Sola scriptura: Was sollte reformatorische Theologie von katholischer Theologie lernen?

Zusammenfassung / Summary

In this paper, delivered at the festive opening of the winter-term 2016/2017 at Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt am Main, it is argued, that the principle sola scriptura should be understood in an ecumenical way and not as a principle of division between the churches. Therefore, in a first step, the original meaning of this principle in the 16th century is reconstructed from an analysis of certain texts of the Reformation era, e.g. the Confessions. In a second step, discussions of 20th century German systematic theology under the keywords “crisis of the Reformation principle of scripture” are analyzed. Our proposal is that we should always read sola scriptura together with different traditions, thus using the Bible itself to avoid a one-sided reception and self-referential reading of it. Such reductionist reading of the Bible in the 2017 jubilee year of the Reformation was rightly criticized by certain Roman-Catholic theologians. A common duty for the coming years should be a common reading of the bible in order to bring together the richness of other traditions as well as one’s own. That integration of different tradition is supported with some examples.

Der Titel dieses Festvortrags1 mag überraschen. Denn für einen evangelischen Patristiker, der eingeladen ist, anlässlich des neunzigjährigen Jubiläums von Hochschule und Priesterseminar Sankt Georgen zu sprechen, hätte es vermutlich mindestens auch nahegelegen, über die Patristiker dieser Einrichtung zu sprechen, jedenfalls Patristisches zu deren und ihrer Institution Ehre anlässlich des Jubiläums vorzutragen. Denn Patristica aus Sankt Georgen begleiten nicht nur mich seit Beginn meines Studiums; sie sind vielmehr in jeder Hinsicht unverzichtbar in der alltäglichen Arbeit in meinem Fach und schlechterdings grundlegend. Pars pro toto: 1951 erschien der erste Band des nach wie vor unentbehrlichen dreibändigen Werkes „Das Konzil von Chalkedon. Geschichte und Gegenwart“, herausgegeben von Alois Grillmeier und Heinrich Bacht, auf den dann bekanntlich die magistralen Bände „Jesus der Christus im Glauben der Kirche“, „Mit ihm und in ihm. Christologische Forschungen und Perspektiven“, die diversen Pachomiana und Monastica von Heinrich Bacht sowie die gesammelten Übersetzungen und Studien von Hermann Josef Sieben zu Synoden, Konzilien, den Kappadoziern, Augustinus und anderen Vätern samt ihrem Schriftgebrauch folgten2 . Aber warum sollte man anlässlich des großen Jubiläums aus der langen Reihe vieler bekannter Professoren, die halfen, die (wie Klaus Schatz formuliert3 ) lange „einem Luftschlosse […] in nebelhafter Ferne“ gleichende Idee eines Jesuitenkollegs auf preußischem Boden zu realisieren, nur drei Lehrende aus der Zeit nach 1945 hervorheben und warum aus der illustren Schar von Professoren, die dieses Kolleg dann zu derjenigen weit über Deutschland hinaus bedeutsamen Einrichtung machten, die wir alle kennen und schätzen, als Patristiker nur die Patristiker hervorheben und von all’ den anderen schweigen?

Da diese Einrichtung zu ihrem neunzigsten Gründungsjubiläum einem evangelischen Theologen das Wort zur Festrede gibt und das, obwohl man vor neunzig Jahren wegen befürchteter kirchenpolitischen Widerstände aus evangelischen Kreisen die Gründung sehr bescheiden feierte, habe ich es gewagt, dieser meiner Rede ein ökumenisches Thema zugrunde zu legen, obwohl ich kein Fachvertreter der systematischen oder gar ökumenischen Theologie bin. Selbstverständlich braucht dieses Haus, in dem eine höchst erfolgreiche „Ökumenische Fundamentaltheologie“ verfasst wurde und mancherlei andere zentrale Beiträge zum Thema4 , auch keinerlei Nachhilfe in Sachen ökumenischer Theoriebildung und dann gar noch von einem fachfremden Protestanten. Außerdem ist in diesem Hause ja nie ohne Blick auf die evangelische Schwesterkonfession und ihre Theologie geforscht und gelehrt worden. Im erwähnten dreibändigen Werk „Das Konzil von Chalkedon. Geschichte und Gegenwart“ behandeln allerdings noch – wenn auch höchst prominente – römisch-katholische Theologen das Verhältnis der reformatorischen und nachreformatorischen Theologien zum dritten ökumenischen Konzil.5 Man sprach damals eben doch mehr übereinander und nicht miteinander. Heute haben sich die Verhältnisse vollkommen geändert und ändern sich, wenn ich recht sehe, gerade noch einmal sehr unter dem Pontifikat eines argentinischen Jesuiten, der hier im Hause an seiner Promotion gearbeitet hat. Das fünfhundertjährige Jubiläum der Reformation, das nach zehnjähriger Vorbereitung in der übernächsten Woche feierlich eröffnet werden wird, ist ein schönes Beispiel für diesen rasanten Wandel: War anfangs noch zwischen den Konfessionen umstritten, ob man die Ereignisse des sechzehnten Jahrhunderts feiern oder ihrer nur gedenken dürfe, ob es neben einer Kirchenspaltung für katholische Christenmenschen an Luther und anderen reformatorischen Theologen auch theologisch weiterführende Gedanken zu entdecken gäbe, feiert nun der Papst übernächste Woche gemeinsam mit einer evangelisch-lutherischen Erzbischöfin einen Gottesdienst, in dem nicht nur von der Schuld und den Versäumnissen vergangener Generationen die Rede sein wird, sondern auch davon, was römisch-katholische Kirche und römisch-katholische Christenmenschen Martin Luther und anderen reformatorischen Theologen verdanken. Ich halte das – wie ich schon ausführlicher expliziert habe6 – für eine außerordentliche, für eine außerordentlich erfreuliche Entwicklung, die zeigt, wie viel die christlichen Konfessionen voneinander lernen können.

Mein heutiges Thema – „Sola scriptura: Was sollte reformatorische Theologie von katholischer Theologie lernen?“ – habe ich gewählt, weil ich auch im Blick auf das klassische reformatorische Theologumenon sola scriptura eine solche eindrückliche Lerngeschichte glaube beobachten zu können, für die man von Herzen dankbar sein kann. Sola scriptura, „allein durch die Schrift“, galt lange als die pointierte evangelische Beschreibung dessen, was das sogenannte reformatorische Schriftprinzip der evangelischen Theologie von einem sogenannten Traditionsprinzip der römisch-katholischen Theologie unterscheidet. Inzwischen wird diese lateinische Formel allerdings mindestens in ökumenischen Dialogdokumenten vor dem Hintergrund einer „weitgehenden Übereinstimmung“ im „Blick auf Schrift und Tradition“ zwischen katholischer und lutherischer Lehre als Beschreibung einer gemeinsamen Überzeugung gedeutet – so zuletzt im Dokument „Vom Konfl ikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017“7 , aber beispielsweise auch in der erwähnten ökumenischen Fundamentaltheologie von Peter Knauer8 . Es geschieht nun nicht nur aus Gründen einer captatio benevolentiae, wenn ich heute nicht frage, was römisch-katholische Theologie von der evangelischen lernen kann, sondern vielmehr umgekehrt danach, was wir in der evangelischen Theologie von römisch-katholischer Theologie lernen können. Ich sehe nämlich, wie ich noch begründen werde, inzwischen vor allem die evangelische Seite im Obligo, weil sich in den letzten Jahrzehnten vor allem auf der katholischen Seite zur Frage nach der Funktion der Heiligen Schrift für die Konstitution wie den Inhalt von theologischen Aussagen sehr viele Antworten zu lesen finden, die einen evangelischen Christenmenschen nur außerordentlich erfreuen können. Mein Thema müsste also etwas präziser formuliert lauten: „Was sollte evangelische Theologie von römisch-katholischer Theologie lernen?“, um besser ein Missverständnis zu vermeiden, das meine etwas lose in der Einladung gedruckte Titelformulierung auslösen kann, so als ob evangelische Theologie nicht als Theologie der una sancta catholica ecclesia angelegt sein könne, des Teils der una sancta catholica ecclesia nämlich, der durch die Reformation gegangen ist, und umgekehrt nicht auch römisch-katholische Theologie in einem sehr bestimmten Sinne so viele Anliegen reformatorischer Theologien des sechzehnten Jahrhunderts aufgreifen könne, dass sie selbst „reformatorische Theologie“ genannt werden kann.

Aus den genannten Gründen werde ich im Folgenden sehr allgemein fragen, was evangelische Theologie von römisch-katholischer Theologie lernen soll im Blick auf ihr ureigenes Verständnis des Theologumenons sola scriptura, „allein durch die Schrift“, und dabei „evangelische“ wie „römisch-katholische“ Theologie an dieser Stelle in einem ganz umfassenden Sinne, also nicht schulgebunden und auch nicht positional, verstehen. Mein Festvortrag umfasst nach dieser Einleitung noch drei Teile: Da ich von meinem eigenen Fache her weder ein Reformationshistoriker noch ein Ökumeniker bin, werde ich im Folgenden zunächst in einem ersten Abschnitt nur sehr knapp skizzieren, was mit den beiden lateinischen Termini sola scriptura, „allein durch die Schrift“, in reformatorischen Theologien des sechzehnten Jahrhunderts ursprünglich gemeint war, und dann in einem zweiten Abschnitt näher beschreiben, inwiefern man heute nicht mehr sagen kann, dass sich diese Formel immer noch und bleibend gegen ein sogenanntes römisch-katholisches Traditionsprinzip richtet. Ich werde in diesen beiden Abschnitten nur relativ knapp den Stand der Debatte referieren, weil ich an dieser Stelle keine Originalität beanspruchen kann und selbstverständlich auch keine schon etwas welken Blumen in meinen Geburtstagsstrauß winden möchte. Ich konzentriere mich vielmehr in diesem Festvortrag auf einen dritten Abschnitt, in dem ich meine Titelfrage zu beantworten versuche, wie nun – wenn denn sola scriptura sich heute nicht mehr gegen ein römisch-katholisches Traditionsprinzip richtet – das sogenannte reformatorische Schriftprinzip mit Hilfe von Einsichten aus der römisch-katholischen Theologie vor Fehldeutungen und missbräuchlicher Verwendung bewahrt werden kann. Originalität beanspruche ich heute nur für meine These, dass die evangelische Theologie in der Gegenwart notwendigerweise die römisch-katholische Theologie und ihre Einsichten braucht, um das sogenannte reformatorische Schriftprinzip, das Kriterium sola scriptura, angemessen auszulegen und vor Fehldeutungen zu schützen. Weil diese These vermutlich hüben wie drüben Verwunderung auszulösen vermag, werde ich sie etwas ausführlicher begründen. Doch zunächst die angekündigten beiden kürzeren Abschnitte, ein erster zur Bedeutung der Formel im sechzehnten Jahrhundert (dieser Passus ist schon deswegen notwendig, weil jüngst noch einmal öffentlichkeitswirksam behauptet wurde, eine Darstellung reformatorischer Theologie mit Hilfe von solus-Formulierungen repetiere lediglich eine Praxis von Lehrbüchern seit dem neunzehnten Jahrhundert9 ) und ein zweiter zur Formel in den ökumenischen Dialogen des zwanzigsten Jahrhunderts.

1. Sola scriptura – zur Bedeutung einer evangelischen Formel im sechzehnten Jahrhundert

Wenn man fragt, was mit der Formel sola scriptura im sechzehnten Jahrhundert gemeint war, und lediglich eine kurze Antwort geben möchte, dann empfiehlt sich der Hinweis auf die Epitome der Konkordienformel, einer weit, wenn auch nicht allgemein rezipierten lutherischen Bekenntnisschrift von 1580. Denn die lateinische Formel selbst wird beispielsweise von Luther nur selten verwendet, auch wenn sie seine Ansichten über die kriteriologische Funktion der Heiligen Schrift als primum principium, auf das alle theologischen Sätze und Urteile direkt oder indirekt gegründet sein müssen, bestens zusammenfasst.10 Es ist aber kein Zufall, dass an der einzigen Stelle, an der die evangelischen Bekenntnisschriften des sechzehnten Jahrhunderts ihre Ansichten über die prinzipielle Autorität der Heiligen Schrift zusammengefasst darstellen, eben diese lateinische Formulierung sola scriptura auftaucht; sie wurde offenbar schon damals als sachgemäße Zusammenfassung empfunden.

In der Epitome der Konkordienformel von 1580 heißt es eingangs nicht nur, dass „allein die Heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes der einig Richter, Regel und Richtschnur“ bleiben solle (sola sacra scriptura iudex, norma et regula agnoscitur)11, sondern auch, dass maßgebliche Texte aus der Geschichte der Kirche wie „andere Symbola aber und angezogene Schriften“ (cetera autem symbola et alia scripta) als „Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie jederzeit die Heilige Schrift […] in den Kirchen Gottes von den damals Lebenden verstanden und ausgeleget […] worden“12. In diesem grundlegenden reformatorischen Bekenntnis werden also die in der klassischen kirchlichen Tradition normativ gesetzten Texte aus der Geschichte des Christentums als „Auslegung der Heiligen Schrift“ in den Blick genommen, nicht als mehr, aber eben auch nicht als weniger. Diese Texte illustrieren, wie in vergangenen Zeiten Heilige Schrift korrekt ausgelegt und inkorrekte Auslegung zurückgewiesen wurde. Sie sind insofern auch für gegenwärtige wie zukünftige Auslegung maßstabsetzend. Anders formuliert: „Das gesamte christliche Glaubenszeugnis fi ndet demzufolge an der Heiligen Schrift als der Urkunde des Evangeliums seinen suffizienten Inhalt und kritischen Maßstab, dem es zu entsprechen hat“.13 Damit ist aber zugleich auch deutlich, dass der Begriff solus, „allein“, nicht nur eine negative Implikation hat, weil andere, konkurrierende Größen ausgeschlossen sind. Er hat auch die positive Implikation, „daß das durch das ‚solus‘ Bezeichnete schlechterdings hinreichend, ‚genugsam‘ (sufficiens) sei, d.h. alles Notwendige in sich enthalte und mit sich bringe“.14

Man findet dieses Bekenntnis zur kategorial singulären Funktion der Heiligen Schriften Alten und Neuen Testamentes für theologische Aussagen bei vielen reformatorischen Autoren, beispielsweise in der ersten Auflage der Loci von Philipp Melanchthon aus dem Jahre 1521 – dort ist dann auch die theologische Stoßrichtung der negativen Implikation des solus deutlicher erkennbar als in der späten Bekenntnisschrift von 1580. Melanchthon schreibt: „In Glaubensfragen haben die Päpste, die Konzilien und die gesamte Kirche kein Recht, etwas zu verändern oder [aus eigener Kraft; Ch. M.] festzulegen, sondern die Artikel des Glaubens müssen schlicht und einfach an der Regel der Heiligen Schrift (praescriptum sacrarum literarum) überprüft werden“.15 Die sich für unseren heutigen Geschmack unmittelbar anschließende Frage, ob nicht der ganze biblische Kanon genau eine solche kirchliche Festlegung ist, wurde von den meisten reformatorischen Theo logen gar nicht explizit gestellt, weil Luther, Melanchthon und ihre Freunde – so hat Gunther Wenz das im Anschluss an Gerhard Ebeling genannt – von einem qualitativen Selbstkonstitutionsvermögen der Heiligen Schrift ausgingen.16 Schrift verbürgt vermittels des Heiligen Geistes ihre eigene Autorität, die Begegnung mit ihren Texten überwindet Zweifel und ermöglicht angemessene Auslegung auch aus sich selbst heraus. Insofern konnte Luther schon in seiner Verteidigungsschrift gegen die Bannbulle von 1520 formulieren, dass die Heilige Schrift sich immer wieder selbst zu Gehör bringt, insofern sie „ihre eigene Auslegerin“ (sui ipsius interpres) ist, als allein der Heilige Geist Einsicht über sie gibt (per sola verba Dei) und man also nach Luthers Meinung bei der Schrift anfangen muss, um zum Licht und zur Einsicht über die Schrift zu gelangen.17 Entsprechend sagt Luther in derselben Schrift auch, solche Einsicht sei allein dadurch zu gewinnen, dass nachhaltig über den Heiligen Schriften geschwitzt wird.18 Im Blick auf das Bekenntnis der Kirche waren die Reformatoren, wie der Beschluss der Confessio Augustana zeigt, der Ansicht, dass kirchliches Bekennen aufgrund dieser prinzipiellen Autorisierung aller theologischen Urteile keinen letztlichen Grund in sich tragen kann, auch keinen solchen Grund in einem qua Institution vollzogenen kirchlichen Nostrifikationsverfahren haben, sondern den Grund seiner Geltung dem Wort der Heiligen Schrift verdankt, „dem es sich unterstellt und an dem es zu prüfen ist“:19

Die oben angeführten Artikel haben wir dem Ausschreiben nach übergeben wollen zu einer Anzeigung unseres Bekenntnisses und der unseren Lehre. Und ob jemand befinden würde, daran Mangel zu haben, dem ist man ferneren Bericht mit Grund göttlicher heiliger Schrift zu tun erbietig

– wie die ein wenig komplizierte deutsche Fassung der letzten Worte des Augsburger Bekenntnisses lautet. Mit anderen Worten: Wer etwas in diesem Text bemängelt, muss und wird mit weiteren Gründen aus der Heiligen Schrift von der Wahrheit dieses Bekenntnisses überzeugt werden. Dem evangelischen Patristiker ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Reformatoren auch davon überzeugt waren, dass diese Ansicht über den Status der Autorisierung von Bekenntnissen (ohne dass ich das jetzt ausführen kann20) der Praxis der ersten Konzilien entsprach, und insbesondere für die Debatten um das erste Reichskonzil in Nicaea im Jahre 325 n. Chr. trifft diese Ansicht sicher auch zu. Hermann Josef Sieben hat in einem sehr sorgfältigen Aufsatz vor zwanzig Jahren allerdings gezeigt, dass schon mit dem Konzil von Ephesus eine „deutliche Verdrängung der Heiligen Schrift aus der Konzilsaula zugunsten der Glaubensformeln der vorausgegangenen ökumenischen Konzilien und der Väterzeugnisse“ einsetzt, und spricht für die Heilige Schrift von einem „mit Ephesus einsetzenden Ausfall als unmittelbare Norm der zu treffenden Glaubensentscheidungen“.21 Es spricht für die ökumenische Sensibilität meines Kollegen, dass er die – wie er pointiert zusammenfasst – „eingeschränkte Rolle der Heiligen Schrift“ auf den späteren altkirchlichen Konzilien als ein Problem der Hermeneutik der altkirchlichen Konzilien auch und gerade für die römisch-katholische Kirche markiert.

Mir scheint eine solche Aufmerksamkeit für den kriteriologischen Status der Heiligen Schrift auf den altkirchlichen Konzilien bereits ein so deutlicher Hinweis auf die geänderte ökumenische Debattenlage zum sogenannten reformatorischen Schriftprinzip sola scriptura, dass ich meine knappen Erläuterungen zur Bedeutung dieses Prinzips im sechzehnten Jahrhundert an dieser Stelle auch schon beenden möchte, obwohl selbstverständlich noch mancherlei zur Interpretation des sogenannten reformatorischen Schriftprinzips zu sagen wäre, insbesondere auch zur Frage, wie sich beispielsweise das solus der Konkordienformel genau zum berühmten Dekret über das Glaubensbekenntnis des Trienter Konzils von 1546 verhält. In diesem Dekret wurden ja bekanntermaßen trotz anderslautender Ansichten unter den Konzilsvätern Schrift und Tradition nicht als zwei gleichberechtigte Quellen, sondern allein die durch die Apostel weitergegebene Verkündigung Jesu Christi „als die Quelle aller heilsamen Wahrheit und Sittenlehre“ bezeichnet.22 Vielleicht für heute nur soviel: Zwischen dem in Trient verwendeten Wort fons und dem in der evangelischen Bekenntnisschrift gebrauchten Ausdruck regula vermag ich höchstens Akzentunterschiede, aber keinen kategorialen Gegensatz zu erkennen.23 Und die bekannte Idee des Kardinallegaten Cervini, dass dieses Evangelium der Kirche nicht in charta, sondern durch den Heiligen Geist in cordibus fidelium gegeben ist,24 könnte man, wäre mehr Zeit, durchaus in Konsonanz zur Worttheologie Martin Luthers bringen, die man auf die Formel solo verbo gebracht hat. Insofern ist es vielleicht eben auch nicht vollkommen überraschend, wenn im zwanzigsten Jahrhundert die basale Konsonanz des sogenannten reformatorischen Schriftprinzips mit konziliaren Formulierungen der römisch-katholischen Kirche festgestellt wurde, wie vorhin bereits angedeutet wurde. Um diese Entwicklungen soll es nun im folgenden zweiten Abschnitt kurz gehen.

2. Sola scriptura – zur Interpretation einer Formel im ökumenischen Dialog des zwanzigsten Jahrhunderts

Für das zwanzigste Jahrhundert kann man, wenn ich das als der Zeitgeschichte fachferner Patristiker recht sehe, zwei sehr gegenläufige Bewegungen beobachten: Eine zunehmende Problematisierung der Formel sola scriptura und des zugehörigen sogenannten protestantischen Schriftprinzips in der evangelischen Theologie einerseits trifft auf eine zunehmende Aneignung dieser evangelischen Traditionsbestände durch römisch-katholische Theologen und in der ökumenischen Theologie andererseits (es würde sich einmal lohnen zu fragen, ob dieses eine Beispiel einer so zu charakterisierenden Asymmetrie durch analoge ergänzt werden könnte). Ich beginne meine Explikation dieser gegenläufi gen Bewegungen mit Bemerkungen zur Problematisierung des Prinzips in der evangelischen Theologie, um daran solche zur zunehmenden Aneignung in der römisch-katholischen Theologie anzuschließen:

Den vermutlich offensichtlichsten, zugleich deutlichsten und charakteristischsten Höhepunkt evangelischer Problematisierung des sogenannten reformatorischen Schriftprinzips stellt ein knapp vierhundertseitiger Sammelband dar, der passenderweise den Titel „Sola Scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen Welt“ trägt.25 Der Band enthält die Vorträge des siebenten europäischen Theologenkongresses, der auf Einladung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR kurz vor der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten vom 24. bis 28. September 1990 in Dresden durchgeführt wurde. Als „europäischer Theologenkongress“ musste das Treffen ebenso wie die sechs voraufgehenden Zusammenkünfte in Wien und Zürich bezeichnet werden, damit die bei der Planung in den achtziger Jahren noch in ihrer ursprünglichen Form existierenden Behörden der DDR ihren Theologinnen und Theologen überhaupt gestatteten teilzunehmen. Denn der Kongress wurde von der 1973 durch evangelische Universitätstheologen verschiedener Richtungen gegründeten „Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie“ veranstaltet, in der sich die habilitierten deutschsprachigen evangelischen Theologinnen und Theologen organisieren; insofern war das Etikett „europäisch“ im Kongresstitel mehr eine Farce, um die Behörden der alten DDR zu beruhigen, weder sprachen nichtdeutsche Referenten (Referentinnen gab es noch gar nicht) noch wurde irgendein europäischer Gast eingeladen oder wenigstens ein Thema im europäischen Horizont behandelt. Schon in der bereits im November 1990 zwei Monate nach Ende des Kongresses abgeschlossenen Einleitung des seinerzeitigen Züricher Rektors und Alttestamentlers Hans Heinrich Schmid (1937–2014) für den erwähnten Sammelband wird deutlich: Wenn für die auf dem Kongress versammelten rund dreihundert evangelischen Theologinnen und Theologen das reformatorische Schriftprinzip sola scriptura in der Mehrheit überhaupt noch irgendeine Bedeutung hatte, dann die einer von Anfang an „kritischen Instanz“, zunächst „gegenüber der institutionellen Beherrschung des Glaubens durch die mittelalterliche Kirche“:26

Und nach wie vor, noch heute, ist das „sola scriptura“ – als Anwalt des Lebens – die kritische Instanz gegen Herrschaftsansprüche jedweden solchen Rahmens, sei es ein totalitärer Staat, ein ideologisiertes Weltverständnis, der Rausch der Freiheit oder der des materiellen Überflusses. Dieses kritische Potential des „sola scriptura“ ist einer der wertvollsten Schätze der christlichen Tradition.27

Was zunächst wie der sehr spezifische Versuch eines liberalen Züricher Protestanten und überzeugten Schweizer Patrioten klingt, das protestantische Schriftprinzip als kritisches Prinzip der Freiheit zu retten und in die Situation der bundesrepublikanischen Wiedervereinigung hinein zu plausibilisieren, trifft relativ gut die Tendenz der allermeisten Referate des Kongresses, wie sie im Sammelband publiziert wurden. Der Dresdner Bischof Johannes Hempel versucht, gegen den Eindruck anzureden, das Thema des Kongresses sola scriptura, „allein die Schrift“, beschreibe längst nicht mehr die Alltagswirklichkeit in „der gerade-noch-DDR“. Gegen den offenkundigen Eindruck, dass die Bibel allzumal im säkularisierten Osten Deutschlands, aber auch unter Christenmenschen ein ungelesenes Buch sei, stellt der Bischof der sächsischen Landeskirche die Friedensgebete der Wende, die Beschäftigung der Künstler und die bibellesende Kerngemeinde; mindestens „mit den Augen der Christen gesehen“ schreie „der Alltag vieler Nicht-Christen nach dem biblischen Evangelium“, allerdings eben „lautlos“.28 Freilich konstatiert dann der ostdeutsche praktische Theologe Klaus-Peter Hertzsch in seinem Hauptvortrag, die Bibel befinde sich „am Rand des Gemeindelebens“, die „bibelfesten Kirchenältesten und die treue Bibelleserin“ in den Gemeinden würden seltener und bestimmten sie immer weniger.29 Wenn in der DDR Bibel wieder entdeckt worden sei in den achtziger Jahren, kurz vor ihrem Ende, dann nicht als ein Erfolg von in Wahrheit erfolglosen landeskirchlichen Programmen, Gemeinde zur Kompetenz beim Bibellesen zu führen, sondern durch Nicht-Christen. Kulturell oder politisch engagierte Nicht-Christen hätten die „aktionsbetonten, prophetischen, ethischen Komponenten“ der Bibel entdeckt, wenn überhaupt sola scriptura, dann sicher ohne sola fide und solus Christus, allenfalls noch als sola gratia interpretierbar.30 Hertzsch hofft zwar noch auf eine Wiederbelebung des reformatorischen Schriftprinzips, das ja schon bei Luther die intensive Lektüre biblischer Texte voraussetzt – ich hatte seinen Satz über das „Schwitzen“ zitiert, aber der Optimismus ist verhalten. Sein westdeutscher Kollege Wilhelm Gräb, damals Privatdozent in Göttingen, später praktischer Theologe an der Berliner Humboldt-Universität, konstatiert in einem im Sammelband publizierten Sektionsvortrag schonungslos, dass zu einer Religionsgeschichte des Christentums in der Neuzeit die Erfahrung gehöre, „dass auf einen Autoritätsbonus der Bibel – von fundamentalistischen Kreisen abgesehen – nicht mehr gerechnet werden kann“. Nach Gräb gilt der

Wahrheitsgehalt der biblischen Texte […] im Bewußtsein der Gemeinde nicht als schon immer anerkannt. Er will sich vielmehr – wenn überhaupt – im praktisch überzeugenden Umgang mit ihnen, also in Gestalt ihrer verständlichen Auslegung und situativ treffenden Anwendung allererst einstellen. Diese Anerkennung gilt dann aber auch nur der überzeugend ansprechenden und ausgelegten Schriftstelle beziehungsweise der in ihrer Auslegung evident gewordenen christlichen Wahrheit. Sie gilt nicht dem Bibelbuch als solchem.31

Konsequenterweise hat Gräb in seiner eigenen Predigtlehre die konstitutive Bindung evangelischer Predigt an einen Bibeltext und dessen Auslegung nach allen Regeln der Kunst immer mehr reduziert und schließlich in seinen jüngsten Äußerungen (wenn ich recht sehe) gänzlich verabschiedet.32 Und der lutherische Systematiker Jörg Baur aus Göttingen schließt seine luzide Rekonstruktion der ursprünglichen Bedeutung des sola scriptura bei Martin Luther mit tief resignierten Sätzen, deren Worte er zum Teil bei Friedrich Nietzsche in dessen nachgelassenen Fragmenten entleiht:

Friedrich Nietzsche in dessen nachgelassenen Fragmenten entleiht: „In Betreff der Religion bemerke ich eine Erschöpfung, man ist an den bedeutenden Symbolen endlich müde und erschöpft.“ Es ist, als spräche Nietzsche von uns. Bietet der Zustand des „Schriftprinzips“ nicht eben diesen Anblick? „Man sieht eine Eisfläche bei erwärmtem Wetter, überall ist das Eis zerrissen, schmutzig, ohne Glanz, mit Wasserpfützen, gefährlich.“ Der Geruch von Untergang ist in der Luft.33

Ein anderer Systematiker stellt daher auch entschlossen, angesichts der „begrenzten Brauchbarkeit“ des reformatorischen Schriftprinzips für eine Fundamentaltheologie, gleichberechtigt neben die Heilige Schrift „Erfahrung wie auch Ergebnisse der Human- und anderer Wissenschaften als Kriterium bei der Explikation theologischer Aussagen“ und beruft sich dafür auf die beiden anderen Exklusivpartikel sola fide und solus Christus: Entscheidend sei, Zugang zum Grund des Glaubens über den „im Christus-Widerfahrnis gegründeten Glauben“ zu gewinnen und ihn „in der gegenwärtigen Wirklichkeitserfahrung zu explizieren“, daher müsse das Schriftprinzip ergänzt werden.34 Fast vereinzelt steht im Sammelband des Kongresses ein einzelner Beitrag aus der Feder des erkennbar von Karl Barth und Eberhard Jüngel geprägten, seinerzeit in Halle und später in Münster lehrenden Systematikers Michael Beintker, der über die säkulare Kategorie der Texttreue den im sola scriptura einstmals ausgedrückten Autoritätsanspruch zu retten versucht35 – man wüsste gern, ob die Mehrheit des Kongresses diesen Versuch erregt zurückgewiesen, milde belächelt oder doch goutiert hat.

Wäre mehr Zeit, so könnte man zeigen, dass auch schon bei der vermutlich deutlichsten Verteidigung und offensivsten gelehrten Explikation des reformatorischen Schriftprinzips in der evangelischen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg die Krise ebendieses Schriftprinzips schon deutlich wird – nicht erst 1990, sondern bereits 1963, bei Gerhard Ebeling.36 Diese Stellungnahme soll hier wieder pars pro toto stehen: Der in Tübingen und Zürich lehrende systematische Theologe Ebeling hat sich mehrfach in seinem Leben zur Interpretation der Formel sola scriptura geäußert, ein erster ausführlicherer Text zum Thema wurde 1956 verfasst, ein großer Aufsatz erschien 1963.37 Ebeling hatte darin mit umfangreichen Nachweisen aus den Schriften Luthers gezeigt, dass der Sinn von sola scriptura in keinem Fall darin besteht, ein angebliches katholisches Traditionsprinzip „Schrift und Tradition“ zu bestreiten:

Das „sola scriptura“ ist so wenig traditionsfeindlich, daß es vielmehr selbst eine bestimmte Art von Traditionsprinzip ist. […] Das „sola scriptura“ ist im reformatorischen Sinn nicht hinreichend verstanden als Reduktion der „Quellen“ allein auf die Heilige Schrift, also als Ausschluß zusätzlicher, ergänzender Überlieferungen neben der Heiligen Schrift. Das gilt selbstverständlich auch, ist aber in seiner Bedeutung erst eigentlich erfaßt, wenn die Particula exclusiva die hermeneutische Funktion der Tradition ausschließt, also die Suffizienz und Selbstverständlichkeit der Heiligen Schrift in hermeneutischer Hinsicht proklamiert. Als Satz formuliert meint dann das „sola scriptura“: Die Heilige Schrift ist die alleinige Quelle ihrer Auslegung.38

Interessant für unsere Zusammenhänge aber ist, dass Ebeling selbst offenkundig schon sehr früh deutlich war, dass das für sein Verständnis evangelischer Theologie so grundlegende Prinzip sola scriptura möglicherweise „has become obsolete“ – so jedenfalls behauptet es der einzige englische Satz des programmatischen Artikels über sola scriptura von 1963, der von Ebeling als protestantische Äußerung in einem ökumenischen Gespräch referiert und ziemlich harsch als „eine leichtfertige Kurzschlüssigkeit“ zensiert wird.39 Ich verzichte jedoch aus Zeitgründen, die Genese der Rede von der Krise des protestantischen Schriftprinzips im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert zu verfolgen oder in Texten unserer Gegenwart nachzuweisen40; selbst in der Schrift „Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017“, mit der der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland grundlegende Reflexionen in den Gemeinden über den Inhalt der Feiern zum Reformationsjubiläum anregen wollte, wird bei der Explikation der Formel sola scriptura leicht verzagt gefragt, „ob, wie und warum sola scriptura heute gelten kann“41. Ich wende mich vielmehr der römisch-katholischen Theologie zu und versuche meine Behauptung zu explizieren, dass hier das klassische reformatorische Schriftprinzip in den letzten Jahrzehnten eine neue Aufmerksamkeit gefunden hat.

Zu Beginn dieses Abschnittes habe ich pointiert von einer „zunehmenden Aneignung“ des Theologumenons sola scriptura durch römisch-katholische Theologen und in der ökumenischen Theologie gesprochen – auch hier kann ein evangelischer Patristiker nun freilich nur einige sehr grobe Linien eines Bildes zeichnen, das Fachleute ausführlicher anlegen würden und ja schon längst ausführlicher angelegt haben.42 Diese Annäherung innerhalb der römisch-katholischen Theologie ist bekanntlich eher jüngeren Datums,43 denn zunächst einmal hatten sich viele nachtridentinische Traditionen in einem bekannten Vorgang, der hier nicht ausführlich dargestellt werden muss, weiter von der evangelischen Theologie entfernt, weil sie im Sinne eines in Trient noch verworfenen partim-partim im Blick auf Schrift und Tradition von zwei Quellen der Offenbarung (statt einer einzigen in zwei Gestalten) redeten.44 Vor allem im zwanzigsten Jahrhundert aber veränderte sich, was über Schrift und Tradition sowie deren wechselseitiges Verhältnis gelehrt wurde: Zunächst einmal ist sicher der gewaltige Aufschwung der historisch-kritischen Bibelwissenschaft in der römisch-katholischen Theologie im zwanzigsten Jahrhundert zu nennen. Dann hat aber sicher auch die Wiederentdeckung der geistlichen Schriftauslegung der Kirchenväter zur Mitte des letzten Jahrhunderts durch französische Theologen wie Henri de Lubac und andere45 eine wesentliche Voraussetzung für die Aneignung reformatorischer Gedanken über die prinzipiale Bedeutung der Schrift für die Konstitution und Autorisierung theologischer Aussagen wie Urteile geschaffen, zumal zu gleicher Zeit die Prägung einzelner Reformatoren durch die Exegese der Kirchenväter deutlicher wahrgenommen wurde.46 Demgegenüber muss man den Befund des Zweiten Vatikanischen Konzils, wenn ich recht sehe, differenziert betrachten: Während das Konzil in der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum von 1965 noch die terminologischen Weichenstellungen des Trienter Konzils weitgehend wiederholte,47 bekannte es sich in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes aus demselben Jahr zur kritischen Funktion der einen Glaubensgrundlage in doppelter Gestalt für die Einschätzung von sämtlicher Verbal- und Realüberlieferung in der Lehre, dem Leben und der Liturgie der Kirche.48 Eine solche kritische Funktion lässt sich bei den reformatorischen Theologen des sechzehnten Jahrhunderts immer wieder beobachten, übrigens, wie wir gleich noch einmal sehen werden, nicht nur im Blick auf kirchliche Traditionen, sondern durchaus auch im Umgang mit einzelnen Phänomenen, die in biblischen Texten beobachtbar sind.49

Bemerkenswerterweise hat auf dem erwähnten Dresdner europäischen Theologenkongress des Jahres 1990 der in München lehrende Systematiker Gunther Wenz auf die Aneignung des reformatorischen Schriftprinzips in der römisch-katholischen Theologie aufmerksam gemacht und diesen Prozess vor allem anhand der ökumenischen Dialogdokumente beschrieben, aber eben auch die von mir kurz skizzierten Voraussetzungen ausführlicher dargestellt.50 Wenz expliziert das Plädoyer von Karl Rahner für ein katholisches sola scriptura-Prinzip, wonach die von der Tradition an der Schrift wahrzunehmende Aufgabe im Wesentlichen der Gewissheit von deren materialer Suffi zienz zu dienen habe.51 Obwohl Rahner für die Bedeutung der Tradition argumentiert, bestreitet er allerdings dezidiert, dass daraus die materielle Insuffizienz der Schrift im Vergleich zur Tradition zu folgern sei, und stimmt damit einem zentralen, von Ebeling rekonstruierten Bedeutungsinhalt der reformatorischen Formel sola scriptura zu. Insofern nimmt es auch nicht Wunder, wenn ein wichtiger Schüler von Karl Rahner, der emeritierte Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann, die von Ebeling geprägte Idee einer „Selbstdurchsetzung“ des Kanons der Heiligen Schrift zwar als „systematische bedingte Abstraktion“ bezeichnet, ihr jedoch ein gutes Stück Wahrheit bescheinigt.52

Ich belasse es bei diesen allzu knappen Problemanzeigen, um nun noch etwas ausführlicher meine eigene These zu explizieren, warum angesichts der oft beklagten Krise des reformatorischen Schriftprinzips in der evangelischen Theologie und Kirche wir – wenn ich das so abgekürzt formulieren darf – notwendig die römisch-katholische Theologie und Kirche brauchen, um auch in Zukunft noch angemessen von sola scriptura zu reden und damit bei der Sache zu bleiben.

3. Sola scriptura – der römisch-katholische Beitrag zur sachgemäßen Interpretation einer evangelischen Formel im einundzwanzigsten Jahrhundert

In diesem dritten und letzten Abschnitt wird es nun – wie gesagt – darum gehen, wieso es Einsichten aus der römisch-katholischen Theologie bedarf, um das sogenannte reformatorische Schriftprinzip vor Fehldeutungen und missbräuchlicher Verwendung zu bewahren und wieso man geradezu davon sprechen kann, dass die evangelische Theologie in der Gegenwart notwendigerweise die römisch-katholische Theologie und ihre Einsichten braucht, um das sogenannte reformatorische Schriftprinzip, das Kriterium sola scriptura, angemessen auszulegen und vor Fehldeutungen zu schützen.

Zwei Beobachtungen über theologische Diskussionen der Gegenwart haben mich dazu gebracht, diese These zu formulieren. Die erste Beobachtung hat der Münsteraner katholische Neutestamentler Thomas Söding in einer ebenso freundlichen wie kritischen Besprechung des erwähnten Grundlagentextes „Rechtfertigung und Freiheit“ expliziert, den der Rat der EKD erstmals im Jahre 2014 publiziert hatte.53 Söding schrieb in seiner Besprechung, dass in dieser Schrift das sola scriptura beschworen werde, „aber das Zeugnis der Schrift wird auf das Äußerste reduziert und rein affirmativ verwendet. Der Kontrast zwischen Luther und Paulus wird so wenig aufgearbeitet wie die Bedeutung des Alten Testaments und der Bergpredigt“.54 Obwohl sich die Kritik von Söding auf diese zwei knappen Sätze beschränkt, hat sie mich doch außerordentlich beschäftigt – nicht nur deswegen, weil ich die Gruppe leitete, die den Entwurf der genannten Schrift „Rechtfertigung und Freiheit“ erstellt hat, der dem Rat der EKD zur Nostrifizierung vorgelegt wurde. Denn im Grunde muss ja die Kritik, die Söding übt, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Bibellesen in der Gemeinde, über die Klaus-Peter Hertzsch 1990 in Dresden redete, noch einmal radikalisiert werden. Kaprizieren wir Evangelischen uns unter dem Stichwort sola scriptura nicht ausschließlich auf bestimmte Bücher der Heiligen Schrift, vor allem auf das Johannesevangelium und einige Briefe des Apostels Paulus? Vernachlässigen wir nicht in einer ganz irritierenden Weise die Deuteropaulinen, die Pastoralbriefe, den Jakobusbrief, ganze Teile des Alten Testamentes, ohne uns das im Alltag überhaupt bewusst zu machen? „Das Zeugnis der Schrift wird auf das Äußerste reduziert“, schreibt Söding und mir scheint, dass dieser Vorwurf nicht nur eine beliebige Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland oder den genannten Grundlagentext in Besonderheit trifft, sondern eine grundsätzliche Anfrage an eine Kirche formuliert, die sich in ganz prinzipieller Weise auf die Heilige Schrift beziehen möchte, aber einerseits gern mit atomisierten Versen – den berühmten fettgedruckten Kernstellen der Lutherbibel55 – lebt und arbeitet und andererseits eine ganze Reihe von biblischen Schriften einfach abblendet.

Mit dieser Abblendung hat meine zweite Beobachtung zu tun. Wenn man vom reformatorischen Schriftprinzip sola scriptura redet, dann muss man leider auch von einer wenig glücklichen und eher unseligen Tendenz bei Martin Luther und im deutschen Luthertum reden, den Inhalt der Bibel mit energischen theologischen Schritten zu verkürzen und einzelne biblische Schriften mehr oder weniger deutlich aus dem Kanon auszugliedern. Luther lieferte seine Bibelübersetzung mit Vorreden aus, in denen ein kanonischer Brief des Neuen Testamentes als „stroherne Epistel“ bezeichnet wird, und schlug 1542 sogar gesprächsweise vor, den Jakobusbrief zu verbrennen: „Ich will schier den Jeckel in den offen werffen wie der pfaff vom Kalenberg“.56 Ich finde diese Kritik am biblischen Text nicht – wie Jörg Baur auf dem nun mehrfach erwähnten Dresdner Theologenkongress – „erregend“57, ich finde sie auch nicht kühn, modern oder auf die Neuzeit vorweisend, sondern einfach nur ziemlich erschreckend und – um Kategorien lutherischer Theologie kritisch auf Martin Luther anzuwenden – nehme das als ein Zeichen dafür, dass bei der Schriftauslegung auch die Kategorie der Sünde, nämlich insbesondere die Sünde des Hochmuts der Theologen, bedacht sein will; dazu hat der emeritierte Jenaer Systematiker Michael Trowitzsch Bedenkenswertes geschrieben58. Denn wie will man noch erreichen, dass die Autorität der Schrift normbildende Funktion für theologische Aussagen hat, wenn man aufgrund eigener theologischer Einsichten den Umfang dieser Norm beschneidet?

Man zitiert gern zur theologischen Rechtfertigung dieser theologischen Kritik an Teilen der Schrift, die schon bei Luther zu deren Marginalisierung oder gar faktischen Sonderstellung in der Bibel führen (wir denken nur an die Nichtpaginierung des Jakobusbriefes in einzelnen Ausgaben der Bibelübersetzung Martin Luthers), gern zwei Bemerkungen Martin Luthers und geht inzwischen recht weit in dieser Sachkritik: Mit Berufung auf Luthers Diktum „was Christum treibet“ und unter Anführen einer weiteren Formulierung, dass man „Christus gegen die Schrift“ treiben müsse,59 wird in diesen Tagen von einem evangelischen Systematiker sogar hartnäckig gefordert, das ganze Alte Testament als eine Apokryphe zu behandeln. Mir geht es hier aber gar nicht um diesen Berliner Einzelfall. Er ist nur ein besonders krasses Symptom eines tieferen Problems, nämlich des Problems, sola scriptura faktisch zu lesen als sola parte scripturae, „allein die Schrift“ unter der Hand zu verkehren in „allein ein Teil der Schrift“, nämlich der Teil, der in der Lage ist, die reformatorische Theologie besonders gut argumentativ zu unterlegen; ich erwähnte schon die berühmten fettgedruckten Kernstellen, den Römerbrief, aber auch das Johannesevangelium.

Mir scheint schon die Berufung auf Luther in dieser Argumentation nicht unproblematisch: Vor kurzem ist noch einmal gezeigt worden, dass es Luther natürlich nicht darum ging, mit seiner Formulierung „was Christum treibet“, also: was Christus lehrt, ein Sachkriterium zur Beurteilung von Einzelaussagen oder Gesamtaussagen biblischer Bücher einzuführen, das deren Kanonizität oder Apokryphität zu entscheiden vermag. Clemens Hägele hat jüngst darauf verwiesen, dass es Luther in seinem Argument über den Jakobusbrief um die Apostolizität des Briefes zu tun ist, wir mithin – abgekürzt gesprochen – einen sehr frühen, sehr missglückten Versuch einer Behandlung des Problems der Pseudepigraphie vor uns haben.60 Weil die Apostel für den Reformator infallibiles doctores sind, kann er sich apostolische Bücher, in denen nicht von Christus so geredet wird, wie seiner Ansicht nach von ihm geredet werden muss, nicht vorstellen. Entsprechend ist das ebenso gern herangezogene Diktum aus der Disputation De Fide, wonach Luther „Christus gegen die Schrift“ treiben will,61 nicht eine Aufforderung zur Kritik an der vorfindlichen Bibel oder gar an ihrem Umfang, sondern eine Beschreibung dafür, wie man falsche Bibelauslegung identifizieren und bekämpfen kann. Ich kann auf diese Zusammenhänge hier nun nicht weiter eingehen, auch nicht die Anregung von Werner Löser aufgreifen, mit Hilfe der Kategorien der Apostolizität und der Vorstellung von der einen Kirche aus Judentum und Heidentum die unter dem protestantischen Schriftprinzip verborgen liegenden Einseitigkeiten zu vermeiden;62 dafür muss ich auf eine andere Gelegenheit verweisen.

Mir kommt es heute vor allem darauf an, eine ganz grundlegende Funktion römisch-katholischer Theologie und Kirche für eine sachgerechte Interpretation des reformatorischen Schriftprinzips zu benennen und noch kurz zu beschreiben: Wenn man sich nämlich noch einmal klarmacht, dass sola scriptura, „allein die Schrift“, nicht heißen kann: sola parte scripturae, „allein mit einem Teil der heiligen Schrift“, dann braucht die evangelische Kirche notwendig die katholische Kirche und ihre Theologie, um die ganze Schrift allein als Quelle und Norm der Theologie und Gestalt der Kirche festzuhalten. Die römisch-katholische Theologie und Kirche erinnert die evangelische Theologie und Kirche an biblische Bücher, die wir gern verdrängen, beiseiteschieben oder gar apokryphisieren: Bücher des Alten Testamentes wie das Buch Levitikus oder den Psalter, Bücher des Neuen Testamentes wie die Pastoralbriefe oder den Jakobusbrief. Wir verhandeln die unterschiedliche Präsenz biblischer Bücher normalerweise nur als Problem unterschiedlicher Umfänge des biblischen Kanons;63 aber es geht natürlich um Perikopenreihen der Gottesdienste, bei Amtshandlungen verlesene Texte, Lieblingsstellen für bestimmte Anlässe des Lebens, bevorzugte Schriftargumente in der systematisch-theologischen Diskussion und so fort: Es ist mir hier zu tun um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Schriftprägung der Konfessionskulturen, deren Erforschung erst am Anfang steht. Mit Statistik des Schriftgebrauchs allein ist es hier nicht getan!64

Natürlich kann ich hier die Forschungslücke nicht in einem Festvortrag schließen; alle Versuche hätten in dieser Situation notwendig anekdotischen oder gar autobiographischen Charakter.65 Aber die schlichte Erinnerung an die unterschiedliche Bedeutung der neutestamentlichen Pastoralbriefe im kirchlichen und privaten Leben eines römisch-katholischen und evangelischen Christenmenschen mag dazu reichen, das Gesagte zu belegen und mein Argument abzusichern: Die beiden abendländischen Konfessionen brauchen einander, um sich auf den Reichtum der ganzen Bibel aufmerksam zu machen, gemeinsam die Last fundamentalistischer Interpretation dieser Idee der ganzen Bibel zu teilen und zu bearbeiten und Einseitigkeiten im Bibelgebrauch der Schwesterkonfession freundlich, aber bestimmt zu markieren. Insofern braucht die evangelische Kirche und Theologie ihre katholische Schwesterkirche, die in der Weltchristenheit die Sachanliegen derjenigen biblischen Schriften betont, die der Tendenz nach in der evangelischen Tradition marginalisiert oder gar abgewertet werden. Wenn der Kanon einen auf seine Einheit hin geordneten Pluralismus (keine wirre Pluralität) normiert,66 dann sollte sich auch die ökumenische Theologie beider Konfessionskirchen an diesem Ordnungsmodell, das sich im Umgang mit den orthodoxen Kirchen bewährt hat, orientieren. Dann vereinzelt gerade das zentrale Sachanliegen Martin Luthers und aller Reformatoren, Kirche und Theologie neu allein auf die Schrift hin zu orientieren, evangelisches Christentum nicht, sondern verweist es an die katholische Schwesterkirche und ihre Theologie. Selbstkritisch den jeweils eingeschränkten Rekurs auf bestimmte biblische Traditionen wahrzunehmen und für gemeinsame Lektüre der Heiligen Schrift zu werben, könnte also die rechte Vorbereitung auf 2017 sein und zugleich eine angemessene Weise, dieses große Jubiläumsjahr zu feiern. Es könnte auch für die nächsten neunzig Jahre der Hochschule eine zukunftsweisende Form ökumenischen Miteinanders im Konzert anderer Einrichtungen und Gemeinschaften sein.