Mystik der All-Einheit oder Mystik der Relation?Martin Bubers Eckhart-Rezeption in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext

Zusammenfassung / Summary

Gemeinhin gilt Martin Bubers Dialogphilosophie als direkter Gegenentwurf zu allen mystischen Einheitslehren, zumal sich Buber selbst in späteren Jahren von seiner anfänglichen Faszination für die Mystik ausdrücklich distanziert hat. Der vorliegende Aufsatz will den Gründen für Bubers antimystische Kehrtwende nachgehen und insbesondere untersuchen, welche Rolle dabei Gustav Landauers Eckhart-Interpretation zukommt. Landauer deutet Eckharts Ansatz als pantheistische Einheitsmystik und lässt den intellektmetaphysischen Aspekt seines Denkens völlig außer Acht. In Wirklichkeit versteht Eckhart das Verhältnis zwischen dem Ich Gottes und dem Ich des Menschen jedoch als bleibende Differenz, die die ethische Verantwortlichkeit des Menschen gerade nicht aufhebt, sondern vielmehr begründet. Bubers Ich und Du erscheint somit paradoxerweise als die eigentlich angemessene Rezeption von Eckharts Denken, auch wenn Buber der Überzeugung ist, mit diesem Werk seine Faszination für die Mystik gerade überwunden zu haben. 

Martin Buber’s Philosophy of Dialogue is commonly considered the very opposite of all forms of fusional mysticism, all the more so because Buber, after having been genuinely fascinated by the mystical paradigm during his early period, subjects it to thorough criticism during his later years. This paper intends to examine the reasons for Buber’s anti-mystical turn, and in particular the role that Gustav Landauer’s interpretation of Eckhart’s thought may have played in this development. As a matter of fact, Landauer reads Eckhart as a mystic of pantheistic unity and completely ignores his metaphysics of the intellect. However, it is precisely Eckhart’s concept of the intellect that allows him to conceive the relationship between the divine “I” and the human “I” as ineliminable difference which does not abolish, but on the contrary, constitute man’s ethical responsibility. One may therefore conclude that Buber’s I and Thou, while written with the explicit intention to overcome mysticism as such, is paradoxically a far more adequate interpretation of Eckhart’s thought than Buber’s earlier writings.

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DOI: https://doi.org/10.23769/thph-92-2017-161-191

1. Die Renaissance der Eckhartschen Mystik im frühen 20. Jahrhundert

Es gibt wohl kaum einen geistesgeschichtlichen Begriff, der schillernder, vieldeutiger und mit stärkeren positiven wie negativen Konnotationen behaftet ist als der Begriff der Mystik. Die einen betrachten ihn als Inbegriff der Erfüllung all jener geheimen Sehnsüchte, die von keiner Art des innerweltlichen Erlebens, aber auch von keiner der bereits bestehenden, organisierten Religionen befriedigt werden können. Den anderen hingegen gilt er als Synonym eines verhängnisvollen Irrationalismus, der sich unter Berufung auf die Unmittelbarkeit des individuellen Erlebens dem Anspruch auf vernünftige Begründung verweigert und sich aus dem Bereich des logischen Diskurses in die Sphäre des vieldeutigen Schweigens zurückzieht. Die starken Reaktionen, die der Terminus „Mystik“ bis heute hervorruft, erscheinen umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass sich die Geschichte des damit beschriebenen Phänomens keineswegs mit der Geschichte seiner begrifflichen Bezeichnung deckt. Viele große Gestalten der Geistesgeschichte, die heute als Mystiker bezeichnet werden, haben in ihren Schriften das Wort „Mystik“ selten oder gar nicht verwendet1; umgekehrt wurde seit der Aufklärung der Begriff der Mystik von seiner spezifisch religiösen Bedeutung gelöst und in pejorativer Weise auf alle Formen des Irrationalismus und des enthusiastischen Schwärmertums angewendet, die sich im Namen eines diffusen Gefühls- und Erlebnispathos den Ansprüchen des begrifflich-argumentativen Denkens zu entziehen suchen2.

Die Vieldeutigkeit dessen, was mit „Mystik“ jeweils gemeint ist, prädestiniert diesen Terminus wie kaum einen anderen dazu, in Zeiten geistiger Krisen als Katalysator zu fungieren, um das jeweils Bestehende in Frage zu stellen und die Komplexität der Wirklichkeit unter Berufung auf eine wie immer verstandene prädiskursive Einfachheit, Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit zu unterlaufen. Dies führt dazu, dass bestimmte mystische Autoren der Vergangenheit in periodischen Abständen eine Renaissance erleben, und zwar vornehmlich diejenigen, deren mystischer Denkansatz möglichst weit gefasst und an wenige oder gar keine konfessionellen Voraussetzungen gebunden ist. Dies ist der wohl wichtigste Grund dafür, dass von allen christlichen Mystikern gerade Meister Eckhart eine derart breite und bis heute ungebrochene Faszination ausübt. Andere große Gestalten der abendländischen Mystik, wie zum Beispiel Bernhard von Clairvaux, Johannes Tauler, Heinrich Seuse, Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz oder Therese von Lisieux, sind trotz aller Unterschiede zwischen ihren jeweiligen spirituellen Ansätzen doch stets von einem gemeinsamen christozentrischen Grundkonsens getragen. Das mystische Erleben besteht demnach in einer direkten, persönlichen Begegnung oder sogar einem unmittelbar erlebten Einswerden mit Christus, nicht aber im Verschwinden der Gestalt Christi als solcher und dem Aufgehen des Mystikers in einer absolut differenzlosen All-Einheit.3

Im Gegensatz zu diesen klassischen Formen der christlichen Mystik, bei denen die Gestalt Jesu in ihrer konkreten, historischen Individualität von bleibender Relevanz ist, zeichnet sich Meister Eckhart dadurch aus, dass er das Ereignis der Menschwerdung des Logos nicht als ein ausschließliches Privileg der individuellen Person Jesu begreift, sondern es als ein universales Geschehen deutet, das sich in jedem Menschen, insofern er Mensch ist, auf gleiche Weise und in gleich hohem Maße vollzieht.4 So wenig Meister Eckhart je daran gedacht hätte, die Bedeutung Jesu zu leugnen oder das Christentum als solches in Frage zu stellen, so sehr bietet sein Denken doch Ansatzpunkte für eine interkonfessionelle, interreligiöse, areligiöse oder sogar offen atheistische Deutung und Rezeption. Nicht zufällig wird er daher zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade von vielen Intellektuellen und Schriftstellern wiederentdeckt, die nicht mehr in der christlichen Tradition stehen, sondern mit Nietzsche den „Tod Gottes“ und das damit einhergehende Dahinfallen jeder Vorstellung einer weltüberhobenen Transzendenz konstatieren.5

Die Erwartung, in Meister Eckhart einen Gewährsmann für den Primat des unmittelbaren Erlebens und die Vorstellung einer pantheistischen Immanenz des Göttlichen in der Welt zu finden, ist zwar, objektiv betrachtet, ein Irrtum6, erklärt sich aber weitgehend daraus, dass über lange Zeit hinweg lediglich seine mittelhochdeutschen Predigten und Traktate, nicht aber seine scholastisch geprägten lateinischen Werke bekannt und zugänglich waren. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die verlorengeglaubten lateinischen Schriften nach und nach wiederentdeckt und ediert, doch blieben außerhalb der mediävistischen Fachkreise auch danach die mittelhochdeutschen Texte für das Eckhartbild der meisten Leser bestimmend, zumal sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest teilweise auch in preiswerten neuhochdeutschen Übersetzungen vorlagen.7 Der im Vergleich zu den lateinischen Werken weniger technisch anmutende Sprachduktus der deutschen Predigten, gepaart mit Eckharts Vorliebe für kühne Metaphern und äußerst gewagte Formulierungen, war sicher ein wesentlicher Grund für die außerordentliche Breitenwirkung, die sein Denken im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entfalten konnte. Die fehlende Rückbindung an das stärker begrifflich-argumentativ verfahrende lateinische Schriftwerk hatte zur Folge, dass man in die oft geheimnisvoll und erratisch wirkenden Sätze seiner deutschen Predigten so gut wie alles hineinlesen und Eckhart zu einem Gegner des scholastischen Denkens stilisieren konnte.8 Der Umstand, dass Eckhart gerade kein Vertreter einer ekstatischen Erlebnismystik, sondern vielmehr ein ausgesprochener Vernunftmystiker ist, blieb dabei weitgehend unberücksichtigt.

Noch ein weiterer Umstand trug dazu bei, Eckharts Denken gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland populär zu machen. Die Tatsache, dass er sich in seinen Predigten und Traktaten des Mittelhochdeutschen in derart brillanter, faszinierender und sprachschöpferischer Weise bedient, wurde als Indiz dafür gewertet, dass er sich vom Lateinischen als der „sterilen“ Universalsprache der scholastischen Gelehrsamkeit abgewandt und die deutsche Muttersprache als Ausdrucksmittel des religiösen Empfindens und individuellen Erlebens rehabilitiert habe.9 Diese Auffassung, die zwar nicht gänzlich falsch, in ihrer Einseitigkeit jedoch irrig ist und ebenfalls aus der Nichtbeachtung von Eckharts lateinischen Werken resultiert, bot die Rechtfertigung dafür, Eckhart in einem emphatisch nationalen oder sogar nationalistischen Sinne als „deutschen Mystiker“ zu bezeichnen und ihn zum Ahnherrn einer Genealogie des deutschen Geistes in deutlicher Abgrenzung von den anderen europäischen Nationen, Sprach- und Kultursphären zu stilisieren. 10 Das Bild von „Eckhart dem Deutschen“ wurde somit zu einer idealen Projektionsfläche für all diejenigen, die aus philosophischen, ideologischen oder politischen Gründen dem Gedanken einer gemeinsamen menschlichen Natur und einer universalen, allgemeingültigen Rationalität ablehnend gegenüberstanden. So kam es, dass Eckhart am Vorabend des Ersten Weltkriegs sowohl zum Begründer als auch zum metaphysischen Schutzpatron jenes „deutschen Wesens“ stilisiert wurde, das es mit kriegerischen Mitteln gegen die angeblich so flache, utilitaristische Mentalität der westeuropäischen Staaten (vor allem England und Frankreich) zu verteidigen galt.11

Sowohl Martin Bubers temporäre Begeisterung für Meister Eckharts Denken als auch sein späteres Abrücken von der Mystik als solcher und seine Hinwendung zur Dialogphilosophie lassen sich als Ergebnis dieser charakteristisch verzerrten und vereinseitigten Eckhart-Rezeption im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts deuten. Was Buber zunächst begeistert feiert und später verwirft, ist in beiden Fällen nicht Eckhart selbst, sondern Eckhart, wie er ihm durch den Filter der zeitgenössischen Instrumentalisierungen und ideologischen Vereinnahmungen erscheint. Zwei Grundfragen spielen dabei eine zentrale Rolle: zum einen nämlich, ob Mystik in jedem Fall mit einem Verschwinden jeder Form von Differenz gleichbedeutend ist, und zum anderen, ob die mystische Grundhaltung notwendigerweise auf einen Rückzug in die Sphäre des innerseelischen Erlebens und ein potenziell unethisches Sich-Abkapseln gegenüber den Mitmenschen hinausläuft. Bubers spätere Distanzierung von der Mystik ist offensichtlich von der Überzeugung getragen, dass – zumindest mit Blick auf die christliche beziehungsweise fernöstliche Mystik – beide Fragen pauschal mit Ja zu beantworten sind. Dabei liegt jedoch die Vermutung nahe, dass diese Schlussfolgerung einer zu undifferenzierten Sicht der Mystik geschuldet ist, die speziell mit Blick auf Meister Eckhart nicht zutrifft.

Im Folgenden wird zunächst untersucht, aus welchen Quellen Buber seine Kenntnis von Meister Eckharts Denkansatz schöpft und inwiefern diese sein Verständnis der Mystik vereinseitigt beziehungsweise verfälscht haben. In einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, inwiefern Meister Eckharts Philosophie des „Ich“, die er vor allem in seinen lateinischen Schriften, aber auch in den deutschen Predigten entfaltet, gerade nicht einem mystischen Verschwinden aller Differenzen das Wort redet, sondern vielmehr die absolute Differenz zwischen der Ebene der vernünftigen Subjektivität und der Sphäre der dinglichen Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. Auch wenn es bei Eckhart noch nicht, wie bei Buber, um „Ich und Du“, sondern um den Bezug von „Ich“ und „Ich“ geht, so fasst er dennoch das „Ich“ als etwas, das gerade nicht von dieser Welt ist, sondern vielmehr diejenige Ebene darstellt, auf der nicht nur Mensch und Gott, sondern alle Menschen als Vernunftwesen einander begegnen können. Gerade weil Eckhart dieses „Ich“ nicht als leere logische Funktion, sondern als Spontaneität und Freiheit begreift, erweist sich seine Mystik nicht als eine Form des quietistischen Rückzugs in die eigene Innerlichkeit, sondern vielmehr als eine Mystik des ethischen Wirkens nach außen hin, die mit Bubers späterer Betonung der religiös motivierten Weltzugewandtheit sehr viel mehr gemeinsam hat, als man dies auf den ersten Blick annehmen könnte. Der dialogphilosophische Ansatz, den Buber in Ich und Du entwirft, versteht sich zwar als klare Abkehr von seinem früheren Ideal der Mystik als ekstatischer Einheitserfahrung, ist gerade deswegen aber dem echten Meister Eckhart sehr viel näher, als Buber dies vermutlich geahnt hat.

2. Das Eckhartbild Martin Bubers

2.1 Die lebensphilosophische Grundausrichtung von Bubers frühem Denken

Martin Bubers Interesse für die Mystik im Allgemeinen und Meister Eckhart im Besonderen ist wesentlich durch den starken Einfluss der Lebensphilosophie motiviert, die sich auf der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Gefolge von Nietzsche und Dilthey herausbildet und in deutlichem Gegensatz zur zeitgenössischen Transzendentalphilosophie neukantianischer Prägung steht. Trotz ihrer unterschiedlichen, vom naturalistischen Biologismus und Vitalismus bis zum geisteswissenschaftlichen Historismus reichenden Ausprägungen12 stimmen die lebensphilosophischen Strömungen doch darin überein, dass sie tendenziell vernunftskeptisch eingestellt sind und dem unmittelbaren Erleben gerade unter philosophischen Gesichtspunkten die größere Authentizität gegenüber der begrifflichen Erkenntnis zugestehen. Diese Infragestellung des klassischen Vernunftparadigmas führt zugleich zu einer tiefgreifenden Krise der Sprache als der traditionell wichtigsten Ausdrucksform von Wahrheit. Innerhalb des lebensphilosophischen Denkschemas hat sie nur noch die Funktion, die Welt in einer für den Menschen handhabbaren Weise zu strukturieren und zu konsolidieren,13 vermag gerade deswegen aber prinzipiell nicht zur „wahren Wirklichkeit“, das heißt: zur Wirklichkeit, wie sie in sich selbst ist, vorzudringen. Diese gilt als permanent im Fluss befindlich und nur dem unmittelbaren „Erleben“ zugänglich, das auf die Sprache und ihre logisch-zergliedernde Funktion verzichtet.

Die lebensphilosophisch motivierte Skepsis gegenüber der Sprache richtet sich also letztlich gegen deren metaphysisches Fundament – das heißt gegen die Vorstellung, es gebe unter dem Fluktuieren der Erscheinungen feste Substanzen mit bleibenden Eigenschaften – und damit gegen ihren begrifflichen Universalanspruch. Unter diesem Gesichtspunkt ist verständlich, weshalb viele Lebensphilosophen die Mystik als wichtige Inspirationsquelle betrachten – ist doch ein gemeinsames Grundmotiv aller mystischen Traditionen die Überwindung der begrifflich-kategorialen Sprache zu Gunsten einer unmittelbaren Intuition beziehungsweise eines nicht mehr diskursiv zu vermittelnden Gefühls beziehungsweise Erlebnisses. Die Mystik geht jedoch noch in einer weiteren Hinsicht mit der lebensphilosophischen Metaphysikkritik konform; wird doch im ekstatischen Erlebnis des Mystikers nicht nur die herkömmliche Begrifflichkeit, sondern ebenso auch die klare Abgrenzung der je eigenen Individualität vom Rest der Wirklichkeit hinfällig. Die Frage ist lediglich, in welche Form von kollektiver, universaler oder absoluter Wirklichkeit hinein – Menschheit, Natur, Welt oder Gott – die empirische Personalität des Mystikers mitsamt seinem Individualbewusstsein aufgehoben werden soll.

Rudolf Otto hat in seinem 1926 erschienenen Standardwerk West-östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung die verschiedenen Grundformen und Typen der europäischen wie außereuropäischen Mystik systematisiert und mit begrifflicher Präzision voreinander abgegrenzt. Dabei bescheinigt er Meister Eckhart in zutreffender Weise, dass dessen Mystik gerade nicht einem Verschwinden aller Differenzen das Wort rede, sondern sich vielmehr durch eine lebendige Polarität zwischen dem Einen und dem Vielen auszeichne.14 Auch bezeichnet Otto die eckhartsche Einheitsschau zutreffend als „Erkenntnis“, ja sogar als „Spekulation“, und grenzt diese Form der intellektbasierten Mystik deutlich von den anderen mystischen Grundformen – der Naturmystik, Erlebnismystik und Illuminatenmystik – ab.15 In Martin Bubers frühen Schriften, die vor dem Erscheinen von Rudolf Ottos Buch entstanden sind, lässt sich jedoch eine eher unscharfe Verwendung des Mystikbegriffs, vor allem mit Blick auf Meister Eckhart, beobachten. Buber kennt zu diesem Zeitpunkt offenbar keine wirkliche Differenzierung zwischen spekulativer Intellektmystik, ekstatischer Affektmystik und pantheistischer Naturmystik, sondern subsumiert das Phänomen der Mystik insgesamt unter dem Begriff des „als übermenschlich empfundenen Erlebnisses“16.

Diese mangelnde begriffliche Präzision erklärt sich zum einen daraus, dass Buber selbst sich der akademischen Philosophie gegenüber eher fremd fühlt und daher einen ausgesprochen antisystematischen Denkansatz verfolgt.17 Es geht ihm nicht darum, sich in einer historisch akkuraten und philosophisch- theologisch differenzierten Weise mit der Mystik auseinanderzusetzen; vielmehr soll sich die Rezeption der mystischen Autoren durch dieselbe Unmittelbarkeit und lebendige Direktheit auszeichnen wie das mystische Erleben selbst. Diese in hermeneutischer Hinsicht nicht unproblematische methodologische Grundoption ist zum anderen auch der Grund dafür, dass Buber in Bezug auf seine Quellen nicht wählerisch ist und sich vornehmlich an denjenigen Eckhart-Interpreten orientiert, die unter bewusstem Verzicht auf die philosophie- und theologiegeschichtliche Kontextualisierung seines Denkens einen unmittelbaren, von rein subjektiven Interessen geleiteten Zugang zu „ihrem“ Eckhart suchen.

2.2 Die Hauptquellen für Bubers Eckhart-Kenntnis

Um Bubers Eckhartbild richtig einordnen zu können, ist es wichtig, das spezifische Profi l der ihm zur Verfügung stehenden modernen Textausgaben von Eckharts Werken näher zu untersuchen. Diese wurden von ihren Herausgebern bewusst nicht mit dem Anspruch auf historisch-philologische Korrektheit erarbeitet, sondern als mehr oder weniger freie Adaptionen konzipiert, die das angeblich „Unbrauchbare“ und „Schwerverständliche“ in Eckharts Werken von vornherein aussortieren und in selektiver Weise nur das wiedergeben, was unmittelbar einleuchtend und einer zeitgenössischen Aktualisierung zugänglich ist. Die ideologischen Akzentuierungen sind dabei durchaus unterschiedlicher Natur und rangieren von einer atheistischanarchistischen Interpretation Eckharts bis hin zu seiner Vereinnahmung für einen deutschnationalen, antikatholischen beziehungsweise antikonfessionellen „Neuentwurf“ des Christentums. Obwohl diese Ansätze der Eckhart-Deutung nicht selten auf gegensätzlichen Grundvoraussetzungen beruhen und somit in weiten Teilen miteinander inkompatibel sind, lässt sich Buber jedoch offenkundig von beiden beeinflussen. Dieser Umstand wirkt zunächst irritierend, erklärt sich aber letztlich daraus, dass für ihn, ebenso wie für die meisten lebensphilosophischen Denker, nicht die systematische inhaltliche Kohärenz der unterschiedlichen Positionen entscheidend ist, sondern vielmehr deren gleich hoher Grad an radikaler Ursprünglichkeit und existenzieller Authentizität.

2.2.1 Gustav Landauers Eckhart-Ausgabe und seine Eckhart-Rezeption

Wie aus Bubers Schriften hervorgeht, ist seine Kenntnis Meister Eckharts wesentlich durch Gustav Landauer vermittelt,18 der sich in seinem 1903 erschienenen Werk Skepsis und Mystik ausdrücklich auf Eckhart bezieht und im gleichen Jahr unter dem Titel Meister Eckharts mystische Schriften eine Auswahl aus Eckharts deutschen Predigten und Traktaten in neuhochdeutscher Übersetzung publiziert. Schon das Vorwort zu dieser Teilausgabe ist ein charakteristisches Beispiel für die Unbekümmertheit, ja Beliebigkeit, die viele Eckhart-Interpreten des frühen 20. Jahrhunderts im Umgang mit den Texten an den Tag legen. Landauer gibt im Vorwort zu seiner Anthologie offen zu, dass es ihm gar nicht um ein historisch korrektes Eckhart-Bild geht – im Gegenteil. Laut eigenem Bekunden hat er „alles weggelassen, was uns nichts sagt“, um Eckhart „als Lebendige[n] auferstehen“19 zu lassen. Seines Erachtens ist „das allermeiste, was von ihm überliefert ist, für uns völlig wertlos geworden […], da es nur logisches Wortgetiftel [sic!] ist“20. Diese Einschätzung ist zunächst Ausdruck eines damals weitverbreiteten Negativklischees in Bezug auf das scholastische Denken insgesamt. Landauers Willkür im Umgang mit der Textgrundlage geht jedoch so weit, dass er nicht nur viele deutsche Texte Eckharts gänzlich ausklammert, sondern selbst die Predigten, die er übersetzt, nach Belieben kürzt und sogar in künstlicher Weise „Fragmente“ erzeugt, indem er in bruchstückhafter Weise einzelne Sätze oder kurze Passagen aus Predigten herausgreift, die seines Erachtens „im übrigen die Übertragung nicht lohnen“21.

Diese extrem reduktionistische und eklektische Sicht des eckhartschen Denkens ist durch Landauers spezifisches Vorverständnis dessen bedingt, was Mystik seines Erachtens leisten soll beziehungsweise leisten kann. Eckharts These, der zufolge das Allgemeine, also der Gattungs- und Artbegriff, eine höhere Wirklichkeit darstellt als das Individuelle, wird von Landauer nicht nur, wie es eigentlich sachlich korrekt wäre, als Ausdruck eines platonischen Begriffsrealismus gedeutet, sondern auch schon als eine Vorwegnahme der biologischen Theorien Darwins und Lamarcks interpretiert, bei denen ebenfalls die Gattungen und nicht die Individuen im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen.22 Auch unterschlägt Landauer die ausgesprochen intellektualistische Ausrichtung von Eckharts Mystik und deutet diese vielmehr in dem Sinne, dass der Unterschied zwischen Gott und Welt zu Gunsten einer immanentpantheistischen Vorstellung der „Gottheit“ aufgelöst werde.23 Die Ersetzung des für Eckhart so wichtigen Begriffs des Intellekts durch die Vorstellung einer „Weltseele“ beziehungsweise „Allbeseelung“ (Panpsychismus) erlaubt es Landauer, Eckhart als den Verkünder eines „innigen Versinkens in der unsagbaren Welt“ zu präsentieren und ihn damit als Vorläufer für sein eigenes Projekt einer „Überschreitung der Grenzen der Sprache“24 in Anspruch zu nehmen. In Skepsis und Mystik, das in direkter Anknüpfung an Fritz Mauthners Sprachkritik verfasst wurde, stellt Landauer Meister Eckhart als einen „Skeptiker“ dar, der von der Unerkennbarkeit Gottes überzeugt gewesen sei und daher das „seelische Erleben“, genauer gesagt, die Überführung der individualpsychischen Erfahrung in das „Welt-Ich“, in den Mittelpunkt gerückt habe.25 Dabei verfälscht Landauer bewusst den Wortlaut und die Aussageabsicht der von ihm angeführten Eckhart-Zitate und -Anspielungen, indem er dort, wo Eckhart ausdrücklich von Gott spricht, den Begriff „Welt“ einsetzt.26

Eckhart erscheint demnach nicht mehr als Vernunftmystiker, sondern als Erlebnismystiker, bei dem die individuelle Existenz des religiösen Menschen nicht in Gott, sondern in der allbeseelten Welt aufgeht.27 Gleichzeitig bescheinigt Landauer Eckhart jedoch ein „Entzücken über seine tiefen Stunden und Verzückungen“, das vom psychologischen Standpunkt aus nichts anderes gewesen sei als das „Staunen über seine eigene Genialität“28. Einerseits unterstellt er Eckhart vom immanenten Standpunkt seiner mystischen Lehre aus also eine panpsychische Weltsicht, die auf die Auflösung des Individualbewusstseins hinausläuft; andererseits deutet er Eckhart aus der Außenperspektive in individual psychologischer Hinsicht als einen typischen Vertreter des genialischen Selbstbewusstseins. Dieser zweite Aspekt verstärkt den Eindruck, dass es in der Mystik nicht nur um einen religiösen Universalismus, sondern auch und mindestens ebenso sehr um einen absoluten Individualismus religiös besonders begabter Einzelpersönlichkeiten geht.

Insgesamt gesehen, hat die Mystik bei Landauer allerdings keinen dauerhaft individualistischen Charakter, sondern soll gerade dazu dienen, die Entstehung einer neuen, gerechteren Form menschlicher Gemeinschaft vorzubereiten. Die mystische Vereinzelung des Menschen soll ihn von falschen Formen des Selbst- und Weltverständnisses reinigen und dazu befähigen, anschließend zu anderen Menschen in herrschafts- und entfremdungsfreie Formen der Beziehung zu treten.29 Der Begriff der „Welt“, in dem das Individual- Ich aufgehen soll, hat bei Landauer demnach keine primär kosmologische Konnotation, sondern ist wesentlich auf menschliche Beziehungsgefüge bezogen, die gerade keine völlige Verschmelzung zulassen, sondern notwendigerweise Differenz voraussetzen. Allerdings ist dies ein Aspekt, der erst in seinen späteren Schriften, Revolution und Aufruf zum Sozialismus, klar zum Ausdruck kommt.30 In Skepsis und Mystik dominiert dagegen die sprach- und vernunftskeptische Dialektik zwischen individuell-mystischer Genialität einerseits und der durch sie erlebten Aufhebung des individuellen Ich in das Universal-Ich der Welt andererseits, so dass in der Tat der Eindruck entstehen kann, dass der Wesenszug aller Mystik in der Negation sämtlicher Formen der menschlichen Gemeinschaft liegt.

2.2.2 Herman Büttners Eckhart-Ausgabe

Martin Bubers geistiger Werdegang ist bekanntlich eng mit dem Verlag Eugen Diederichs verknüpft, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinem Verlagsprogramm die Absicht verfolgt, „eine Rückkehr zur höheren, transzendenten Realität“ zu fördern.31 In diesem Verlag veröffentlicht Buber 1909 seine Ekstatischen Konfessionen, die eine Sammlung mystischer Selbstzeugnisse aus den verschiedensten Religionen, Kulturräumen und Zeitaltern beinhalten. Im gleichen Jahr erscheint jedoch auch – ebenfalls bei Diederichs – die neuhochdeutsche Eckhart-Ausgabe von Herman Büttner, die zwar eine umfassendere und weniger stark veränderte Auswahl von Eckhart-Texten bietet als die von Gustav Landauer verfasste Eckhart-Anthologie, in ihrer ideologischen Verfremdung und Vereinnahmung Eckharts aber nicht weniger ungeniert verfährt. Die Stoßrichtung ist dabei deutlich nationaler, um nicht zu sagen nationalistischer Natur. In seinem Vorwort schreibt Büttner in Bezug auf das Verhältnis von Eckharts lateinischem und deutschem Schriftwerk:

In den lateinischen Schriften steht die ontologische oder theologische, in den deutschen die psychologische oder religiöse Seite seines „Grundbegriffes“ im Vordergrund. […] Er war eben ein Deutscher, der Meister Eckehart! Hier redet er seine „unbedachten Worte, die gekommen sind aus dem Herzen Gottes ohne jede Vermittlung“ – auch ohne die Vermittlung der Scholastik!32

Damit wird der intellektmystische Ansatz in Eckharts deutschem Predigtwerk psychologisiert und von der „intellektualistische[n] Philosophie des Thomas“33 in polemischer Weise abgegrenzt. Eckharts Mystik erscheint folglich als individualisierte Form christlicher Religiosität und gerade deshalb als direkter Gegenentwurf zur institutionalisierten Religion des kirchlichen Christentums, das laut Büttner „im germanischen Volksgeiste immer ein Fremdkörper“34 gewesen sei. Die polemische Abgrenzung von individuell gelebter und offiziell institutionalisierter Frömmigkeit wird somit noch um den nationalistisch angehauchten Gegensatz zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem damit angeblich inkompatiblen „Germanentum“ ergänzt. Dieser Antagonismus ist eine beliebte rhetorische Figur, die schon in der antikatholischen Kulturkampfpolemik des späten 19. Jahrhunderts Verwendung findet,35 in den Jahren unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugleich aber auch einer religiös-metaphysisch gefärbten Überhöhung des Deutschtums gegenüber allen anderen europäischen Nationen den Boden bereitet.

Beide Aspekte sind, wie sich zeigen wird, auch für Bubers Ansatz von Relevanz. Zum einen ist auch seine Sicht der Mystik vom Gegensatz zwischen konfessionell institutionalisierter, tradierter „Religion“ und persönlich-individueller „Religiosität“ bestimmt36; zum anderen leistet die Psychologisierung von Eckharts Ansatz dem Eindruck Vorschub, als handele es sich dabei gar nicht mehr um objektive, universale Wahrheit, sondern um den genialischen Ausdruck eines völkerpsychologischen (in diesem Fall „germanischen“) Spezifikums, das auf der individualpsychischen Ebene seine Verwirklichung und Fortsetzung in einem besonders gearteten „unmittelbaren Erleben“ findet. Diese Auffassung ermöglicht es Buber, seiner späteren Kriegsrhetorik mühelos einen mystischen Anstrich zu geben und dabei die Frage nach der objektiven Wahrheit und ethischen Legitimität der jeweiligen Beziehung zum Absoluten völlig auszuklammern.

2.3 Martin Bubers Mystikverständnis von der Frühphase bis zum Ersten Weltkrieg

Bubers Sicht auf das Phänomen der Mystik im Allgemeinen und Meister Eckhart im Besonderen orientiert sich zunächst vornehmlich an Landauers frühen Schriften, ohne die spätere sozialutopische, auf eine Neugestaltung menschlicher Beziehungen abzielende Komponente seines atheistischen Mystikbegriffs zu berücksichtigen.37 Insbesondere scheint er Landauers These übernommen zu haben, der zufolge Eckharts Mystik als skeptische Reaktion auf das scholastische Denken zu verstehen sei. Diese plakative Gegenüberstellung von Mystik und Scholastik wird von Buber zum ersten Mal in seiner 1904 entstandenen Dissertation Zur Geschichte des Individuationsproblems ausgesprochen. In dieser Arbeit befasst er sich mit der Problematik des Verhältnisses von Individualität und Universalität unter primär philosophischen beziehungsweise philosophiegeschichtlichen Gesichtspunkten. Dabei legt Buber besonderes Augenmerk auf den erstmaligen Durchbruch einer positiven philosophischen Bewertung des Individuums im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit, namentlich bei Cusanus und Jakob Böhme.

Buber charakterisiert das Mittelalter als eine „zwischen Mystik und Scholastik, das heißt zwischen die Verallgemeinerung der persönlichen Ekstase und die ontologische Dialektik geteilte Epoche“38. Die angebliche Unvereinbarkeit von Mystik und Scholastik, die Landauer und Büttner postulieren, steht also auch für Buber außer Frage. Im Rahmen seiner Dissertation fungiert die mittelalterliche Mystik jedoch hauptsächlich als Negativfolie, da seines Erachtens das Individuum dort – anders als später bei Cusanus und Böhme – in sich keine philosophische beziehungsweise theologische Dignität besitze, sondern nur, insofern es Träger eines überindividuellen, transzendenten Erlebens sei, das die Unterschiedenheit des Geschaffenen gerade zum Verschwinden bringe.39 Buber zitiert an dieser Stelle einen längeren Passus aus Meister Eckharts deutscher Predigt Nr. 2, in der es um das „Fünklein der Seele“ als Ort der Unterschiedslosigkeit und des Dahinfallens aller Differenzen geht. Allerdings definiert Buber dieses Abstreifen aller Individualität und Unterschiedenheit als eine „Intuition des Weltgrundes“40, ohne die Frage näher zu problematisieren, ob dieser nun mit Gott beziehungsweise der Gottheit identisch ist oder nur im kosmologisch-immanenten Sinne verstanden werden soll.

Die starke Beeinflussung durch Landauers selektive und bisweilen deutlich verfremdende Eckhart-Übersetzung und Eckhart-Deutung ist der wohl wichtigste Grund dafür, dass auch Buber die Mystik in derart einseitiger Weise als Verschmelzung von Ich und Welt versteht, obwohl dies nur eine mögliche Form des mystischen Erlebens darstellt und zudem für Eckharts Mystik eindeutig unzutreffend ist. Allerdings versteht Buber sowohl die einzelne Gestalt des Mystikers als auch die „Allheit“, in der das individuelle Bewusstsein versinken soll, in einer anderen Weise als Landauer. Die mystische Vereinzelung fungiert bei Buber nicht als Durchgangsstadium auf dem Weg zur wahren menschlichen Gemeinschaft im religiösen oder sozialen Sinne, sondern ist vielmehr Synonym absoluter Einsamkeit und Nichtmitteilbarkeit.41

Im Vorwort zu seinen Ekstatischen Konfessionen entwickelt Buber seine Konzeption der Mystik in eine Richtung, die über Landauers Ansatz und die von ihm verwendete Begrifflichkeit hinausgeht. Der Umstand, dass Buber die Mystik als solche scheinbar umstandslos mit der ekstatischen Mystik gleichsetzt, ist insofern bedeutsam, als er damit nicht nur das traditionelle Paradigma der Erkenntnis übersteigt, sondern auch über das Begriffsregister des „religiösen Erlebnisses“ im gemeinschaftsstiftenden Sinne hinausgeht.42 Ekstase ist für Buber nicht, wie die Etymologie des Wortes eigentlich nahelegen würde, ein Heraustreten aus den Grenzen der eigenen Individualität zu Gunsten einer direkten Begegnung mit Gott beziehungsweise dem Absoluten, sondern vielmehr „ein Erlebnis, das aus der Seele selbst in ihr wächst, ohne Berührung und ohne Hemmung, in nackter Eigenheit“43. So verstanden, ist die Ekstase also gerade nicht ein „Außersich-Sein“ im klassischen Sinne, sondern vielmehr das Verschwinden jeder Form von Äußerlichkeit und Andersheit und damit auch die Aufhebung der Möglichkeit jeder Begegnung.44 In deutlichem Gegensatz zu Ernst Troeltsch, der die Mystik als eine soziologisch relevante Form religiöser Gemeinschaftsbildung versteht,45 ist für Buber das mystische Erleben daher gleichbedeutend mit „religiösem Solipsismus“. Demnach vollzieht sich das Verschmelzungserlebnis mit dem Absoluten in Form des Weltgrundes ganz allein in der innerseelischen Sphäre des Mystikers als eine gesteigerte Form der Selbstwahrnehmung, die für nichts mehr Raum lässt als allein für die schiere Intensität des Erlebens selbst und den Verlust aller Bezüge zu anderen Menschen und Dingen zur Folge hat.46

Dennoch stellt dieses von radikaler Negation aller Relationalität und inhaltlichen Bestimmtheit geprägte „Entwerden der Seele“, wie Buber es für Eckhart und die deutsche Mystik insgesamt als typisch ansieht, in seinen Augen gleichsam den Goldstandard dafür dar, was mystisches Erleben sein sollte. In einem 1905–1906 entstandenen Text mit dem Titel „Die jüdische Mystik“ vergleicht er den Chassidismus mit anderen mystischen Traditionen philosophischer beziehungsweise religiöser Art (Plotin, Meister Eckhart, Lao-Tse) und kommt dabei bezeichnenderweise zu dem Schluss, im Vergleich zu diesen wirke die jüdische Mystik „ungleichmäßig“, „trüb“ und „manchmal kleinlich“47. Interessanterweise macht er diesen Unterschied daran fest, dass „der Jude nicht in Substanz, sondern in Relation“48, also nicht als monolithisches, ruhendes Ansichsein, sondern als beziehungshaftes Für-anderes-Sein, existiere. Dieses Spezifikum des Judentums und somit auch der jüdischen Mystik, so positiv Buber es auch zu deuten versucht, erscheint ihm zu diesem Zeitpunkt jedoch noch als eine gewisse Unvollkommenheit, da seines Erachtens Mystik im Vollsinn des Wortes die Aufhebung jeder Relationalität und das unterschiedslose Aufgehen im Absoluten verlangt.

Hand in Hand mit dieser Konzeption der mystischen Ekstase als absoluter Vereinzelung geht die Ablehnung jeder Form von sprachlicher Vermittlung. Als Beleg für diese Auffassung beruft sich Buber auf ein Zitat aus einem Traktat, der damals noch Meister Eckhart zugeschrieben wurde, sich mittlerweile allerdings als nicht authentisch herausgestellt hat.49 Dort heißt es:

Nun spricht […] die Braut im Hohenliede: Ich habe überstiegen alle Berge und all meine Vermögen, bis an die dunkle Kraft des Vaters […], damit meint sie ein Überschreiten aller Rede, die sie irgend üben kann aus ihren Vermögen, – bis an die dunkle Kraft des Vaters, wo alle Rede endet.50

Nach diesem vermeintlichen Eckhart-Zitat fährt Buber fort:

So ganz über die Vielheit des Ich, über das Spiel der Sinne und des Denkens gehoben, ist der Ekstatiker auch von der Sprache geschieden, die ihm nicht folgen kann. […] Sprache ist Erkenntnis: Erkenntnis der Nähe oder Ferne, der Empfindung oder der Idee, und Erkenntnis ist das Werk des Getriebes, in ihren größten Wundern ein gigantisches Koordinatensystem des Geistes. Aber das Erleben der Ekstase ist kein Erkennen.51

Das Ich ist für Buber demnach gerade nicht der Punkt absoluter Einheit des Bewusstseins, sondern noch eine Vielheit, die es zu überwinden gilt, und die Ekstase ist folglich auch keine besonders geartete, übernatürliche Form des Erkennens, sondern die Negation aller Erkenntnis. Allerdings ist der Begriff der Ekstase nicht eindeutig definiert, sondern wird von Buber auf zwei verschiedene Bewusstseinsphänomene angewendet. Im Vorwort zu den Ekstatischen Konfessionen bestimmt er die Ekstase zunächst als ein Erleben der Einheit von Ich und Welt, wobei diese Einheit aber keinen „Inhalt“ des Erlebens mehr darstellt, „sondern das, was unendlich mehr ist als aller Inhalt“52. In dem ein Jahr später (1910) entstandenen kurzen Text „Mystik als religiöser Solipsismus“ wird dagegen das Ich zwar ebenfalls mit dem psychischen Individualbewusstsein gleichgesetzt, doch postuliert Buber nunmehr, dass dieses sich durch die Ekstase in einem besonderen Verhältnis „zu einem als Gott empfundenen Seeleninhalt“53 befindet. In diesem Falle hat das mystische Erleben also offenbar noch einen konkreten – wenngleich besonders gearteten – Inhalt, nämlich Gott. Das Kriterium für die Echtheit des mystischen Erlebens ist aber auch in diesem Falle rein subjektiver Natur, da es offenbar lediglich auf die Intensität des Empfindens ankommt und die Frage ausgeklammert bleibt, ob der empfundene Inhalt tatsächlich mit dem Namen „Gott“ bezeichnet werden darf oder nicht.

Diese immanente Gewissheit des absoluten Empfindens „jenseits von Gut und Böse“ stellt die Mystik damit auf ein ethisch neutrales Terrain. Wenn es letztlich kein objektives inhaltliches Kriterium für die Echtheit oder Unechtheit des mystischen Erlebens gibt, folgt daraus, dass sich alle Menschen mit demselben Recht auf ganz gegensätzliche Vorstellungen von Gott beziehungsweise dem Absoluten berufen können, ohne dass die eine dieser Vorstellungen „richtiger“ oder „falscher“ wäre als die andere. Dieser ethische Relativismus ist der Hauptgrund dafür, dass Buber in der Zeit des Ersten Weltkriegs den patriotisch aufgeheizten Kampf der verschiedenen europäischen Nationen gegeneinander ebenfalls nach dem Paradigma der Mystik deuten kann.54 Die bedingungslose Bereitschaft, sich an der Front für das eigene Land aufzuopfern, erscheint somit als politisches Äquivalent des „Absterbens“ und „Aufgehens“ des eigenen Individual-Ich im Absoluten. Die Stärke der subjektiven Überzeugung, sich für das „große Ganze“ aufzuopfern, ersetzt damit die Frage nach der objektiven Rechtmäßigkeit des Krieges und der jeweiligen Kriegshandlungen der beteiligten Staaten. Auch wenn die verfeindeten Nationen objektiv unvereinbare politische Positionen vertreten, können nach Bubers Ansicht die Kämpfer aller beteiligten Parteien auf einer höheren Ebene doch eine Gemeinschaft bilden, sofern sie nur mit der gleichen Unbedingtheit für ihre jeweiligen Ziele eintreten.55 Das fehlende Ethos von Bubers subjektivistisch verengtem Mystikbegriff ebnet somit einem schwärmerischen Kriegspathos den Weg, das gleichfalls nicht mehr die Frage nach Wahrheit und Irrtum, nach Recht und Unrecht stellt, sondern sich in der Affirrmation seiner eigenen Absolutheit genügt.

Bezeichnenderweise ist es Landauer, der Buber für seine mystisch unterbaute Kriegsschwärmerei scharf kritisiert und ihn in dieser Hinsicht zum Umdenken bewegt.56 Allerdings hat es nicht den Anschein, dass Buber damit auch die wesentlich soziale Stoßrichtung von Landauers späterem Mystikverständnis übernommen hätte. Insofern ist es verständlich, dass Buber sich nach 1916 nicht nur von seiner eigenen Kriegsrhetorik zu distanzieren beginnt, sondern zugleich auch von der Mystik insgesamt, da ihm diese mit seinem neuen Paradigma der ethisch motivierten Dialogphilosophie unvereinbar erscheint.57 Interessanterweise macht sich Buber dabei aber gerade Denkfiguren und -strukturen zu eigen, die sich fast wortwörtlich auch bei Meister Eckhart finden – nicht obwohl, sondern gerade weil dieser eine besonders geartete Form der Mystik vertritt, die nicht einfach unter die anderen Formen der mystischen Religiosität subsumierbar ist. Mit seiner Hinwendung zur Dialogphilosophie stößt Buber den ideologisch verzerrten Eckhart ab, den ihm Landauer, Büttner und andere Vertreter der zeitgenössischen, tendenziell irrationalistischen Lebensphilosophie vermittelt haben, und wendet sich dabei in Wirklichkeit dem „wahren Eckhart“ zu, wohl ohne es zu wissen und ohne die Unterschiede zwischen Eckhart und den anderen Formen der Mystik wirklich zur Kenntnis zu nehmen.

3. Die eckhartianischen Grundzüge von Bubers späterer Dialogphilosophie

Schon an bestimmten rein äußerlichen Faktoren lässt sich ablesen, dass Meister Eckhart innerhalb von Bubers religionsphilosophischem Werk eine Sonderstellung einnimmt. Angesichts von Bubers breit gefächertem Interesse für die verschiedenen Strömungen der Mystik im Allgemeinen und der christlichen Mystik des Mittelalters im Besonderen ist es auffallend, dass er den Thüringer Dominikaner zwar an einigen zentralen Stellen seines Werks erwähnt beziehungsweise zitiert, in die Textsammlung seiner Ekstatischen Konfessionen aber keinen einzigen Auszug aus seinen deutschen Predigten und Traktaten aufnimmt. Vertreten sind lediglich die Eckhart-Schüler Heinrich Seuse und Johannes Tauler (genauer gesagt, ein pseudo-taulerischer Text)58, und wie man den Druckfahnen entnehmen kann, hatte Buber auch noch die Absicht, die im Umfeld Meister Eckharts entstandene, aber nicht von diesem selbst verfasste Legende der „Schwester Katrei“ abzudrucken59, die sich auch schon in Landauers Anthologie findet60. Gleichwohl ist auffallend, dass er angesichts der Fülle von christlichen Mystikern des Mittelalters, die er zitiert, das reiche Textkorpus von Meister Eckharts deutschen Predigten und Traktaten außen vor lässt. Diese Tatsache wirkt wie das stillschweigende Eingeständnis, dass Eckharts Ansatz sich letztlich nicht in das von Buber entworfene Schema der ekstatischen, auf subjektiver Intensität des Erlebens beruhenden und begriffl ich nicht mehr vermittelbaren Mystik fügen will, sondern dem Bezug zwischen Gott und der Seele von vornherein ein anderes Denkschema zu Grunde legt.

3.1 Die systematischen Grundstrukturen von Meister Eckharts relationaler Intellektmystik

Die in Bubers Ekstatischen Konfessionen versammelten Texte sind, wie ihr Name schon sagt, individuell-persönliche Erlebniszeugnisse der verschiedenen Mystiker. Ein Blick in Eckharts deutsche Texte lässt dagegen erkennbar werden, dass er nie von eigenen mystischen Erlebnissen oder ekstatischen Zuständen berichtet. Dort, wo Eckhart im direkten, biographischen Sinne „ich“ sagt, geht es nicht um Berichte über irgendwelche besonderen Ereignisse seines geistliches Seelenlebens, sondern um Begebenheiten, Gedanken und Erlebnisse, die einen ganz und gar alltäglichen Charakter haben und grundsätzlich jedem Menschen zugänglich und verständlich sind. So referiert er beispielsweise in durchaus humorvoller Weise bestimmte spannungsgeladene Episoden aus den philosophisch-theologischen Universitätsdebatten der damaligen Zeit oder berichtet von bestimmten schlichten Beobachtungen, die er auf dem Weg zu seinen Zuhörern machen konnte und die ihn zu gewissen Predigtgedanken inspirierten.61 All diese kleinen persönlichen Einsprengsel haben jedoch einen ganz natürlichen Charakter und sind in keiner Weise an Entrückungen, Visionen oder ähnliche übernatürliche Phänomene gekoppelt.

Dieser Umstand ist keineswegs ein Zufall, sondern besitzt eine hohe systematische Aussagekraft. Zwar ist Meister Eckhart als Dominikaner unter anderem mit der Seelsorge in Nonnenklöstern beauftragt und kennt sich insofern mit den dort praktizierten Formen der ekstatischen Affektmystik bestens aus, doch macht er keinen Hehl daraus, dass er diese Formen der geistlichen Verzückung und visionären Erlebnismystik sehr kritisch sieht. Der Grund dafür liegt darin, dass diese übernatürlichen Phänomene die Gefahr eines Sich-Ergehens in den eigenen religiösen Gefühlen und der egozentrischen Abkapselung gegenüber dem Nächsten in sich bergen. Daher rät Meister Eckhart nachdrücklich zur geistlichen Nüchternheit und macht seinen Zuhörerinnen und Zuhörern begreiflich, dass eine einfache, konkrete Tat der Nächstenliebe vor Gott weit mehr wert ist als das abgehobene Schwelgen in ekstatischen Entrückungszuständen, die nur der privaten Erbauung des Mystikers dienen und die Grenzen seiner empirischen Person daher gerade nicht überwinden.62

Auch Eckharts Verständnis von Sprache und Denken steht im Widerspruch zu Bubers Ansicht, dass sich Mystik als solche grundsätzlich nicht versprachlichen lasse. In der Einleitung zu den Ekstatischen Konfessionen charakterisiert Buber das Sprechen des Mystikers teil als „Reden in Bildern, Träumen, Gesichten“, als „Stammeln“, aber auch „als Macht und Melodie“63. Demnach bleibt der Mystiker nicht notwendigerweise einfach stumm, doch hat dort, wo er sich äußert, sein Sprechen keinen logisch-begrifflichen Charakter und vermittelt auch keine Erkenntnis mehr, sondern ist nur noch subjektiv- literarisches Zeugnis des Unsagbaren. Bei Meister Eckhart dagegen ist die Betonung der zentralen Rolle der Vernunft für die Einheit mit Gott unübersehbar, zumal er Gott selbst ausdrücklich als „Erkenntnis“ beziehungsweise „Erkennen“ (intellectus / intelligere) bestimmt.64 Insofern für Eckhart die Vernunft Gottes und die Vernunft des Menschen vom Wesen her dieselbe ist, stellt auch die äußerlich hörbare, menschliche Sprache kein Hindernis für die Artikulation der Einheit mit Gott dar, sondern ist im Gegenteil der Ort, wo die schöpferische Macht des göttlichen Logos in besonderer Weise erfahrbar wird.65

Wohl betont auch Eckhart, dass der Mensch von seiner kreatürlichen Individualität lassen muss, wenn Gott in ihn eingehen soll, doch besteht dieser Vorgang der Entindividualisierung nicht in einem ekstatisch erlebten, unterschiedslosen Aufgehen in der Welt beziehungsweise dem Weltgrund, sondern in einem Leben gemäß der Vernunft (intellectus), die „reine Substanz“ (mera substantia) und als solche gänzlich „ohne Eigenschaften“, also ohne individuelles „Dies und das“ ist.66 In gewisser Weise knüpft Eckhart damit an die aristotelische Erkenntnistheorie an, die gleichfalls einen wesenhaften Unterschied zwischen dem erkennenden Intellekt (noûs) und der von ihm erkannten Wirklichkeit postuliert: So wie das Auge selbst farblos sein muss, um alle Farben sehen zu können, so darf auch der Intellekt nichts von all dem sein, was ist, gerade um alles, was ist, erkennen zu können.67 Das menschliche Vernunftvermögen ist somit nicht Teil der materiellen Dingwelt, sondern verfügt über eine qualitativ andere Wirklichkeitsform, nämlich die der reinen Offenheit und Aufnahmefähigkeit, die es ihm ermöglicht, zu allem, was ist, gleichermaßen auf erkennende Weise in Beziehung zu treten.

Diese Einsicht ist zunächst einmal Gemeingut all jener antiken und mittelalterlichen Philosophen, die auf dem Boden der aristotelischen Intellekttheorie stehen. Meister Eckharts Spezifikum besteht nun darin, dass er nicht nur in der Perspektive der 3. Person über den Intellekt redet, so als sei er nur eine „Sache“ höherer Ordnung, sondern den akthaften Vollzug dieses Vernunftvermögens in die unveräußerliche Erste-Person-Perspektive des „Ich“-Sagens hineinverlegt. Dieses „Ich“ ist jedoch nicht mit der kreatürlichen Einzelseele der jeweiligen empirischen Person identisch und auch kein bloßer Teil von ihr, sondern stellt auf Grund seiner kausal nicht abzuleitenden Spontaneität eine Manifestation absoluter Ursprunghaftigkeit dar, die als solche „nicht von dieser Welt“68 ist, sondern über-natürlichen, ja göttlichen Charakter hat.69 Allerdings legt Eckhart größten Wert darauf, dieses „Ich“ nicht monolithisch zu deuten, so als verschwände das Bewusstsein des Menschen im göttlichen Ich, sondern vielmehr als Ursprungsrelation, die deutlich macht, dass bereits Gott als solcher und ebenso der Mensch, insofern er Vernunftwesen ist, gar nicht außerhalb dieser intersubjektiven Bezüglichkeit existieren kann.

Meister Eckhart macht diese These an seiner Auslegung von Exodus 3,14 fest. Gemäß der Vulgata-Übersetzung dieses Verses (Ego sum qui sum) wird dabei nicht so sehr das absolute Sein Gottes im statisch-substanziellen Sinne ausgesagt als vielmehr die reflexive Dynamik seines ichhaften Selbstbewusstseins. Dabei deutet Eckhart die zweimalige Nennung des sum nicht einfach als eine leere Tautologie, sondern als Hinweis darauf, dass Gott selbst bereits von Ewigkeit her als untrennbarer Bezug von ego und alter ego existiert.70 Als christlicher Theologe deutet Eckhart dies als Hinweis auf die trinitarische Struktur Gottes, in der die Einheit des göttlichen Wesens sich nicht monolithisch, sondern in der gleichursprünglichen Differenz der Personen verwirklicht und entfaltet. Die wesentlich intersubjektive Bezüglichkeit des göttlichen Ich hängt jedoch nicht ausschließlich von dieser trinitarisch-immanenten Interpretation von Exodus 3,14 ab, sondern gilt auch im Hinblick auf das göttliche Wirken ad extra. So steht für Eckhart fest, dass der Offenbarungsbezug Gottes zum Menschen prinzipiell nicht in der Mitteilung irgendwelcher „Inhalte“ besteht, sondern sich ebenfalls nur in der Begegnung zweier gleichermaßen über der Dingwelt stehender „Ich“-Instanzen vollziehen kann. In seinem Kommentar zu Exodus 33,18 („Zeige mir dein Angesicht“) schreibt Eckhart:

Daß er aber sagt „mir“, lehrt, daß solche Schau denen, die reinen und lauteren Herzens sind, zuteil wird. Denn das Fürwort bezeichnet die reine Substanz unter Ausschluß alles andern. [...] Der Mensch ist nämlich durch den Intellekt Mensch. Das ist sein (Wesen) und ihm eigentümlich, daß er Intellekt hat. Der Intellekt aber ist es eigentlich, womit wir die Klarheit Gottes schauen. „Zeige mir“, sagt er, „deine Herrlichkeit“.71

Diese reine Begegnung des göttlichen Ich mit dem Ich des Menschen ist demnach eine absolute, korrelative Beziehung zweier vernünftiger Bewusstseinszentren, die nicht etwas über sich mitteilen (also keine partikulären Eigenschaften), sondern restloses Sich-Aussprechen und reine Selbstmanifestation sind.

Lebt der Mensch seinem ungeschaffenen, reinen Ich gemäß, so hat er schon in diesem Leben von seiner individuellen Personalität und der damit verbundenen Einengung auf das partikuläre, kreatürliche „Dies und das“ gelassen und ist Teil der göttlichen Lebensdynamik.72 Dieser Vorgang vollzieht sich bei Meister Eckhart allerdings nicht in Form eines besonderen ekstatischen Erlebnisses, das innerseelischer Natur wäre, sondern vielmehr durch die Freilegung unseres wahren, intellektuellen Ich, das als schlechthin einfache, reine Substanz die Relation nicht wie ein Akzidens in sich aufsaugen kann, sondern durch diese wesentlich auf die Äußerlichkeit eines anderen „Ich“ – und zwar sowohl auf das absolute Ich Gottes als auch auf das Ich des Mitmenschen – verwiesen ist.73 Das Heraustreten des Menschen aus seiner kreatürlichen Verengung führt somit nicht zu einem Dahinfallen aller Differenzen und zu einer unterschiedslosen, bewusstlosen Verschmelzung mit dem Absoluten, sondern im Gegenteil zum Hervortreten der reinen, unbedingten Relation zwischen verschiedenen eigenschaftslosen Ich-Instanzen, die sich einander als solche bekunden und erkennen. Gerade dadurch befinden sie sich aber in absoluter Differenz zum Bereich der geschöpflichen Natur, die in der Perspektive der 3. Person zum Gegenstand intellektueller Erkenntnis werden kann, aber sich nicht selbst in der Erste-Person-Perspektive als intellektuelles Ich zu manifestieren vermag. Für Meister Eckhart besagt die absolute Wesenseinheit des göttlichen Ich mit jedem ihm in reiner Relation gegenüberstehenden menschlichen Ich also kein Dahinfallen aller Unterschiede, sondern gerade das Hervortreten der wesenhaften Unterschiedenheit zwischen der intelligiblen Sphäre der Ichheit als solcher und der dinglichen Sphäre der Welt. Anders, als Martin Buber dies offenbar gedacht hat, impliziert Eckharts spekulative Mystik also gerade kein Verschmelzen mit dem „All“ beziehungsweise dem „Weltgrund“, sondern vielmehr das Innewerden unserer eigenen Intellektnatur als des abgründig Differenten zu allem, was „Welt“ beziehungsweise „Natur“ heißt.

Bei Eckhart ist der zwischenmenschliche Bezug von Ich zu Ich von vornherein im Bezug jedes Menschen zum göttlichen Ich verankert und durch dieses ermöglicht. Insofern verläuft seine Konstitution menschlicher Gemeinschaft in absteigender Richtung, das heißt von der Ursprungsgemeinschaft mit dem ewigen göttlichen Ich hin zur Gemeinschaft mit anderen menschlichen Ich-Instanzen.74 Dennoch wird auch das Ich des Mitmenschen als reine Substanz und somit „ohne Mittel“, das heißt ohne vermittelnde Zwischeninstanz zugänglich. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen, alle Ethik und alle wahre Liebe sind für Eckhart nicht empirischer Natur, sondern sind gleichsam auf prästabilierte Weise in seiner universalen Konzeption der „Gottessohnschaft“ verankert. Nicht allein Jesus als empirisch-historische Person darf sich Sohn Gottes nennen, sondern vielmehr sind alle Menschen gleichermaßen ein und derselbe Sohn Gottes, insofern sich in ihrer Vernunft der göttliche Logos direkt auszeugt und sich selbst erkennt.75 Die Aussage des johanneischen Jesus „Ich und der Vater sind eins“ wird daher von Meister Eckhart ausgeweitet auf jeden Menschen, insofern er ein Vernunftwesen ist.76 „Einheit“ besagt demnach auch hier Einheit im Wesen, die der reinen Relation der Personen nicht nur nicht widerspricht, sondern sie im Gegenteil erst hervortreten lässt.

Aus diesem Grund bringt Eckharts Vorstellung, alle Menschen seien im strengen Sinne „ein und derselbe Sohn Gottes“, die Vielheit der menschlichen Personen als solche nicht zum Verschwinden – im Gegenteil: Vielmehr begründet gerade die Univozität ihrer gemeinsamen Intellektnatur die absolute Verpflichtung zum ethischen Handeln gegenüber dem Nächsten in seiner empirischen Individualität. Der Grundsatz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ wird von Eckhart daher nicht als ein äußerlich-positiv verordnetes Gebot verstanden, sondern vielmehr als logischer Ausdruck der Tatsache, dass wir – wenngleich im Gegenüber raumzeitlicher Vereinzelung – mit dem anderen immer schon unmittelbar verbunden sind. Was dem Nächsten widerfährt, soll uns nicht nur angehen, als ob es uns selbst widerführe, sondern es betrifft uns de facto immer schon, insofern das Ich des anderen und unser eigenes Ich absolut wesensgleich und auf Grund ihrer Vollzugseinheit mit dem göttlichen Ich Teil desselben Lebenszusammen hangs sind.77 Insofern können wir unser Leben gar nicht von dem unserer Mitmenschen abkoppeln, sondern sind mit ihnen immer schon verbunden, auch wenn wir das auf der Ebene unserer empirisch individuierten Personalität nicht direkt in dieser Weise „erleben“. Das Leben im absoluten Sinne ist der Grund allen Erlebens und kann daher nicht selbst zum Gegenstand beziehungsweise Inhalt eines eigenen Erlebnisses werden. „Erlebnisse“ sind prinzipiell individuell-innerseelisch; das „Leben“ als solches vollzieht sich dagegen in der irreduziblen Äußerlichkeit der korrelativen Bezüge von Ich-Instanzen, die einander nicht mehr unter dem Gesichtspunkt von Eigenschaften betrachten, sondern sich als reine Manifestationen einer Ursprunghaftigkeit ansprechen, die auch dann noch von der Sach- und Dingwelt absolut verschieden bleibt, wenn man sie nicht ausdrücklich „Gott“ nennt.

Insofern ist Meister Eckharts Vernunftmystik gerade nicht Synonym eines schwelgerischen innerseelischen Solipsismus oder eines irrational stammelnden, ekstatischen Schwärmertums, sondern zielt darauf ab, den Menschen aus dem Schneckenhaus seiner individualpsychischen „Innerlichkeit“ und Indifferenz gegenüber dem Nächsten herauszuführen. Wohl spricht Eckhart von „Entpersönlichung“ und „Entwerdung“, doch ist damit kein ekstatisches Aufgehen im Meer der Unterschiedslosigkeit gemeint, sondern die zutiefst ethische Einsicht, dass der Mitmensch – obwohl in seiner raumzeitlich individuierten Existenz von uns getrennt – kraft seines ungeschaffenen Ich auf tieferer Ebene eines Wesens mit uns ist und uns daher auch genauso unmittelbar angehen muss wie unsere eigene Existenz.78 Wäre unsere Sorge um ihn und unser ethisches Handeln nur durch seine empirischen Eigenschaften motiviert, geschähe all das noch mit einem „Warum“, also mit einem konkreten Zweckgedanken, der sich zwischen uns und den Nächsten schöbe. Nur wenn man ausschließlich das reine Ich des Nächsten im Blick hat, begegnet man ihm âne mittel, also mit derselben Unmittelbarkeit und Unbedingtheit, die auch unseren Bezug zum göttlichen Ich auszeichnet.79

3.2 Eckhartianische Strukturen und Motive in Bubers „Ich und Du“

Martin Buber lässt in Ich und Du keinen Zweifel daran, dass er dieses Werk gleichsam als retractatio seiner früheren Auffassung der Mystik als ekstatisches Einheitserlebnis geschrieben hat. Über weite Strecken verläuft die selbstkritische Abgrenzung von seiner eigenen früheren Position implizit, doch an einigen Stellen kommt er noch einmal ausdrücklich auf das mystische Paradigma der „innerlichen Versenkung“ und auch auf Meister Eckhart zu sprechen. Dabei wird deutlich, dass Buber ihn immer noch als Vertreter der absoluten innerseelischen All-Einheitserfahrung deutet, die er selbst nun nicht mehr teilen kann.80 Zugleich verwendet er selbst aber bei seinem Entwurf der Ich-Du-Beziehung Strukturen und Begriffe, die fast wortwörtlich mit zentralen Gedanken und Formulierungen aus Meister Eckharts intellekttheoretischem Ansatz übereinstimmen. Es wirkt so, als argumentiere Buber mit Meister Eckhart gegen Meister Eckhart, ohne sich dessen bewusst zu werden, dass der wahre Eckhart nicht der ist, von dem er sich kritisch abgrenzt, sondern vielmehr der, dessen Denkstrukturen er de facto übernimmt, wenn auch auf implizite Weise.

Der Hauptgedanke von Ich und Du besteht in der fundamentalen Unterscheidung der Bezüge, die der Mensch zur ihm begegnenden Wirklichkeit insgesamt einnehmen kann: Entweder er betrachtet Menschen und Dinge als Komplexe von Eigenschaften, die der Erfahrung zugänglich sind, oder aber er tritt zu ihnen in Beziehung, indem er sie als „Du“ anspricht.81 Dabei fällt die Unterscheidung dieser beiden Grundformen von Relationalität nicht einfach mit der Unterscheidung zwischen der Beziehung zur Welt und der Beziehung zum Mitmenschen zusammen: Im Alltag behandeln wir Mitmenschen oft so, als seien sie Teil der objektivierbaren „Es“-Welt, und umgekehrt kann uns auch beispielsweise ein Baum so begegnen, dass wir ihn nicht als Summe seiner Eigenschaften wahrnehmen, sondern uns von ihm in einer solchen Weise direkt angegangen fühlen, dass wir ihn als ein „Du“ empfinden und ansprechen.82 In jedem Fall ist diese Begegnung nur dann echt, wenn sie „ohne Mittel“ geschieht, also ohne Zweckgedanken,83 aber auch jenseits dessen, was man gemeinhin „Erfahrung“ nennt. Diese kann aus zwei Gründen keine echte Beziehung stiften: Zum einen reduziert sie den Anderen auf seine wahrnehmbaren sinnlichen Eigenschaften, die gerade nicht sein Du ausmachen, und zum anderen spielt sie sich immer nur in uns ab, ohne eine wirkliche Relation zur Außenwelt zu begründen.84

Bubers Kritik des Erfahrungsbegriffs macht deutlich, dass er von seiner früheren lebensphilosophisch motivierten Überbewertung der rein innerseelischen Immanenz und solipsistisch verstandenen Unmittelbarkeit in systematisch- philosophischer Hinsicht Abstand genommen hat. Seines Erachtens kann der Mensch sein wahres Selbst nun prinzipiell nicht in seinem eigenen Inneren finden, sondern nur in der unmittelbaren Begegnung mit einer Äußerlichkeit, die weder aus seiner individuellen Existenz deduziert noch von ihr absorbiert werden kann. Auch wenn Buber die Ich-Du-Beziehung wesentlich als „Liebe“ versteht, ist diese darum nicht als „Gefühl“ bestimmbar, das wiederum nur individuell-innerseelischer Natur wäre; vielmehr besteht sie in einer Selbstbewusstwerdung des Menschen als einer wesentlich auf den Anderen bezogenen und nicht aus Dinglichem abzuleitenden Subjektivität.85 Der Mensch wird im eigentlichen Sinne durch die Begegnung mit dem als Du erlebten Anderen zu einem Ich, doch handelt es sich hier nicht um eine kausale Abhängigkeit, die wieder eine asymmetrische Herrschaftsrelation begründen würde, sondern vielmehr um die Aktualisierung einer Relationalität, die im Ich immer schon angelegt ist.86

Anders als Meister Eckhart, der vom absoluten Ich Gottes ausgeht und die horizontale Beziehung der menschlichen Ich-Instanzen aus der ewigen Beziehung zum göttlichen Ich ableitet, geht Buber zunächst von der Betrachtung der zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehung aus. Gleichwohl wird im weiteren Verlauf von Ich und Du deutlich, dass die Beziehung zu Gott den Grenzfall jener Bezüge darstellt, die den Menschen mit seinem menschlichen Anderen verbinden. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass Gott – im Gegensatz zum Mitmenschen – grundsätzlich nie zu einem „Es“ werden kann,87 doch stimmen die übrigen Strukturen der Beziehung zu ihm mit denen der echten zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehung weitgehend überein. So wie sich der Mitmensch nicht auf die Summe seiner erfahrbaren Eigenschaften reduziert, so darf auch Gott nicht als ein lediglich sehr erhabenes Etwas mit transzendenten Eigenschaften angesehen werden, sondern begegnet uns als ewiges Du in der reinen Selbstmanifestation des „Ich bin da, als der ich da bin“ aus Exodus 3,14. Buber deutet die Offenbarung demnach als reines Beziehungsereignis, das nicht in einer bestimmten inhaltlichen Mitteilung, sondern in einer freien, unmittelbaren Begegnung zweier Subjektivitäten besteht und so ursprünglich-korrelativer Natur ist, dass auch Gott in gewissem Sinne nicht ohne diese Beziehung zum Menschen gedacht werden kann.88

Diese Interpretation des Offenbarungsgeschehens ähnelt in verblüffender Weise Eckharts Auslegung von Exodus 3,14 und der sich daran anknüpfenden Deutung des Menschen von seinem reinen Ich her.89 Noch überraschender mutet an, dass Buber seine eigene Konzeption des Gottesbezuges als reiner Begegnung ausdrücklich mit Jesu Beziehung zum Vater in Verbindung bringt. Er schreibt:

[W]ie gewaltig, bis zur Überwältigung, ist das Ichsagen Jesu, und wie rechtmäßig, bis zur Selbstverständlichkeit! Denn es ist das Ich der unbedingten Beziehung, darin der Mensch sein Du so Vater nennt, daß er selbst nur noch Sohn und nichts andres mehr als Sohn ist.90

Diese Aussage scheint mit Eckharts Auffassung der universalen Gottessohnschaft jedes Menschen genau übereinzustimmen. Überdies bezieht sich Buber, wie auch schon Eckhart, in diesem Zusammenhang auf das Johannesevangelium und die dortige Aussage Jesu „Ich und der Vater sind eins“, um daran zu illustrieren, dass Gott und Mensch schon von Anfang an in einer reinen Beziehung stehen.91 Doch genau an diesem Punkt grenzt sich Buber explizit von Eckhart ab, der in seinen Augen diese „Einheit“, die in Wirklichkeit die unaufhebbare Beziehung zu Gott als dem absoluten Anderen bezeichnet, wieder in di e Seele hineinverlegt habe. Damit sieht es so aus, als habe Eckhart die biblische Offenbarungsreligion wieder zu einer mystischen Versenkungslehre gemacht, die von einer „Einheit ohne Zweiheit“ spricht.92 Buber schreibt:

Auf diesen Wegen wandelt sich der Charakter des Spruchs. Der Christus der johanneischen Tradition, das einmalig fleischgewordene Wort, führt zum eckhartschen, den Gott ewiglich in der Menschenseele zeugt.93

Der johanneische Jesus ist demnach für Buber noch authentischer Ausdruck einer Einheit mit Gott im unaufhebbaren interpersonalen Bezug; erst in Meister Eckharts Auslegung erfolgt seines Erachtens die Verfälschung der johanneisch verstandenen Gottessohnschaft zu einer mystischen Innerlichkeitslehre, die kein „Außen“ mehr kennt.

Demnach ist für Buber nicht die christliche Auffassung anstößig, dass Jesus Gott seinen Vater genannt und sich selbst in absoluter Wesenseinheit als seinen Sohn verstanden hat. Anstößig ist für ihn vielmehr, dass Eckhart durch seinen Begriff der „Geburt Gottes in der Seele“ den Eindruck erweckt habe, die Vater-Sohn-Beziehung des Menschen zu Gott sei wieder rein innerseelischer Natur und damit auf den immanenten Selbstbezug des Menschen reduzierbar. Diese Deutung ist zwar unter der Prämisse verständlich, dass Buber den Seelenbegriff Meister Eckharts im Sinne der individuellen, geschöpflichen Einzelpsyche deutet. In Wirklichkeit ist dies jedoch gerade nicht der Fall, sondern vielmehr ist der Ort der Gottesgeburt für Eckhart der vernünftige Seelenteil (intellectus), der gerade nicht als Teil unserer geschaffenen Individualexistenz „in“ uns vorfindbar ist, sondern im Gegenteil aus dem Bereich des Geschaffenen hinaus- und in die intellektuelle Sphäre reiner Relationalität von Ich zu Ich hineinragt.94

Der Umstand, dass Buber mit Blick auf Meister Eckhart den zu Grunde gelegten Seelenbegriff nicht hinreichend differenziert, macht erklärlich, warum er der Mystik als ganzer so ablehnend gegenübersteht. Er scheint wie selbstverständlich davon auszugehen, dass es prinzipiell keine Mystik der reinen Relation geben kann und dass jede Form der Mystik notwendigerweise eine unethische Selbstverkapselung des Menschen in sein eigenes Inneres nach sich zieht.95 Für Buber ist die Unaufhebbarkeit der Relation zwischen Gott und Mensch der Garant dafür, dass der Mensch sich nach der an ihn ergangenen Offenbarung nicht in einer religiösen Innenschau verschließt, sondern aus der reinen Begegnung mit Gott heraus in die Welt hineinwirkt.96 Auch dies steht jedoch keineswegs in Widerspruch zu Meister Eckhart, sondern entspricht vielmehr dessen ureigenster Konzeption der Gottesgeburt im Sinne des „Gott-Ausgebärens“ in unseren Werken.97 Die Geburtsmetapher steht bei Eckhart gerade nicht für ein unterschiedsloses Verschmelzen, sondern für eine relationale Dynamik, die nicht nach „innen“ (im Sinne der empirisch-individuellen Immanenz), sondern nach „außen“ (also auf die Mitmenschen und die Welt hin) gerichtet und wesentlich auf ethische Fruchtbarkeit hin ausgelegt ist.98 Da Buber diesen Umstand unbeachtet lässt, wird er gleichsam ein Gefangener seiner eigenen, zu eng gefassten Definition von Mystik, die ihn dazu zwingt, seinen dialogphilosophischen Ansatz mit solcher Schärfe von der mystischen Tradition als solcher und insbesondere von Meister Eckhart abzugrenzen. Auch nachdem „die“ Mystik als solche für Buber unhaltbar geworden ist, liest er Eckhart nach wie vor so, als könne dieser gar nichts anderes gelehrt haben als die für die Dialogphilosophie inakzeptable Versenkungslehre, obwohl – oder gerade weil – Eckharts Mystik auf dem Begriff des Denkens beruht.

3.3 „Das Denkende“ oder „der Denkende“? Bubers und Eckharts Auffassung von Subjektivität und Personalität

In einem Punkt hat sich Martin Bubers Auffassung von der Mystik in Ich und Du offenkundig gegenüber seiner früheren Position gewandelt: War Mystik ehedem für ihn gleichbedeutend mit einem ekstatischen Erlebnis jenseits aller Erkenntnis, so billigt er gewissen „Versenkungslehren“, wie er sie jetzt nennt, zu, dass sie das Urprinzip, mit dem der menschliche Geist eins werden soll, nach dem Muster des „Denkens“ verstehen. Das Beispiel, das Buber hier vorschwebt, ist offensichtlich der Buddhismus, doch lässt es sich leicht auch auf andere Formen der mystischen Spiritualität übertragen, die das Absolute als Grenzbegriff von Denken, Erkenntnis beziehungsweise Subjektivität deuten.99

Buber sieht die verschiedenen Formen der Mystik in diesem Punkt also etwas differenzierter als früher; sein kritisches Urteil über die mystische Konzeption des „reinen Denkens“ ist jedoch nicht weniger scharf als das über die ekstatische Erlebnismystik. Wohl räumt er ein, dass der Weltgrund nicht notwendigerweise anonym sein müsse, sondern auch als reines Subjekt verstanden werden könne, doch ist das Eingehen des Mystikers in dieses „Eine Denkende“ für Buber gleichbedeutend mit der Aufhebung allen Bewusstseins überhaupt. Ein Denken beziehungsweise eine Subjektivität, die derart absolut wären, dass sie kein Gegenüber hätten, wären in Bubers Augen prinzipiell kein Denken und keine Subjektivität mehr, da diese für ihn notwendigerweise in einer Korrelation bestehen.100 Ein absolutes göttliches Subjekt, das die Welt lediglich in einseitiger Weise dächte und dadurch im Sein hielte, aber nicht in eine lebendige, interpersonale Beziehung zum Menschen träte, wäre insofern nichts grundlegend anderes als ein subiectum im antik-mittelalterlichen Sinne des Wortes, also ein anonymes Substrat, das der Wirklichkeit zu Grunde liegt, aber nicht als ein Du angesprochen werden kann.

In seinem über 40 Jahre später verfassten Nachwort zu Ich und Du kommt Buber nochmals kurz auf Meister Eckhart zu sprechen und lässt dabei durchscheinen, dass er ihn nach wie vor als einen pantheistischen Mystiker versteht. Gegen all diejenigen, die den Personbegriff im Hinblick auf Gott für unangemessen erachten, betont Buber, dass die Rede von Gottes Personalität

unentbehrlich [sei] für jeden, der wie ich mit „Gott“ kein Prinzip meint, wiewohl Mystiker wie Eckhart zuweilen „das Sein“ mit ihm gleichsetzen [...]; der vielmehr wie ich mit „Gott“ den meint, der – was immer er sonst noch sei – in schaffenden, erlösenden Akten zu uns Menschen in eine unmittelbare Beziehung tritt und uns damit ermöglicht, zu ihm in eine unmittelbare Beziehung zu treten101.

Wohl ist zutreffend, dass Meister Eckhart Gott als das „reine Sein“ bezeichnet, an dem die Geschöpfe direkt hängen und im Vergleich zu dem sie in sich ein Nichts sind.102 Doch läuft das insofern auf keinen Pantheismus hinaus, als Eckhart das „reine Sein“ Gottes nicht als abstrakte, anonyme Substanzialität, sondern als die Subjektivität des reinen Ich versteht, das gar nicht ohne die äußere, differente Relation zur Vernunftnatur des Menschen gedacht werden kann.103 Eckharts Gott ist also sehr wohl Prinzip, doch nicht im abstrakt-ontologischen Sinne, sondern vielmehr im Sinne der absoluten Ursprunghaftigkeit ichlicher Spontaneität. Zwar ist es richtig, dass er Gott und den Menschen nicht als „Person“, sondern als „Ich“ bezeichnet, da der Personbegriff für Eckhart das Individuum unter dem Gesichtspunkt seiner konkreten Eigenschaften meint und somit auf den eigenschaftslosen Intellekt nicht anwendbar ist.104 Gleichwohl geht das, was er damit meint, von der Sache her in dieselbe Richtung wie Bubers Aussage, dass Gott kein „Hyper-Es“ ist und nicht ausgehend von der dinglichen Wirklichkeit verstanden werden kann, sondern als der begriffen werden muss, der sich als reines Ich und vernünftiges Selbstbewusstsein manifestiert und sich das menschliche Ich in bleibender Differenz als unmittelbar ansprechbares, der zweckfreien Liebe fähiges Gegenüber geschaffen hat.

Bei Eckhart findet sich sehr wohl beides, nämlich sowohl Textpassagen, die von einer unterschiedslosen Einheit mit Gott sprechen, als auch Passagen, in denen die unaufhebbare Relationalität der Beziehung zwischen dem Ich Gottes und dem Ich des Menschen betont wird.105 Dies ist jedoch kein Widerspruch, sondern vielmehr darin begründet, dass Eckhart das trinitarische Schema der absoluten Einheit im Wesen bei gleichzeitiger korrelativer Differenz der Personen auf die Beziehung der menschlichen Vernunftseele zu Gott überträgt. Wohl gibt es den „Grund der Seele“, wo unterschiedslose Einheit herrscht, doch ist das nicht eine Einheit mit Gott, sondern mit der Gottheit, also jenem göttlichen Wesensgrund, der der sich auszeugenden und sich erkennenden Dynamik der trinitarischen Personen noch vorgelagert ist.106 Dieser absolute Einheitsgrund, den man strenggenommen weder als göttlich noch als menschlich beschreiben kann, bringt jedoch die reine Differenz von Ich zu Ich nicht zum Verschwinden, sondern ist der apriorische Grund der Möglichkeit für das Gelingen ihrer intersubjektiven Begegnung. Anders, als Buber dies zu suggerieren versucht, verschwindet bei Eckhart das erkannte Gegenüber keineswegs auf der Ebene des reinen Denkens, sondern nur auf der Ebene, die dem wechselseitigen Sich-Erkennen und Sich-Ausgebären von göttlichem und menschlichem Ich noch zu Grunde liegt. Diese Ebene der „Gottheit“ wird bei Eckhart nicht mehr als „Denken“ bezeichnet, sondern als „stille Wüste“107. Dies bedeutet jedoch nur, dass alle Zweiheit der Begegnung von Ich zu Ich sich auf dem Grund einer Einheit vollzieht, die aus keinem der beiden Relata abgeleitet werden kann; nicht aber, dass der vernunftmystische Diskurs über die reine Relation von Gott und Mensch dadurch aufgehoben wird. Die absolute Einheit bekundet sich bei Eckhart überhaupt nur durch die Zweiheit, die sie nicht ist, so wie umgekehrt die Zweiheit nur als eine solche bestehen bleibt, wenn sie von dem Einen auseinandergehalten wird, das nicht Teil des einen oder anderen Pols der Beziehung ist. Gott ist in gewissem Sinne der Welt immanent, insofern es nämlich kein anderes Sein geben kann außer ihm, und doch ist er zugleich vom kreatürlichen Sein absolut verschieden, insofern dieses sich gerade nicht durch wechselseitige Immanenz, sondern spezifische Beschränkung, Unterschiedenheit und Äußerlichkeit auszeichnet.108

Genau diese hin- und herschwingende Identität von Identität und Nichtidentität scheint Buber aber ebenfalls zu meinen, wenn er schreibt:

Gott umfaßt das All, und ist es nicht; so aber auch umfaßt Gott mein Selbst, und ist es nicht. Um dieses Unbesprechbaren willen kann ich in meiner Sprache, wie jegliches in seiner, Du sagen; um dieses willen gibt es Ich und Du, gibt es Zwiesprache, gibt es Sprache, gibt es den Geist, dessen Urakt sie ist, gibt es in Ewigkeit das Wort.109

Wie Eckhart ist es auch Buber nicht darum zu tun, das Einzelne in seine Einzelheit zersplittert stehen zu lassen oder es im Abgrund der Unterschiedslosigkeit zum Verschwinden zu bringen. Vielmehr geht es ihm darum, alle Einzelnen von etwas umgriffen sein zu lassen, das ihre Differenzen nicht erdrückt, sondern sie vielmehr freisetzt und mit einem geschützten Raum vorgängigen Gelingens umfängt, das das Wagnis des Wortes und des Sich- Aussprechens erst möglich und lebbar macht.

4. Schlussbetrachtung

Wie sich gezeigt hat, ist Martin Bubers Verhältnis zu Meister Eckhart von einer außerordentlichen Komplexität. Seine Rezeption der eckhartschen Predigten und Traktate ist stark durch die zeittypischen Verzerrungen und Einseitigkeiten der von ihm benutzten Ausgaben und Übersetzungen beeinflusst, so dass er Eckhart zunächst irrtümlicherweise zu den ekstatischen Erlebnismystikern zählt, die sich aus dem Bereich des rationalen Diskurses ausklinken. Beurteilt Buber das angebliche Versinken der Seele in absoluter Unterschiedslosigkeit und die daraus folgende solipsistische Vereinzelung des Mystikers in seiner Frühphase positiv, so grenzt er sich von dieser Auffassung in dem Moment scharf ab, wo er die katastrophalen ethischen Konsequenzen einer solchen a-sozialen Form von Religiosität begriffen hat. Dennoch führt diese Kritik an der ekstatischen Erlebnismystik auch in den folgenden Jahren nicht zu einer wirklichen Revision seiner Sicht auf Meister Eckhart, und das, obwohl Buber zum Zeitpunkt der Abfassung von Ich und Du bereits auf qualifiziertere Textausgaben der Werke Eckharts (vor allem schon auf Teile seiner lateinischen Schriften) sowie auf wissenschaftlich fundiertere Auslegungen seines Denkens hätte zugreifen können.

Es wirkt so, als hätte die ungenierte lebensphilosophische und politischideologische Vereinnahmung Meister Eckharts in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg sein Denken in Bubers Augen ein für allemal diskreditiert, so dass er sich in der Folgezeit gar nicht mehr wirklich für die Fortschritte in der Eckhart-Edition und Eckhart-Forschung zu interessieren scheint. Und dennoch wirkt der dialogphilosophische Entwurf von Ich und Du in vielerlei Hinsicht wie die implizite Anwendung der intellekttheoretischen Grundeinsicht Meister Eckharts, der das wahre Selbst des Menschen nicht etwa in monolithischer Abkapselung konzipiert, sondern es vielmehr immer schon aus dem überzeitlichen Bezug zum reinen Ich Gottes und dem reinen Ich der Mitmenschen her versteht. Ich und Du wirkt demnach wie das Eckhart- Buch, das Martin Buber gar nicht mehr hatte schreiben wollen, aber in genau dem Moment geschrieben hat, wo er glaubte, von der Mystik im Allgemeinen und Eckhart im Besonderen gelassen zu haben.