanz als Subjekt“ aufzuheben, setzt dabei aber eine Theorie des absoluten Geistes voraus, die heute eigentlich niemand mehr in dieser Art vertreten wird. Der Bruch zwischen der Immanenz der Phänomenologie und der Transzendenz des Gegebenen wird zum Beispiel deutlich in den Arbeiten des Soziologen Alfred Schütz. Schütz konstituiert das Subjekt phänomenologisch im Sinne Husserls, leitet dann aber des Menschen Sozialnatur extern ab, indem er ganz bewusst in die Beobachterperspektive wechselt.48 Damit zeigt er die wesentliche Grenze der Phänomenologie auf. Schütz’ Soziologie ist nicht aus einem Guss, und vielleicht kann das gar nicht anders sein.49 Ähnlich geht Christian Beyer in seiner Arbeit über „Subjektivität, Intersubjektivität, Personalität“ vor. Er lässt nur noch eine partielle Epoché zu, die er mit einer davon unabhängigen Beobachterperspektive verbindet, sodass er auch Wahrnehmungserlebnisse anerkennt, die „bewusstseinsunabhängig“ sind.50

Ein Wort zur Epoché: Das Verfahren der „Einklammerung“ geht auf Descartes zurück, gewinnt aber bei Husserl einen neuen Sinn. Bei Descartes wird alles eingeklammert, auch der eigene Leib, und übrig bleibt das reine Cogito. Weil Husserl intentional denkt, bleibt bei ihm der Bezug auf die Inhalte bestehen; „eingeklammert“ wird nur die Beziehung des natürlichen und auch des wissenschaftlichen Denkens auf äußeren Objekte, insofern sie als bewusstseinsunabhängig gedacht werden. Stattdessen hält Husserl durchweg an der Abhängigkeit vom Bewusstsein fest. Über die Epoché im Bereich der bildenden Kunst sagt Bernhard Waldenfels, sie bestehe darin, dass der Betrachter „von Seh- und Bildgehalten auf das Blickereignis zurückgeht“. „Vom Gesehenen geht sie zurück auf das Sehen, vom Bestand des Sichtbaren zurück auf das Ereignis des Sichtbarwerdens, das im Sichtbarmachen seinen Ausdruck fi ndet.“51 Das heißt also nichts anderes, als dass der phänomenologische Blick, wie der Kunst besonders angemessen, niemals objektivierend und distanziert ist, sondern engagiert aus einer Betroffenenperspektive heraus.

Husserls Konzept des Bewusstseins zieht einige Einwände auf sich, aber nur so, wie überhaupt jedes Konzept des Bewusstseins Einwände auf sich zieht, es möge sein, welches es wolle. Da ist vor allem der Einwand, dass wir nicht in unser Inneres schauen können, wie wir nach draußen schauen, dass sich also in unserem Innern kein cartesisches Theater abspielt, wie Dennett das kritisch benennt.52 Wittgenstein sagt im Tractatus 5.6: „Aber das Auge siehst du wirklich nicht.“ So ist es. Wir sehen mittels des Auges, aber nicht das Auge selbst. Das Sehen ist kein Gegenstand des Sehens, und wenn man übereinkommt, dass das Bewusstsein ‚durchsichtig‘ ist, dann kann es gar kein Objekt werden, das man irgend anschauen könnte.

Es schließt sich an die Frage nach dem Selbstbewusstsein. Eine intentionale Theorie des Selbstbewusstseins müsste wohl wie folgt vorgehen: Selbstbewusstsein entsteht dadurch, dass sich ein intentional ausgerichtetes Bewusstsein auf sich selbst zurückwendet. Das könnte man in Fortführung der Wittgensteinschen Metapher so wenden (der Begriff der ‚Reflexion‘ stammt ja aus der Optik): Wir treten des Morgens – noch im Halbschlaf – vor den Spiegel und sagen uns „Das bin ja ich!“ Soll mit dieser Metaphorik das Ich- oder Selbstbewusstsein erklärt werden, so ist die Erklärung zirkulär, denn wenn ich im Halbschlaf noch kein Ichbewusstsein habe, sondern nur ein mir fremdes Gesicht im Spiegel sehe, so werde ich nie auf die Idee kommen, es könnte sich um mich selbst handeln. Ich muss bereits ein Ichbewusstsein haben, um mich im Spiegel als mich selbst zu erkennen. Die Genese des Ichbewusstseins kann so nicht erklärt werden.53

Sollten diese Argumente stichhaltig sein, so ließen sie sich allerdings nur auf Husserls cogito, nicht auf die cogitata, auf seine noesis, nicht auf die noemata beziehen, das heißt, dass seine konkreten Analysen, die sich vor allem auf unser leibliches In-der-Welt-Sein beziehen, davon nicht berührt wären, und das war es ja auch, was dann von seinen Nachfolgern fruchtbar gemacht wurde.

2.2 Maurice Merleau-Ponty

Der bedeutendste Nachfolger von Husserl in Frankreich, der ihn noch selbst 1929 in Paris gehört hat, ist Maurice Merleau-Ponty.54 Er unternimmt gegenüber Husserl eine Entidealisierung der Phänomenologie, indem er das weltenthobene Subjekt in den Leib zurückholt und indem er das transzendentale Ich streicht und durch ein empirisches Ich ersetzt. Als sein Hauptwerk gilt allgemein die „Phénoménologie de la Perception“.

Unter ‚Wahrnehmung‘ versteht Merleau-Ponty freilich nicht das, was ein naturwissenschaftlich vorgehender Sinnesphysiologe darunter verstehen würde, also die Art, wie physische Stimuli wie Licht- oder Schallwellen oder chemische Signale in elektrische Signale umgewandelt und im Gehirn verarbeitet werden. Als Phänomenologe untersucht er vielmehr die Wahrnehmung, wie sie für den Wahrnehmenden ist. Es wäre aber falsch, dies für den isoliert-subjektiven Aspekt eines Geschehens zu halten, dessen komplementär-öffentlicher Aspekt dann durch die Naturwissenschaft beschrieben würde. Tatsächlich will Merleau-Ponty, wie Husserl vor ihm, hinter die Subjekt-Objekt-Spaltung auf ein Ursprüngliches zurück.

Die Wahrnehmung in diesem Sinne ist also weder subjektiv noch objektiv. Es ist nicht so, dass wir ‚da draußen‘ eine Welt vorfinden, die gänzlich von unserem Bewusstseinsakt isoliert wäre. Es ist aber umgekehrt auch nicht so, dass wir ‚da drinnen‘ eine isolierte Innenwelt vorfinden, die schlichtweg nichts mit der Außenwelt zu tun hätte. Wir können von einem phänomenologischen Standpunkt ebenso gut behaupten, die Welt sei in uns wie, dass wir in der Welt sind.

Wie bei Husserl, so sind auch bei Merleau-Ponty Ausdrucksphänomene zentral. Der Leib ist Ausdruck unserer Befindlichkeit, und diese Ausdrucksfähigkeit ist sui generis, das heißt auf nichts anderes zurückzuführen. Da die Künstler die Virtuosen des Ausdrucks sind, spielt die Kunst eine eminente Rolle bei Merleau-Ponty, ja er stellt sie über die Philosophie, weil sie die gängigen Dichotomien unterlaufe: Verstand gegen Sinnlichkeit, Wert gegen Fakt, Sein gegen Sollen, Objekt gegen Subjekt usw.

Merleau-Pontys Ausführungen über Cézanne zeigen, dass er sich vornehmlich deshalb mit diesem Künstler identifiziert, um seine ästhetische Intuition ins Philosophische zu übersetzen.55 Gleich zu Beginn drückt er, indem er über Cézannes Kunst spricht, in eins damit das Grundprinzip seiner Phänomenologie aus: Die Kunst „sucht nach der Realität, ohne die Empfindung zu verlassen“. Das heißt: Im Gegensatz zur Naturwissenschaft will er nicht das Objekt möglichst subjektfrei rekonstruieren, sondern die Verwobenheit des Subjekts in den Weltprozess ist sein eigentlicher Ausgangspunkt. An sich liegt es auf der Hand, dass Kunst und Phänomenologie zusammengehören. Sie haben eine ähnliche Vorgehensweise. Dass Husserl nur andeutend von der Aisthesis zur Ästhetik übergeht, scheint darin zu liegen, dass er eine an der mathematischen Klarheit orientierte Letztbegründung sucht, und die ist mit den Mitteln der Kunst nicht zu haben. Umgekehrt schaffen nach Husserl die Phänomenologen das transzendentale Subjekt und die Bezogenheit auf die Mathematik ab, was mit einem Verlust an formaler Klarheit, aber mit einem Gewinn an Konkretheit des Ausdrucks und der Individualität verbunden ist. Merlau-Ponty zitiert Cézanne: „Die Landschaft“, sagte er, „denkt sich in mir, ich bin ihr Bewusstsein.“ Bezüglich der zu malenden Gegenstände unterstellt er: „Cézanne hat nur gesagt, was sie sagen wollten.“56

Damit sind wir in eine Art ‚Idealismus des Ästhetischen‘ hineingeraten: Die Natur spricht. Sie ist ebenso von Sinn durchdrungen wie die soziale Welt. Auch dies ist ein Gegensatz, der hier aufgehoben werden soll, denn der menschliche Leib ist für Merleau-Ponty ein Ausdrucksphänomen der Gleichursprünglichkeit von Sinn und Sinnlichkeit, die immer nur verschränkt vorkommen. Da diese Verschränkung das Urphänomen unserer Erfahrung ist, schließt Merleau-Ponty, dass die Welt an sich nicht sinnlos sein kann, da sich in ihr der Sinn immer schon inkarniert hat. Der Mensch spricht zur Welt, aber die Welt spricht auch zum Menschen.

Das klingt nun aber doch sehr idealistisch. Bernhard Waldenfels verteidigt Merleau-Ponty gegen den Vorwurf des Idealismus. Solche Stellen seien nicht gemeint wie bei Hegel.57 Aber wie denn sonst? Es kann sich nämlich nicht nur um eine façon de parler handeln, denn der Rückgang auf einen Standpunkt jenseits von Subjekt und Objekt ist genau aus diesem Grunde für beide bindend.

Wenn wir an dieser Stelle nicht in einen Hegelschen Idealismus verfallen wollen, dann müssen wir Ontologie im ursprünglichen Sinn betreiben. Das haben aber weder Merleau-Ponty noch Waldenfels getan. Es hilft nicht, zu sagen, dass der Phänomenologe seinen Standpunkt jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung eingenommen habe, wenn wir nicht wissen, welche Rolle dieser Standpunkt in einer Kosmologie spielt, die ihre Beschreibung der großflächigen Entwicklung des Universums so anlegt, dass wir mit Gründen glauben können, diese Entwicklung hätte sich genau so abgespielt, wenn es uns gar nicht gäbe, wenn wir nicht auf weite Strecken in der Physik dasjenige realisieren könnten, was Thomas Nagel den „view from nowhere“ genannt hat. Wie Husserl in seiner späten Krisisschrift die Lebenswelt als Grundlage der Wissenschaft einführt, so müsste der Phänomenologe die Ontologie der Lebenswelt der wissenschaftlichen Ontologie vorordnen und zeigen, wie sie sinnvoll aufeinander bezogen werden können.

Von 1956 bis 1960 hielt Merleau-Ponty Vorlesungen am Collège de France über den Begriff der ‚Natur‘. Das aus den Vorlesungen hervorgegangene Buch ist außerordentlich reichhaltig: Aristoteles, Kant, Schelling, Teilhard de Chardin, Quantenphysik, Darwinismus, Verhaltensforschung usw. usf. Man ist aber etwas irritiert, keine eigene Position Merleau-Pontys zu erkennen. Er referiert eigentlich nur. Dabei hätte es doch nahegelegen, seine eigene Position mit der Naturphilosophie Schellings, Bergsons oder Teilhards in Beziehung zu setzen, denn dort gibt es eine gewisse Wahlverwandtschaft zur Phänomenologie. Aber Merleau-Ponty verweigert sich der systematischen Reflexion auf Natur. Dabei heißt es gleich zu Beginn dieses Buches: „Natur ist das, was einen Sinn hat, ohne dass dieser Sinn vom Denken gesetzt wurde. Es ist die Selbsthervorbringung eines Sinnes.“58 Das könnten Schelling und Teilhard auch gesagt haben, aber beide waren sich bewusst, dass dies eine ziemlich riskante These ist, die begründungspflichtig wäre.

1946 hielt Merleau-Ponty in der Société française de philosophie einen Vortrag, dem eine kritische Diskussion über seine leibzentrierte Phänomenologie folgte, bei der die entscheidenden Punkte angesprochen wurden.59 Über die mathematische Physik sagt er: „Die physikalisch-mathematischen Beziehungen nehmen nur in dem Maße einen physikalischen Sinn an, in dem wir uns zugleich die sinnlichen Dinge vorstellen, auf die letztlich diese Beziehungen anwendbar sind.“60

Dagegen wurde auf der Tagung zu Recht eingewandt, dass sich die Physik immer mehr der sinnlichen Wahrnehmungsbasis entziehe und weiter, dass in einer Wahrnehmungstheorie gar kein Platz für eine nichteuklidische Geometrie sein könne. Auch in der Quantenfeldtheorie seien die Relate der mathematischen Relationen, als die dort die Partikel definiert werden, denkbar weit von der Anschauung entfernt. Sie kehrten nicht mehr zum Konkreten zurück. In die Enge getrieben, gibt Merleau-Ponty zu, dass sein Konzept eher auf die Psychologie zutrifft als auf die mathematische Naturwissenschaft. Aber dann haben wir eine Trennung von ‚humanities‘ und ‚hard science‘, die doch überwunden werden sollte.

Merleau-Ponty hat in seiner Entwicklung irgendwann einmal den Begriff des ‚Bewusstseins‘ ganz eliminiert. Das kommt wohl nicht von ungefähr, denn man könnte sich fragen, was eigentlich mit dem Bewusstsein geschieht, wenn es ganz ins Leibbewusstsein eintaucht? Für Merleau-Ponty sind auch das Selbst- und das Ichbewusstsein Weisen der leiblichen Wahrnehmung. Ist das denkbar? Kollidieren wir hier nicht wortwörtlich mit Wittgensteins Einwand, dass sich das Auge nicht sieht? Wo soll Reflexivität herkommen, wenn Sinnlichkeit nur nach außen gerichtet ist? Und würde das Ichbewusstsein in einer solchen Sichtweise nicht mit der materialistischen These gleichbedeutend werden, wonach das Ich der Körper ist? Und was garantiert in einer solchen Konzeption die diachrone Identität des Ich, wenn es doch in eine Serie von Episoden zerfällt, die ich niemals als meine erkennen könnte, wenn ich nicht schon vorgängig meiner selbst bewusst wäre?

2.3 Bernhard Waldenfels

Eine ähnliche Entwicklung wie bei Merleau-Ponty findet man auch bei Bernhard Waldenfels, der sich häufig auf ihn beruft. Da er ebenfalls der Meinung ist, dass das Bewusstsein „seiner fundamentalen Form nach“ Wahrnehmungsbewusstsein sei, da er weiter die eine Rationalität postmodern in eine Vielheit von Rationalitäten auflöst (für den Fall, dass das Wort den Plural verträgt), gibt es nun nicht mehr, wie in der Vergangenheit, das Bewusstsein als einen „Ort der umfassenden Überschau“, und schließlich akzeptiert er sogar Marx, nach dem das Bewusstsein nur Moment am realen Lebensprozess sei.61 Nun ist das Bewusstsein als etwas Eigenständiges ganz verschwunden. Es geht im Sein auf.

Waldenfels hat ca. 60 Bücher geschrieben mit einer Fülle von Bezügen, die man hier nur andeuten kann: Dynamik der Kultur, symbolische Handlungsformen, Behaviorismus, Therapien, Differenz Gesundheit – Krankheit, Erotik, Differenz Künstliches – Natürliches, Politik, Kunst, Genese der Normativität, Leibphilosophie, Interkulturalität usw. Man sieht, dass Husserls Prophezeiung, nach der die Phänomenologie ein ganzes Universum von Inhalten erschließen würde, wahr geworden ist. Bei Waldenfels liegt also eine unglaubliche Fülle von Bezügen vor, der nichts abzuhandeln ist.62 Man sollte sich aber schon fragen, ob mit der Reduktion von Bewusstsein auf das Leibbewusstsein nicht auch hier etwas verloren geht, und zwar einerseits das reflexive Selbstbewusstsein, andererseits der Bezug zu Natur und Naturwissenschaft. Bei Waldenfels ist fast nichts zu diesen beiden Themen zu finden.

Waldenfels gibt mit Richard Grathoff eine Buchreihe zur Phänomenologie heraus. Die Themen beziehen sich wiederum letztlich nur auf die ‚humanities‘: Pädagogik, Psychologie, Sozialforschung, Mythen, der Leib, Geschichtlichkeit, Normativität usw. Ein einziger Band bezieht sich auf Natur, nämlich der oben genannte von Merleau-Ponty, der aber, wie gesagt, ausschließlich referierend ist. Ein anderer von Rüdiger Welter über den „Begriff der Lebenswelt“ bezieht sich polemisch auf den Lebensweltbegriff der Erlanger Konstruktivisten, also auf Paul Lorenzen, Friedrich Kambartel, Peter Janich, Jürgen Mittelstraß usw.63 Welter wirft diesen Autoren vor, dass sie den Lebensweltbegriff nur in einem sehr eingeschränkten Sinn gebrauchen, nämlich im Sinn technisch-praktischer Voraussetzungen der Naturwissenschaft. Das ist sicher zutreffend, aber das eigentliche Problem ist, dass diese Phänomenologen ihrerseits die Voraussetzungen der Naturwissenschaft nicht mehr wie noch bei Husserl thematisieren. Waldenfels spricht manchmal von einer zu entwickelnden „Proto-Soziologie“ und „ProtoPsychologie“.64 Aber erstens gibt es sie noch nicht, und dann fordert er nie eine Protophysik oder Protobiologie, wie sie die Erlanger tatsächlich entwickelt haben. Wir finden also eine gravierende Entfremdung dieser Art von Leibphänomenologie von der Natur und der Naturwissenschaft, und das scheint den einfachen Grund zu haben, dass es keinen Sinn ergibt, alles aus einem Leibprinzip abzuleiten.

2.4 Christoph Rehmann-Sutter

Wie wir gesehen haben, ignorieren viele Phänomenologen Natur und Naturwissenschaft. Das gilt jedenfalls für den Mainstream der Phänomenologie. Ausgehend von Hermann Schmitz gibt es auch die sogenannte „Neue Phänomenologie“, die Schmitz in einem monumentalen Werk „System der Philosophie“ in 10 Bänden vorgelegt hat. Eine überschaubare Einführung in dieses weitverzweigte Werk findet man bei Jens Soentgen.65 Schüler oder Anhänger von Schmitz haben dann das ins Auge gefasst, was man bei Schmitz selbst nicht finden wird: den Bezug auf Naturphilosophie und Naturwissenschaft.

So zum Beispiel der Philosoph und Biologe Christoph Rehmann-Sutter. Sein Ausgangspunkt ist der Leib als die Natur, die wir selbst sind. Dies wird aber von einem Handlungskontext her aufgeschlüsselt: „Das Fällen von Entscheidungen im vortheoretischen Bereich, das Sich-zum-Gegenstand-in-eine-Beziehung-Setzen und schließlich das Wahrnehmen und Interpretieren sind Handlungen. Als solche sollen sie im Rahmen dieser Untersuchung ernst genommen werden.“ Das heißt: Es soll die Abstraktion des szientifischen Zugriffs auf die lebendige Natur rückgängig gemacht und in der Lebenswelt verankert werden: „Die Molekularbiologie sieht davon ab, dass die Subjekte der Forschung, die Forscherinnen und Forscher, selbst Lebewesen sind, welche als solche von den Lebensbeschreibungen immer mitbeschrieben werden.“ Die transzendental vorgängigen Handlungszusammenhänge werden nun vom Primat des Ethisch-Praktischen her gesehen; diese Praxis wird mit Aristoteles als Spezifikum des Lebendigen als Entelechie, Autonomie oder Spontaneität gedeutet. Nach Aristoteles sind Lebewesen sich selbst bewegende Wesen. Diese Eigenschaft ließe sich mit dem Begriff der ‚Entelechie‘ rekonstruieren, die auf den Begriff der ‚praxis‘, im Gegensatz zu ‚poiesis‘, rekurriere. Das heißt also: Rehmann-Sutter weist die Maschinentheorie des Lebendigen von Descartes bis zu den heutigen Computertheorien oder artificial life-Theorien als ungenügend zurück. Sie sind fremd-, nicht selbstzwecklich.66 Wir haben also bei ihm einen von der Phänomenologie herkommenden Ansatz, der die peinliche Lücke ausfüllt, die wir sonst in dieser Richtung feststellen müssen.

Über eine lebensweltliche Fundierung der Biologie hinaus wäre wünschenswert, dass solche Versuche auch in Bezug auf die Physik durchgeführt würden, denn das war es, was Husserl ursprünglich wollte und was der Phänomenologe wollen müsste, wenn er nicht erneut die Differenz zwischen Naturwissenschaft und humanities aufreißen sollte, zu deren Überbrückung die Phänomenologie überhaupt erst eingeführt wurde.

3. Wittgenstein und seine Nachfolger

Es gibt bis heute einen auf Wittgenstein zurückgehenden Versuch, die Frage nach dem Bewusstsein sprachanalytisch zu klären. Wir müssen für unsere Zwecke keine Differenz zwischen Wittgenstein und den Wittgensteinerianern machen. Wittgenstein selbst ist immer zumindest doppelbödig, was man von seinen Nachfolgern nicht so leicht behaupten wird. Aber in erster Näherung mag es gestattet sein, hier einen durchgängigen Traditionsstrang zu sehen und die Nebengleise erst einmal zu ignorieren.

Einschlägig für Wittgensteins Zurückweisung des privilegierten Zugangs zu unseren eigenen Bewusstseinszuständen ist sein berühmtes „Privatsprachenargument“. Es ruht auf der Überzeugung, dass man nicht privatim einer Regel folgen kann.67 Wittgenstein imaginiert hier den Fall eines Menschen, der seine privaten Bewusstseinszustände in ein Tagebuch notiert.68 Jedes Mal, wenn er einen ganz bestimmten Bewusstseinszustand hat, notiert er in sein Tagebuch ein X, was nur er versteht, denn er ist ja der einzige, der über einen direkten Zugang zu seinen qualitativen Bewusstseinszuständen verfügt. Wie aber kann er dann wissen, dass das X von gestern dasselbe ist wie das X von heute? Woher nimmt er sein Identitätskriterium? Nichts garantiert doch, dass ich mich nicht täusche, denn: „Ein innerer Vorgang bedarf äußerer Kriterien.“69 Über die verfüge ich aber in diesem Fall gerade nicht, wenn es sich doch um private Zustände handelt. Wittgenstein fragt: „Was ist Furcht? Was heißt ‚sich fürchten‘? Wenn ich’s mit einem Zeigen erklären wollte – würde ich die Furcht spielen.“ „Ich kann der Empfindung des Anderen so sicher sein, wie irgendeines Faktums.“70

Besonders die letzte Aussage ist fraglich. Sie setzt voraus, dass das Verhalten eines Menschen seine Befindlichkeit adäquat zum Ausdruck bringt, denn: „Ich kann Schmerzen vorführen, wie ich Rot vorführe.“ Und: „Versuch einmal – in einem wirklichen Fall – die Angst, die Schmerzen eines anderen zu bezweifeln.“71 Das heißt also, dass die Evidenz des inneren Erlebens hier in das beobachtbare Verhalten übersetzt wird.

Aber warum sollten die Kriterien für einen Bewusstseinszustand dieselben sein wie für ein Objekt oder einen Prozess in Raum und Zeit? Setzt dies nicht bereits das voraus, was zu beweisen war? Denn wenn für beides dieselben Kriterien gelten, dann habe ich doch bereits unterstellt, dass Bewusstseinszustände nichts anderes sind als objektiv von außen beobachtbares Verhalten. Uwe Meixner kritisiert an dieser Stelle, dass Wittgenstein eben nicht, wie er behauptet, die Sprache so lässt wie sie ist, sondern dass er sie auf eine bestimmte Funktion hin stilisiert. Nach Meixner kann es sehr wohl Privatsprachen geben, da sie nicht denselben Identitätskriterien genügen müssen wie Sprachen, die sich auf Zeiträumliches beziehen.72

Wittgensteins neuer Ansatz bei der Sprache wurde von vielen Philosophen aufgegriffen und systematisiert. Insbesondere Ernst Tugendhat unternimmt dies in einer einflussreichen Schrift über „Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung“. Darin behauptet er, dass Intentionalität ausschließlich sprachvermittelt sei. Intentionalität, so gesehen, bezieht sich also niemals direkt auf eine Sache (und sei es unser Selbstbewusstsein), sondern auf einen Satz im Sinn propositionaler Einstellungen: „Ich glaube, dass heute Dienstag ist“, „Ich bin sicher, dass ich ein Mann bin“, „Ich hoffe, dass es morgen besseres Wetter wird“ usw. Dies ist selbstverständlich gegen Husserl gerichtet, der unterstellt, dass wir in uns hineinblicken könnten, um gewissermaßen sprachfrei der eigenen Intentionalität bewusst zu werden. Tugendhat gesteht, dass er überhaupt nichts sieht, wenn er versucht, in sich hineinzublicken.73 Man versteht zunächst einmal dieses Bemühen, das schwer Fassbare der Bewusstseinsphilosophie auf eine verständliche Rede zurückzuführen. Allerdings ist dann die Frage, ob wir durch eine solche Transposition immer noch das Original vor uns haben.

Kann ich denn im Rahmen einer propositionalen Einstellung noch all das ausdrücken, was ich vom Standpunkt einer Bewusstseinsphilosophie oder im Rahmen einer Phänomenologie ausdrücken könnte? Wenn ich zum Beispiel sage „Ich liebe meine Frau“, und mir dessen bewusst bin, wie es bei der Liebe gewöhnlich der Fall sein dürfte, dann würde Tugendhat darauf bestehen müssen, dass wir diesen Satz umformulieren sollten in: „Ich weiß, dass meine Frau die liebenswürdige Eigenschaft der Schönheit, der Treue, der sexuellen Attraktivität, des gefüllten Bankkontos usw. hat“. Aber sage ich dann immer noch dasselbe? Die Liebe und das Bewusstsein der Liebe ist nicht auf eine Proposition, sondern auf eine Person ausgerichtet, und wer sie in ihre Eigenschaften zerlegt, läuft Gefahr, die Liebe als eine Funktion solcher Eigenschaften zu missdeuten. Liebe als Funktion würden wir aber nicht so nennen. Sie wäre Berechnung.

Obwohl dieser sprachanalytische Ansatz sich das gute Gewissen macht, nichts als unsere Alltagserfahrung auf den Punkt zu bringen statt metaphysischer Spekulationen, fällt doch auf, dass Tugendhat in seinen Schriften wenig zu unserer praktischen Lebenswelt zu sagen hat, sondern dass er sich fast ausschließlich in den Höhen der philosophischen Abstraktion bewegt. Aristoteles, Kant, Hegel, Kierkegaard, Husserl, Heidegger usw. sind seine Gewährsleute. Dadurch geraten ihm aber ganz gewöhnliche Sachverhalte aus dem Blick – so zum Beispiel auch das Bewusstsein von kleinen Kindern oder Tieren, also von nichtsprachlichen Wesen. Wenn Bewusstsein an Sprache gebunden ist, dann könnten diese Wesen kein Bewusstsein haben, was absurd ist. Herbert Schnädelbach schlägt vor, mit Ernst Cassirer und Susanne Langer auf vorsprachlich-symbolische Repräsentationen zurückzugreifen, wozu dann, als Fälle von Körpersprache, auch Mimik und Gestik gehören würden.74 Das ist ohnehin ein Desiderat in der Sprachphilosophie. Warum beschränkt sie sich auf die verbale Sprache und ignoriert die Körpersprache? Habermas zum Beispiel lässt Körpersprache nur als Mitvollzug von Sprechhandlungen gelten, nicht als eine eigenständige Kommunikationsform.75

Wenn nun auch das Ichbewusstsein intentional im Sinn propositionaler Einstellungen ist, dann kann ich natürlich auch kein Bewusstsein meines Ich haben. Der Satz „Ich weiß, dass ich ich bin“ wäre dann eine reine Tautologie, und die Entwicklung des Ichbewusstseins bei kleinen Kindern wäre einfach nur eine grammatikalische Angelegenheit. Das Kind lernt eben irgendwann einmal das Personalpronomen ‚ich‘ zu handhaben, das sich immer nur auf den Sprecher bezieht und nicht wie ‚er‘ oder ‚sie‘ variabel gebraucht werden kann. So deutet Tugendhat die Ichwerdung.76 Aber ist es wirklich wahr, dass die Ichwerdung keine psychische Umwälzung bedeutet wie zum Beispiel die Pubertät, sondern dass sie ein rein grammatikalisches Phänomen ist?

Noch ein weiterer Punkt, der mit den oben genannten Aspekten zusammenhängt: Schon Wittgenstein unterstellte, dass die Ich- und die Er-Perspektive denselben sprachlichen Inhalt hätten, worin ihm Tugendhat folgt. Dieser drückt es so aus, dass zwischen der Perspektive der ersten und der dritten Person eine „veritative Symmetrie“ des Sachverhalts bestehe, verbunden mit einer „epistemischen Asymmetrie“ des Zugangs.77 Damit ist Folgendes gemeint: Die „veritative Symmetrie“ geht davon aus, dass der Sachverhalt, auf den sich zum Beispiel die Beobachtung eines Schmerzverhaltens richtet, genau derselbe ist, den der Schmerzen Habende empfindet, während der Zugang des Schmerzen Habenden irgendwie dennoch direkter ist, als wenn wir das Verhalten nur von außen beobachten würden.

Aber was ist dann mit Simulanten, Schauspielern, Indianern und Stoikern, die ihre Befindlichkeit nicht oder verkehrt ausdrücken? Und könnte Robinson auf seiner Insel unter dieser Voraussetzung Bewusstseinszustände haben, wenn er sein eigenes Verhalten nicht sehen kann? Lässt sich unter den Voraussetzungen, die Tugendhat akzeptiert, überhaupt von einer „epistemischen Asymmetrie“ sprechen? Die „veritative Symmetrie“ auf der anderen Seite unterstellt, dass ich keinen privilegierten Zugang zu meinen Erlebnisqualitäten habe, die mir zusätzliche Informationen liefern über das hinaus, was auch ein äußerlicher Beobachter sehen würde.

Diese These ist nicht überzeugend. Jeder Künstler beklagt, dass er das, was er empfindet, nicht adäquat ausdrücken kann, und dieser Schmerz ist oft genug der Stachel, um weiterzuarbeiten. Und weshalb lesen wir mit großem Vergnügen Autobiographien, obwohl wir doch wissen, dass sehr vieles in diesen Büchern wenn nicht gelogen, so doch geschönt ist?

Die versteckte Voraussetzung in diesem Konzept der „veritativen Symmetrie“ wird deutlich in dem gemeinsamen monumentalen Werk des Neurowissenschaftlers Maxwell Bennett und des Philosophen Peter Hacker, die sich ganz bewusst in die Wittgensteintradition hineinstellen. Dieses Buch ist insofern ungewöhnlich, als die Wittgensteinerianer sich meist nicht mit der Naturwissenschaft und dem Naturalismus auseinandersetzen. Dies geschieht aber bei Bennett und Hacker reichlich, und die Kritik dieser Autoren an gewissen überhöhten Geltungsansprüchen der Neurowissenschaft bestehen zu Recht. Dazu gehört vor allem der sogenannte „mereologische Fehlschluss“, dass man nämlich Teilen des Gehirns Leistungen zuspricht, die eigentlich nur in Bezug auf den ganzen Menschen sinnvoll sind. Man kann zum Beispiel nicht sagen, dass das Gehirn denkt, dass das Seh- und das Hörzentrum sieht oder hört usw. Die Autoren nennen dies sehr geistreich eine Art von „umgedrehtem Cartesianismus“.78 Naturalisten wollen nichts weniger sein als Cartesianer. Descartes ist ihnen vielmehr der schlechthinnige Gegner. Aber im mereologischen Fehlschluss übertragen sie einfach diejenigen Eigenschaften, die Descartes dem weltenthobenen Geist zugesprochen hat, auf das Gehirn und bleiben damit dem alten Paradigma verhaftet.

Es ist vielleicht nützlich, auf einen ganz bestimmten Punkt hinzuweisen, der erklärt, wie man jemals auf die Idee einer „veritativen Symmetrie“ kommen konnte, der doch unserer Lebenserfahrung entschieden widerspricht. An einer bestimmten Stelle behaupten die Autoren, alles Innere sei auch äußerlich. Für das Bewusstsein menschlicher Personen gelte: Es „offenbart sich normaler weise in ihrem Verhalten vollständig“, und über einen zornigen Menschen sagen sie, „sein Zorn ist allerdings vollkommen sichtbar.“79

Hier wird die versteckte Metaphysik hinter diesem Konzept deutlich: Es zehrt von der Idee des vollkommenen Ausdrucks. Gibt es den vollkommenen Ausdruck, dann gibt es auch diese veritative Symmetrie. Einen solch vollkommenen Ausdruck gibt es aber allenfalls bei den Phänomenologen. Weil der Phänomenologe keine Differenz zwischen Wesen und Erscheinung anerkennt, liegt das Wesen mit Hilfe der „eidetische[n] Reduktion“ offen zu Tage.80 Die Idee des vollkommenen Ausdrucks setzt also genau jene Phänomenologie voraus, gegen die sich das gesamte Unternehmen der Sprachanalytiker richtet.81

Wenn der Sprachphilosoph keinen Gebrauch von der Phänomenologie machen und wenn er das Ausdrucksverhalten realistischerweise als etwas Unvollkommenes begreifen würde, dann ließe sich die Innerlichkeit nicht mehr restlos in Sprachphilosophie übersetzen, ohne dass deshalb das ganze Unternehmen sinnlos sein müsste. Sowohl die Phänomenologen als auch die weiter unten darzustellenden Bewusstseinsphilosophen schwanken ganz ungemein, was sie eigentlich unter ‚Bewusstsein‘ verstehen sollen. Da ist es naheliegend, zunächst das zu beschreiben, was wir auch sehen können, statt dass wir uns in Spekulationen verlieren. Insofern ist der sprachanalytische Ansatz durchaus plausibel. Husserl betonte vom Anfang bis zum Ende seines Schaffens, dass es ihm um Evidenz und um apriorische Wesensschau gehe. Aber warum erschienen ihm dann in den verschiedenen Phasen seines Schaffens ganz verschiedene Inhalte als evident? In seinen „Cartesianischen Meditationen“ sagt er über die Evidenz: „Hier wird etwas als es selbst in völliger Gewissheit erfasst“, um sofort hinzuzufügen, dass sich das als evident Erfahrene später als Schein herausstellen könnte. Man ist etwas verwirrt, denn das würde doch heißen, dass die „völlige Gewissheit“ Schein war – und dann bräche die Behauptung von Evidenz in sich zusammen. Um dies abzumildern, fügt Husserl hinzu, dass man eben die „kritische Reflexion“ auf den als ‚evident‘ angenommenen Sachverhalt anwenden müsse, dann ergebe sich eine „schlechthinnige Unausdenkbarkeit des Nichtseins“ dieses Sachverhalts.82

Man sieht, dass er seiner eigenen ‚Evidenz‘ nicht wirklich traut, und dafür hat er auch gute Gründe, denn sonst würde seine philosophischen Entwicklung nicht so verlaufen sein, wie sie tatsächlich verlief, nämlich mehrfach mäandernd. Die in sich hineinblicken, sehen dort oft nichts Bestimmtes.

Von daher ist die Revolution bei Wittgenstein verständlich. Ihr Recht wird auch durch die Neurowissenschaft bestätigt. Giacomo Rizzolatti entdeckte 1992 die sogenannten ‚Spiegelneuronen‘, wonach selbst Affen die Befindlichkeit anderer Tiere des Rudels auf Grund ihrer Körpersprache erkennen. Die Forschungen seither haben gezeigt, dass auch wir über die fest verdrahtete Fähigkeit verfügen, die Bewusstseinszustände anderer auf Grund ihres Verhaltens und ihrer Körpersprache empathisch zu decodieren. Der sprachphilosophische Gedanke hat also ein fundamentum in re, ohne dass damit das Ganze des Bewusstseins bereits verstanden wäre. Aber dieses Ganze hat auch sonst niemand im Griff, wie sich noch zeigen wird. Es scheint, dass uns von verschiedenen Seiten her immer nur bestimmte Aspekte des Rätsels ‚Bewusstsein‘ in den Blick kommen.

4. Bewusstseinsphilosophie

Üblicherweise wird heute davon ausgegangen, dass die Bewusstseinsphilosophie überholt sei. Sie sei eine rein historische, museale Größe. Die Sicherheit, mit der wir glauben, die Bewusstseinsphilosophie sei abgetan, verdankt sich einem Fortschrittsmodell der Philosophie, das drei Stadien oder Paradigmen unterscheidet: 1) Sein, 2) Bewusstsein, 3) Sprache. Danach soll, grob gerechnet, das Paradigma des Seins von den Griechen über das Mittelalter bis in die Neuzeit herrschend gewesen sein. Mit Descartes habe sich die Bewusstseinsphilosophie Bahn gebrochen, sie habe ihren Höhepunkt im Deutschen Idealismus erreicht, sei aber im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr in die Defensive geraten, bis dann Wittgenstein im 20. Jahrhundert den Umschwung zur Sprachphilosophie eingeleitet habe, die seither und bis heute herrsche.

Dabei wird unterstellt, dass das jeweils folgende Paradigma das alte in sich ‚aufhebt‘, das heißt, dass das neue Paradigma alles das leistet, was das alte geleistet hat, aber darüber hinaus noch viel mehr. Allerdings ist es sehr fraglich, ob es in der Philosophie einen unilinearen Fortschritt gibt. Aristoteles bedient sich in seiner Kategorienschrift sprachanalytischer Mittel, und die Seinsphilosophie ist heute keineswegs tot, wie man am Beispiel der Schriften von Lorenz B. Puntel sehen kann.83

Im Abschnitt über die Phänomenologie wurde gezeigt, wie sich Husserl auf Descartes bezieht, der zugleich aber auch der Urvater der Bewusstseinsphilosophie ist. Aber die Bewusstseinsphilosophie bezieht sich auf Descartes auf eine völlig eigenständige, originelle Weise. Einen anderen Weg ging der Deutsche Idealismus, wenngleich es nicht sinnvoll ist, Philosophen wie Fichte, Schelling oder Hegel über einen Kamm zu scheren. Insbesondere die Bewusstseinskonzeption Hegels ist ein eigner Fall.84 Hier soll vielmehr, wiederum skizzenhaft, aufgezeigt werden, welche Entwicklung die Bewusstseinsphilosophie im 20. Jahrhundert nahm. Wir beziehen uns also auf Autoren wie Wolfgang Cramer, Dieter Henrich und Manfred Frank, für die Tugendhat das Etikett der „Heidelberger Schule“ erfunden hat.85

4.1 Wolfgang Cramer

Wolfgang Cramer ist ein erratischer Block in der philosophischen Landschaft.86 Während andere an derselben Frankfurter Universität den Neomarxismus vorantrieben, arbeitete er unbeirrt an einer „Transzendentalontologie“, an verfeinerten Gottesbeweisen, die nicht den kantischen Gegenargumenten ausgeliefert sein würden, und an einer Erneuerung der Ontologie im alten Stil, wenn auch auf Subjektbasis. Obwohl er sich gerne auf Kant bezieht und manchmal sogar auf Hegel, ist sein Konzept im Prinzip neuartig. Im Folgenden orientieren wir uns an seiner Schrift „Grundlegung einer Theorie des Geistes“, die wohl einschlägig sein dürfte.

Ausgangspunkt für Cramer ist das cartesische „Cogito“, das er aber als präreflexives Innewerden deutet. Gegen den Mainstream der Reflexionsphilosophie möchte er „das Missverständnis abwehren, dass ein Bewusstsein dadurch, dass es sich auf sich richtet, Bewusstsein seiner selbst sei“87. Auf diesen entscheidenden Punkt ist später mehrfach zurückzukommen.

Vom „Cogito“ als Ausgangspunkt gehen seine Überlegungen aber ganz anders weiter als bei Husserl, denn Intentionalität spielt auf diesem Niveau zunächst keine Rolle. Cramer lehnt auch Descartes’ deduktive Methode für die Philosophie ab. Man könnte sagen, dass er sich hier eher an Kants Denkfigur der „Bedingungen der Möglichkeit“ orientiert, wenn man hinzufügt, dass er die kantische Restriktion auf bloße Phänomene in Frage stellt: „Allemal ist Wahrheit, Sein-Denken, das Prinzip des Denkens.“88 Dies heißt: Denken ist immer schon ontologiegesättigt, das aber nicht im idealistischen Sinn einer Identität von Denken und Sein wie bei Hegel. Andererseits hält Cramer an der Dialektik für das Bewusstsein fest, und so findet man immer wieder Sätze bei ihm, die auch in Hegels „Logik“ stehen könnten: „Die Monade ist Einheit von Realitäten differenter Seinsmodi. – Denn sie ist Sichbestimmen, das durch Nicht-Sichbestimmen bestimmt wird.“89 Solche dialektischen Sätze sind aber nicht eingebettet in eine umfassende Dialektik der „bestimmten Negation“, wie in Hegels Aufstieg zum absoluten Geist. So etwas gibt es bei Cramer nicht. Dass er von der „Monade“, manchmal sogar von einer „fensterlosen Monade“ spricht, ist einigermaßen erstaunlich, lehnt er doch Leibniz’ prästabilierte Harmonie ab und geht weiter davon aus, dass die Monaden echten Austausch untereinander und über die Wahrnehmung Austausch mit ihrer Umwelt haben oder dass sie konkret auf sie einwirken können. Aber vielleicht soll der Begriff der ‚Monade‘ hier nur so viel heißen, dass sich das Ich, insofern es bewusst ist, keiner anderen Instanz verdankt, weder der Gesellschaft noch der Natur und noch nicht einmal dem eigenen Leib.

Cramers Ich ist im Gegensatz zur Auffassung des Deutschen Idealismus eine durch und durch endliche Größe, übrigens auch zeitlich bestimmt, wenngleich die Zeit der subjektiven Erfahrung eine andere ist als die der Natur. Dieses Ich ist Ursprung des Denkens und erzeugt den Gedanken, indem es Einzelnes unter das Allgemeine subsumiert und dadurch Wissen hervorbringt. Im Gegensatz zu Husserl ist Denken für Cramer nicht vorsprachlich, sondern es drückt sich notwendigerweise verbal aus, denn: „Denken ist Versinnlichung, Hervorbringung von Sprache.“90

Diese Notwendigkeit des Ausdrucks gilt auch für das dem Denken zu Grunde liegende Ich. Es ist notwendigerweise organismisch inkarniert und verfügt über Rezeptivität, externe Organe und Stoffwechsel, und ist in eine ihm äußerlich bleibende Natur eingelassen. Cramer nennt auch die Tiere ‚Monaden‘, wenn auch keine denkenden. Pflanzen andererseits seien keine Monaden, bei denen man sich gleichwohl überlegen müsse, ob sie nicht eine Seele im aristotelischen Sinn hätten. Jedenfalls seien sie vom Tier zu unterscheiden, weil sie nur anorganische, keine organischen Stoffe gebrauchten.91

Insofern das Subjekt gedanklich in sich zurückkehrt, ist es Selbstbewusstsein: „Ein Selbst ist Zeitbewusstsein, Raumbewusstsein, Weltbewusstsein, Selbstbewusstsein.“92 „Weltbewusstsein“ heißt bei Cramer, wie bereits angemerkt, dass sich das Bewusstsein nicht phänomenologisch in einem bloßen Innenraum bewegt, sondern dass es immer schon bei der Welt und beim Anderen ist. Cramer würde hier also ähnlich argumentieren, wie es Heidegger gegen Husserl getan hat.

Er entwickelt dann eine praktische Philosophie, die sich eng an Kant anlehnt, ohne seinen Formalismus zu übernehmen, das heißt, er denkt sich eine materiale Werteethik immer zugleich zur Pflichtethik mit hinzu, und schließlich endet er mit einem Gottesbeweis, allerdings mit reduziertem Geltungsanspruch: „Wir müssen zwar Zeitliches durch den absolut gesetzten Geist denken, können aber, was hier Setzung oder Zeugung heißt, nicht bestimmen, da wir nur zeitliches Setzen kennen.“93 Das heißt: Im Prinzip ist uns, wie bei Thomas von Aquin, nur das Dass Gottes einsichtig, nicht aber sein Was oder seine Wesenheit.

Nach all dem wird man vielleicht etwas skeptisch sein, ob wir denn wirklich vom Organismus bis zum lieben Gott alles apriorisch aus dem Ich herleiten können. Aber es gibt, so Cramer, eine „Selbstbewegung des Selbst zu seinem Begriff“94. Das könnte auch Hegel gesagt haben. Nach Hegel denkt der Philosoph selbst nicht, sondern es denkt in ihm. Weil aber Cramer kein Idealist ist in dem Sinne, dass er an eine Tendenz des endlichen Geistes glaubt, mit dem unendlichen deckungsgleich zu werden, müssen seine Herleitungen in einem transzendentalen Sinne schon im Ich verborgen sein, und der Philosoph macht dann nur explizit, was in diesem Ich bereits enthalten ist. In anderen Schriften, wie etwa in „Das Ich und das Gute“, leitet er noch viel mehr ab, nämlich eine komplette christliche Liebesethik als Erfüllung des Gesetzes, indem er über Kant hinausgeht. Das heißt: Hier wird sogar der heilige Paulus zur Implikation des Ich. Das wirft prinzipielle Fragen auf, insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass Cramers unten darzustellende Nachfolger oft einen ganz anderen Begriff vom ‚Ich‘ haben.

Ist das, was sich in einem Begriff implizit verbirgt, so eindeutig bestimmt, dass wir daraus eine ganze Systematik mit apriorischem Anspruch ableiten können? Denkt sich denn jeder mit dem Begriff ‚Ich‘ genau dasselbe? Oder anders gewendet: Sind denn Begriffe wie Münzen mit einer eindeutigen Prägung, die in den Schmutz gefallen sind, so, dass der Philosoph nichts anderes tut, als sie blank zu reiben? Charles Sanders Peirce beklagt, es werde oft vergessen, „daß Begriffe wachsen“, dass es also eine „Abhängigkeit vom jeweiligen Wissensstand oder der Menge der verfügbaren Information“ gibt.95 Warum kommt diese naheliegende Schlussfolgerung bei Cramer nicht vor?

Es scheint, dass sie bei ihm deshalb nicht vorkommt, weil er eine Letztbegründung anstrebt, und die wäre auf Grund veränderlicher Begriffe nicht mehr denkbar. Folgen wir aber Peirce, dann wird verständlich, weshalb selbst die Nachfolger Cramers ihm in vielem nicht gefolgt sind. Es ist nämlich nicht nur so, dass sich Begriffe nur epochal verändern – es garantiert auch nichts, dass sich verschiedene Philosophen derselben Epoche beim Wort ‚Ich‘ dasselbe denken.

Es gibt noch einen anderen Aspekt, der hier wichtig ist: Der Übergang von Kant zu Fichte ist mit einem Verlust an Beziehbarkeit der Transzendentalphilosophie auf die Naturwissenschaft verbunden. Kant hat die „Kritik der reinen Vernunft“ so angelegt, dass die transzendentale Ästhetik und Analytik verständlich machen, wie wir Mathematik auf die Natur anwenden können, um Newtonsche Physik zu betreiben. Doch Fichte war mit dieser Physik nicht vertraut; er entwickelt seine Wissenschaftslehre so, dass sie die Aporien der kantischen Philosophie (insbesondere die Lehre vom „Ding an sich“) vermeidet. Der Bezug auf die konkreten Objekte in Raum und Zeit fällt jetzt aber lebensweltlich aus. Damit verliert die Transzendentalphilosophie den unmittelbaren Bezug zur Naturwissenschaft.

Es ist einigermaßen erstaunlich zu sehen, dass dies auch in Cramers „Grundlegung einer Theorie des Geistes“ der Fall ist. Das ist deshalb erstaunlich, weil Cramer (wie Husserl) zunächst als Mathematiker ausgebildet war. Doch in seiner „Grundlegung“ kommt weder die Mathematik noch ihre Anwendung in der Physik vor, und die Biologie wird nur am Rande erwähnt – etwa so, dass die Evolutionstheorie nicht imstande sei, das Denken kausal herzuleiten.

Wir haben gesehen, dass auch in der Entwicklung der Phänomenologie der Bezug zur Naturwissenschaft immer mehr aus dem Blick gerät, und das ist auch in der Entwicklung der Bewusstseinsphilosophie der Fall, wie sich noch zeigen wird. Das verschärft dann aber den Gegensatz zum Naturalismus. Der Naturalist findet keinen Gesprächspartner mehr, und das verstärkt die Isolation der Diskurse, wie sie gleich zu Beginn beklagt wurde.

4.2 Dieter Henrich

In der Tradition einer erneuerten Bewusstseinsphilosophie steht auch Dieter Henrich. Sein Konzept des Bewusstseins, das sich charakteristischerweise in seiner denkerischen Entwicklung stark veränderte, sieht in erster Näherung so aus:96

Es gibt eine dreifache Stufung oder eine dreifache Weise des Bewusstseins, die Henrich in einer eigenwilligen Diktion so benennt: Subjekt, Subjektivität, Person. Unter ‚Subjekt‘ versteht er, was man sonst das ‚transzendentale Subjekt‘ nennen würde; unter ‚Subjektivität‘ hingegen das empirische Subjekt, und unter ‚Person‘ das leiblich in Raum und Zeit präsente Subjekt. Das ist aber offenbar nicht so gemeint, als bestünden wir aus drei separierbaren Geistsubstanzen, sondern, wenn der Vergleich erlaubt ist, eher ‚trinitarisch‘: So, wie in der klassischen Trinitätslehre die Dreiheit der göttlichen Personen ihre substanzielle Einheit nicht aufhebt, so werden auch hier die drei Modifikationen des Bewusstseins als Einheit gedacht, wobei sie wie in der Trinität verschiedene Rollen spielen.

Das transzendentale Subjekt leistet die Beziehbarkeit auf die Totalität des Existierenden, aber nicht nur wie bei Kant und dessen rein epistemisch gedachten ‚Ideen‘; denn Henrich versteht diese Beziehbarkeit mit Cramer ontologisch, das heißt, dass wir von hier aus Ontologie im klassischen Sinn betreiben können, was den Phänomenologen verwehrt blieb, weil sie sich auf die Innenperspektive des Bewusstseins beschränkten.

Das empirische Subjekt vermittelt weiter zwischen dem transzendentalen und dem Leibsubjekt und zwar im Sinne eines Ausdrucksphänomens. Henrich will mit dieser dreifachen Stufung verhindern, dass das transzendentale Subjekt, wie in der Tradition von Kant bis Husserl, in seiner Beziehung auf das empirische unverstanden bleibt, und er will weiter verhindern, dass das Leibsubjekt ein isoliertes Eigenleben gewinnt, wie bei Merleau-Ponty oder Waldenfels.

Wichtig ist, dass Henrich den Begriff des ‚Ausdrucks‘ als eigenständige Größe einführt, wodurch es ihm gelingt, die Kunst an entscheidender Stelle in seine Bewusstseinsphilosophie zu integrieren. Sowohl im Alltag als auch in der Naturwissenschaft erlebten wir eine „primäre Welt“ der bloßen Korrelationen, während die Kunst in uns eine gewisse Resonanz erzeugt, die uns in „Integrationswelten“ aufgehen lässt, die erst den Bezug des Leibsubjekts zum empirischen und transzendentalen Subjekt mit Inhalt füllt und den Übergang zu einer Ontologie als Totalität des Existierenden möglich macht.97 Man fühlt sich an Hegel erinnert, bei dem auch die Kunst konstitutiv war für die Philosophie. Gegen den Deutschen Idealismus ist sich aber bei Henrich das Subjekt nicht in anschaulicher oder dialektischer Weise selbst gegeben. Es verdankt sich einem Grund, den es selbst nicht durchschaut, und die Reflexion auf diesen Grund führt dann im Sinne des späten Fichte auf den Gottesgedanken.

Ohnehin spielt Fichte eine große Rolle bei Henrich. Berühmt wurde sein Artikel „Fichtes ursprüngliche Einsicht“.98 Danach drückt Kant in seiner Selbstbewusstseinstheorie einen allgemeinen Konsens aus: Das Ich ist jener Akt, in dem das Subjekt des Wissens von allen konkreten Gegenständen absieht, um sich auf sich selbst zurückzuwenden. Dies sei jedoch ein Irrtum, weil dabei das Ich schon vorausgesetzt werden müsse. Henrich folgt hier offenbar Cramer.

Man könne diesen Irrtum auch „die Theorie vom Wesen des Ich als Reflexion“ nennen, und Fichte sei – so Henrich – der erste gewesen, der den circulus vitiosus durchschaut habe: Das Ich, das sich selbst setzt, sei die Alternative zum Reflexionsmodell, dem noch Husserl verhaftet bliebe. Henrich verfolgt dann diese „ursprüngliche Einsicht“ Fichtes durch seine verschiedenen Schriften, was im Einzelnen beliebig weit führt. Es fällt jedoch auf, dass Fichte ständig zu Metaphern greift, weil er es offenbar sonst nicht schafft, Differenzen in die differenzlose Einheit des Ich hineinzubringen.

Das ist in der Tat das Problem einer solchen Konzeption. Ist nämlich die Reflexionstheorie des Ichbewusstseins falsch, dann muss folglich das Ich mit Fichte präreflexiv gedacht werden. Ist aber das der Fall, dann verträgt es weiter keine Begriffsbestimmungen, mit deren Hilfe etwas unterschieden werden könnte, wenn denn Cramers weit ausladende Ich-Implikationen so nicht einsichtig sind. Es wird sich zeigen, dass sich dieses Problem vererbt: Manfred Frank rechnet sich selbst zu dieser „Heidelberger Schule“ und greift auch sehr oft auf Überlegungen Dieter Henrichs zurück.

4.3 Manfred Frank

Beim Übergang von Henrich zu Frank verschieben sich allerdings die Gewichte. Man wird bei Frank nichts zum transzendentalen oder Leibsubjekt oder zum Problem der Qualia finden. Er scheint hauptsächlich am Ich- oder Selbstbewusstsein interessiert. Der Ausfall des transzendentalen Subjekts führt dazu, dass die ontologische Frage ebenfalls verschwindet, denn bei Henrich wie bei Cramer war es die Bezogenheit des transzendentalen Subjekts auf die Totalität des Existierenden, die die Grundlage für eine metaphysische Ontologie bildete. Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, dass Manfred Frank seine Bewusstseinsphilosophie sprachphilosophisch absichert. Er greift auf Autoren wie Hector-Nero Castañeda, Sydney Shoemaker oder Roderick Chisholm zurück, die die Eigenständigkeit des Bewusstseins sprachphilosophisch rekonstruieren, was einfach nur zeigt, dass die konkurrierenden Analysen Wittgensteins und der Wittgensteinerianer nicht allein aus der ‚Grammatik‘ der natürlichen Sprache abgeleitet waren, sondern dass sie auf einer zuvor getroffenen Entscheidung über Semantik beruhten. Castañeda zum Beispiel zeigt, dass das auf sich selbst referierende Pronomen ‚ich‘ sprachlich eine ganz andere Rolle spielt als die anderen Pronomina. ‚Ich‘ muss zum Beispiel nicht durch Allgemeinbegriffe gekennzeichnet werden, um zu referieren. Das passt nicht in Freges häufig akzeptierte Semantik, wonach alle Bezugnahme auf Einzelgegenstände durch Allgemeinbegriffe vermittelt sein muss.

Es passt aber auch nicht in die von Peter Strawson vertretene Position, wonach eine Identifikation von Einzeldingen in Raum und Zeit nur möglich ist mit Hilfe von Indexicals, denn das Ichbewusstsein ist durch gar nichts vermittelt, und es ist falsch, wenn Strawson und später dann Tugendhat unterstellen, dass wir uns auf Bewusstseinszustände gar nicht direkt identifizierend ausrichten können, ohne zunächst die Person als zeiträumliche Größe bestimmt zu haben. Das ‚Ich denke‘ verträgt gar keine zeiträumliche Identifikation. Diese Unvermitteltheit des Ich- oder Selbstbewusstseins wird jetzt aber nicht einfach introspektiv gewonnen, sondern am Sprachgebrauch festgemacht, der zeigen soll, dass Beobachter- und Betroffenenperspektive nicht zusammenfallen.99

Nach Frank geben die Sprachanalytiker allen Sätzen über Bewusstsein die Form einer propositionalen Einstellung: „Ich weiß, dass p“. Das heißt also, dass das Selbstbewusstsein ein Wissen ist. Man kann nach diesem Konzept nicht ein Erlebnis, ein Ich, ein Selbst usw. wissen, und die präreflexive Selbstvergewisserung fällt aus. Aus der Einsicht in den präreflexiven Charakter des Ichbewusstseins lässt sich auch ein entscheidendes Argument gegen die materialistischen Repräsentationstheorien gewinnen, denn solche Theorien müssen eine Differenz zwischen Sein und Erscheinung einführen (schließlich gibt es Fehlrepräsentationen). Diese Differenz zwischen Sein und Erscheinung ist aber mit dem Bewusstsein unverträglich, und dann ergibt es auch keinen Unterschied mehr, ob wir das Selbstbewusstsein im Sinne einer ‚Higher Order Monitoring Theory‘ oder einer ‚Same Order Monitoring Theory‘, das heißt als eine Meta- oder Selbstrepräsentationstheorie begreifen.

Von Franks Standpunkt aus lässt sich auch ein Einwand gegen die heute so beliebten intersubjektivistisch-genetischen Theorien des Selbstbewusstseins formulieren, wie sie zum Beispiel George Herbert Mead, Jürgen Habermas oder Axel Honneth vertreten. Man muss schon mit sich vertraut gewesen sein, bevor man sich im Dialog gespiegelt durch die anderen erkennt, denn: „Das Selbstbewusstsein ist nicht abgeleitet aus etwas, das als ihm vorherbestehend gedacht werden könnte“100, und das gilt auch für Antonio Damasios „autobiographisches Selbst“. Nach Damasio existieren wir, solange wir imstande sind, eine Geschichte über uns zu erzählen. Aber das ist schon rein empirisch falsch. Kleine Kinder sagen lange vorher ‚ich‘, bevor sie eine kohärente Geschichte erzählen können, und bei Alzheimerpatienten ist es umgekehrt so, dass sie immer noch ein Ichbewusstsein haben, auch nachdem ihnen die Fähigkeit abhanden gekommen ist, eine kohärente Geschichte über sich zu erzählen.

Wir haben also nach Frank ein präreflexives, nichtrelationales Ichbewusstsein. Dieses Ichbewusstsein kennt von daher keine Unterscheidungen. Aber wie sollen wir es dann verstehen, dass wir zugleich in der Zeit sind, also Personen, die sich aus der Vielheit der zeitlichen Bezüge als Identische rückgewinnen, oder wie sollen wir es verstehen, dass dieses einsame, gleichsam autistische Ich jemals sozial auf andere Personen bezogen sein kann? Mit einem Satz: Wie kommt Vielheit in diese unterschiedslose Einheit des Ich?

Das war schon Sartres Problem, der auch eine solche Theorie des präreflexiven Ichbewusstseins vertrat. Bei Sartre gebe es eine „leere, darum ihre Durchsichtigkeit nicht beschädigende Dyade“, eine „irreale Versöhnung“ des Bewusstseins, „nicht zu sein, was es ist, und zu sein, was es nicht ist“, die „Differenzierung einer vormaligen Einheit“, und man fühle sich hier stark an Hegels „Identität der Identität und der Nichtidentität“ erinnert.101 Aber das sind Verbalerklärungen. Was soll eine „irreale Versöhnung“ des Bewusstseins sein, „nicht zu sein, was es ist, und zu sein, was es nicht ist“? Und der Verweis auf Hegel greift auch nicht. Die hegelsche Philosophie beruht selbstverständlich auf dem Prinzip einer „Identität der Identität und der Nichtidentität“, aber genau diese nachträgliche Identifizierung der Gegensätze hat doch Frank immer wieder kritisiert!

Manchmal bezieht sich Frank auf Schelling, bei dem es keine „Identität der Identität und der Nichtidentität“ gibt, sondern eine absolute, nicht weiter differenzierbare ursprüngliche Einheit. Bei Schelling gebe es in der absoluten Identität den Unterschied des Reellen und des Ideellen, eine ins Unendliche gehende und eine beschränkende Tätigkeit. Diese Differenz sei aber rein virtuell.102 In der Tat, so ist es bei Schelling, aber dann fragt man sich doch, wie diese virtuellen Differenzen als eine bloße Potenzialität aktuiert werden? Kommt diese Aktuierung von außen, dann war die Identität nicht absolut, und von innen kann sie als „reine Potentialität“ auch nicht kommen. Es versteht sich, dass solche Spekulationen Schellings sich auf dem höchsten Niveau der metaphysischen Abstraktion abspielen, aber logisch gesehen haben wir beim empirischen Ich, von dem Manfred Frank ausschließlich handelt, dasselbe Problem: Wie kommt das präreflexiv gedachte Ich jemals aus seiner splendid isolation heraus, wenn der Seinsstatus des Ich nur negativ bestimmt ist?

Frank fragt sich an einer bestimmten Stelle: „Woher rührt eigentlich die Furcht, Individualität in den Rang eines Erklärungsprinzips zu erheben?“103 Das heißt also: Wenn wir doch nicht imstande sind, das Ichbewusstsein aus irgend etwas abzuleiten, was es nicht schon ist, wieso erheben wir es dann nicht in den Rang eines explanans statt eines explanandum? Das wäre in der Tat eine sinnvolle Strategie, aber dann müsste eine Neuinterpretation der Ontologie erfolgen, wie wir das bei den Protopanpsychisten, also bei David Chalmers und Thomas Nagel, gesehen haben. Wir müssten dann nämlich die ständig wiederholte Frage der Naturalisten beantworten: Wie kommt eigentlich ein so merkwürdiges ‚Ding‘ wie das Bewusstsein in die Welt, da es offenkundig ein sehr spätes Produkt der Evolution ist und da es Eigenschaften aufweist, die wir sonst in der Natur nirgends mehr vorfinden? Diese Frage der Naturalisten hat Frank nicht beantwortet. Bei ihm ist mit dem transzendentalen Subjekt auch die Ontologie verloren gegangen.

Insgesamt gibt es bei Frank eine Ausdifferenzierung der Bewusstseinsphilosophie, die aber zugleich mit einem Verlust verbunden ist. Wir sehen also, dass auch Franks Bewusstseinskonzept keine glatten Lösungen anbietet, wie das auch sonst bei allen hier behandelten Autoren der Fall war. In seinem Buch „Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis Sartre“ beschreibt Frank die Entwicklung dieser Theorien offenbar mit der Erwartung, dass sie ein gewisses Telos enthalten könnten, enttäuscht aber am Ende sich und seine Leser.104 Die Geschichte der Bewusstseinsphilosophie enthält keine Lehre. Sie konvergiert nicht gegen einen Grenzwert, und wir sehen uns stattdessen mit einer Fülle von Standpunkten konfrontiert, die einmal mehr deutlich machen, dass wir das Bewusstsein letztlich nicht auf den Begriff gebracht haben, was nicht hindert, dass bei einer solchen philosophischen Begriffsarbeit dennoch echte Einsicht zu Tage gefördert wird – hier vor allem die Einsicht in die Unableitbarkeit des Ichbewusstseins, die in allen anderen philosophischen Richtungen so nicht hinreichend beachtet wird.

Michael Pauen meint, es spräche nichts dagegen, Subjekten, die über die Fähigkeit der Selbstzuschreibung verfügten, ein präreflexives Selbst im Sinne von Frank zuzubilligen.105 Ja, aber dann stellt sich doch die Frage, ob dieser Rekurs auf Frank noch mit Pauens dezidiertem Naturalismus verträglich ist. Ein Ich, das sich vorgängig zu allen materiellen Bezügen selbst erfasst, sprengt jeden naturalistischen Rahmen. Wir haben also auch hier, wie in allen anderen Bewusstseinskonzepten, außer dem spekulativen Materialismus eine sehr wohl zu bewahrende Einsicht.

5. Fazit

Es gibt keinen Ansatz, der das Rätsel des Bewusstseins einfach nur ‚lösen‘ würde, ohne gravierende Einwände auf sich zu ziehen. Von daher könnte man sich zu skeptischen Schlussfolgerungen gedrängt fühlen und mit Colin McGinn an den Versuch einer Quadratur des Zirkels glauben, die es auch nicht gibt. Oder wir würden etwas weniger radikal, aber immer noch skeptisch genug, mit Thomas Nagel schließen, dass die Wissenschaft in ihrer derzeitigen Form unfähig ist, das Rätsel des Bewusstseins zu lösen und durch eine ganz andere Art von Wissenschaft ersetzt werden müsste.

Diesem Skeptizismus liegt eine unrealistische Erwartungshaltung zu Grunde – die Erwartungshaltung nämlich, dass es in jedem Fall glatte Lösungen für alle Probleme geben müsse, so, wie wir in der Physik über eine glatte Lösung der Planetenbewegungen verfügen, oder wie wir die Viskosität des Wassers endgültig erklären können. Aber solche glatten Lösungen gibt es nur in Sonderfällen. Je umfassender die Begriffe werden, desto vielfältiger ihre Inhalte. Aus diesem Grund verfügen wir auch nicht über klare Definitionen von ‚Kausalität‘ oder ‚Information‘, und eines der beeindruckendsten Beispiele von Unklarheit ist der Begriff des ‚Lebens‘. Obwohl es sich um den Grundbegriff der Biologie handelt, lässt er sich kaum bestimmen, und alle Versuche einer Definition sind entweder zu eng oder zu weit oder beides zugleich, und noch nicht einmal notwendige Bedingungen, die immer die schwächsten sind, lassen sich hier formulieren. Rechnet man Stoffwechsel zu diesen notwendigen Bedingungen, dann sind Viren keine Lebewesen. Besteht man auf Sterblichkeit, dann sind gewisse Einzeller keine Lebewesen, da sie sich in infinitum teilen können. Rechnet man Fortpflanzung dazu, dann sind Maulesel keine Lebewesen, oder wenn man räumliche Abgeschlossenheit dazu rechnet, dann sind Erdbeeren, Pilze oder Korallen keine Lebewesen, da sie keine klaren Grenzen haben. Umgekehrt zeigen Gebilde Eigenschaften des Lebendigen, die wir nicht dazu rechnen würden, wie Kerzenflammen, die Stoffwechsel haben, Kristalle, die sich vermehren, oder Computerprogramme der artificial life-Technologie, die fast alle Eigenschaften des Lebendigen aufweisen.

Aber wenn dem so ist, wenn wir selbst den Begriff des ‚Lebens‘, der doch fundamental ist für die Biologie, nicht klar definieren können, weshalb sollte es dann beim Bewusstsein anders sein? Man hat zu Recht gesagt, dass die Physik nicht weiß, was Materie ist106, dass die Psychologie keinen Begriff von ‚Seele‘ hat und eben die Biologie keinen Begriff des ‚Lebens‘. Aber wenn es sich so verhält, dann könnten wir auch anders denn skeptisch reagieren.

Dann könnten wir davon ausgehen, dass die verschiedenen Versuche, sich dem Bewusstsein zu nähern, alle etwas Wahres enthalten, ohne dass diese Teilwahrheiten sich zu einem kohärenten Gesamtbild integrieren lassen. Wir müssen auch sonst in der Wissenschaft oft mit Collagen zufrieden sein. Die verschiedenen Teile der Biologie hängen zum Beispiel deduktiv nicht zusammen. Der Verhaltensforscher arbeitet mit ganz anderen Kategorien als der Molekularbiologe. Oder: Seit 100 Jahren versuchen die Physiker, den quantenphysikalischen Messprozess zu verstehen, jedoch ohne klares Ergebnis. Die Messgeräte werden in Termen der klassischen Physik beschrieben, die allerdings im Widerspruch zu den Eigenschaften der Quantenobjekte steht. Oder: Trotz heroischer Versuche gibt es bis heute keine allgemein anerkannte Verbindung von Allgemeiner Relativitätstheorie und Quantentheorie.

Aber wenn dem so ist, dann wäre es vielleicht nützlich, die verschiedenen Ansätze, die sich mit dem Bewusstsein beschäftigen, als komplementäre Wahrheiten aufzufassen, deren Grenzen uns nicht stören sollten, so wie sich kein Physiker darüber ärgert, dass er bei einer präzisen Messung des Impulses eines Quantenobjekts die Ortskoordinate aus dem Blick verliert und umgekehrt.