Auch nach mehr als 1000 Jahren steht im sorgfältig gefügten Fundament noch ein Stein auf dem anderen. Im Inneren des 11,25 × 6 m großen Gevierts liegen in schönem Durcheinander weitere Kalksteine: Reste des Gewölbes, das das langgestreckte Gebäude einst überspannte, vermutet die Archäologin Christine Reichert. Am westlichen Ende ist ein Raum abgeteilt; hier wurden Brandspuren entdeckt. Gemeinsam mit zwei weiteren Wissenschaftlern, Sabrina Bachmann und Harald Rosmanitz, hat Reichert von Mai bis September 2023 die Wüstung Seehausen bei Duttenbrunn / Markt Zellingen im Landkreis Main-Spessart untersucht. Und dabei, wie sie begeistert berichtet, die einzige bislang bekannte karolingerzeitliche Darre im deutschsprachigen Raum entdeckt.
Reichert ist, genauso wie Bachmann und Rosmanitz, für das Archäologische Spessart-Projekt (ASP) tätig. Der 1998 gegründete Verein mit Sitz in Aschaffenburg widmet sich einer von Main, Kinzig und Sinn eingerahmten Kulturlandschaft der Bundesländer Hessen und Bayern. Doch anders, als der Name vermuten lässt, geht es den insgesamt acht Mitarbeitern nicht allein darum, unter der Oberfläche verborgene Geschichte ans Licht zu holen, auch wenn zu ihrer Arbeit regelmäßig Ausgrabungen wie in Seehausen – mit einem weiteren karolingerzeitlichen Wirtschaftsgebäude, einem zeitgleichen Reihengräberfeld und einem um 1300 erbauten Brunnen – gehören. Die Zusammenarbeit mit den zuständigen Landesdenkmalämtern, mit Universitätsinstituten, Spezialisten und Nachbarwissenschaften wie Anthropologie, Geologie oder Genetik ist dabei eine Selbstverständlichkeit. »Der interdisziplinäre Ansatz ist ganz wichtig«, betont Reichert.
Das alte Ding kann weg? Die Zeiten, da Zeugnisse der Vergangenheit einfach beseitigt wurden, sind in Haibach lange vorbei. Heute, nach der Ausgrabung und der sorgfältigen Restaurierung der Grundmauern, ist die örtliche Ketzelburg ein viel besuchtes Denkmal.
K. Allihn
Die Tätigkeit des Archäologischen Spessart- Projekts geht weit über den Fachbegriff hinaus. »Archäologie bedeutet eigentlich Verstehen der Landschaft«, sagt Gerrit Himmelsbach vom ASP und ergänzt: »Es kommt also Geschichte, Geografie, Geologie, Biologie und vieles weitere hinzu. Wir wollen die Landschaft als Ganzes erklären, mit der Archäologie als Wurzel.« Dazu gehöre für seinen Verein unbedingt, erklärt der 56 Jahre alte Historiker mit Nachdruck, die Menschen vor Ort einzubeziehen, sie zu beteiligen und ihnen Verantwortung zu übertragen.
Grabungen mit Ehrenamtlichen
Dem vor Beginn der Grabung in der Wüstung Seehausen unter der Überschrift »Dabei sein!« veröffentlichten Aufruf »Einfach ehrenamtlich mithelfen! Mo–Fr zwischen 9 und 16.30 Uhr dazukommen. Handschuhe und feste Schuhe! Getränke und Essen frei« sind denn auch zahlreiche Bürger der Umgebung gefolgt. Der elfjährige Anton, der gerade ein Planum glättet, gehört ebenso dazu wie der betagte Pastoralreferent, der einen Mauerzug freilegt oder die gut gelaunte Seniorin, die sich selbst ein »Archäologie- Virus« bescheinigt und voller Elan an einer Profilzeichnung arbeitet. Alle sind sie unter professioneller Anleitung mit Feuereifer bei der Sache. Abertausende Ehrenamtsstunden seien im Rahmen des Archäologischen Spessart-Projekts im Laufe von mittlerweile einem Vierteljahrhundert geleistet worden, sagt Himmelsbach. »Das ist Citizen Science, da kann jeder mitgraben. Das ist genau das, was wir wollen: Über Archäologie Identität schaffen.«
Mittelalterliche Kampfeskunst: Zu den vielen Aktionen, mit denen der Verein Burglandschaft die Atmosphäre vergangener Zeitalter heraufbeschwört, gehören immer wieder auch Ritterspiele in historischer Gewandung.
Archäologisches Spessart-Projekt
Auch in Haibach im Landkreis Aschaffenburg ist das gelungen. Ein von Wall und Graben umgebener, von Gestrüpp überwachsener, in der lokalen Tradition als keltisch oder germanisch angesehener Hügel am Ortsrand wurde nach geophysikalischer Prospektion vom ASP gemeinsam mit dem örtlichen Heimat- und Geschichtsverein und weiteren Haibacher Bürgern ausgegraben. Zum Vorschein kamen Mauerzüge der Ketzelburg – eines mittelalterlichen Wohnturms des niederen Adels – sowie unter anderem eines Web und des Torhauses. »Ein wenig beachteter Erdwall hat sich in vergleichbar kurzer Zeit zu einer sichtbaren und mit allen Sinnen begreifbaren Gründungsurkunde Haibachs gemausert«, heißt es auf einem der Hinweisschilder am Fuß des Turmhügels. Als noch vor der Prospektion Bebauungspläne für dieses Areal bekannt geworden seien, erzählt Himmelsbach, habe es noch geheißen: »Das alte Ding kann weg! Heute sagen die Haibacher dagegen: Unsere Burg.«
Und noch etwas anderes steht unterhalb des Ringwalls der Ketzelburg, neben der Sandsteinskulptur »Geschwisterpaar« von Ingrid Hornef, die eine Legende rund um das Denkmal künstlerisch umsetzt: eine weitere Informationstafel mit auffallendem Logo. Ein gelbes Schiff, bekannt von bronzezeitlichen Felsritzungen aus Schweden, auf blauem Grund, umgeben von einem Kreis aus 12 gelben Sternen. Dieses Signum steht für das »Herzstück« der Vermittlungsarbeit des ASP, für die Einrichtung von Kulturwegen im Spessart und angrenzenden Gebieten. Und es erinnert an die Entstehungsgeschichte des Vereins bzw. dessen erstes EU-Projekt, an dem auch Schweden beteiligt war.
Südlich des Äppeläquators
123 solche zwischen 4 und 25 km lange, mit insgesamt mehr als 800 Schautafeln und speziellen Markierungen versehene Wege gibt es mittlerweile. Auf jeder Route wird die Landschaft unter historischen, geologischen, kulturellen und ökologischen Gesichtspunkten beleuchtet. Manche Wege eignen sich für Radfahrer, andere für Spaziergänger, wieder andere für trainierte Wanderer, und manche können auch von Menschen im Rollstuhl befahren werden. Bei der Erarbeitung eines Konzepts für einen neuen Kulturweg wird immer auch die örtliche Bevölkerung einbezogen. Jeder kann sein Wissen, seine Erinnerungen einbringen. Gepflegt und erhalten werden die Kulturwege durch die enge Partnerschaft des ASP mit regionalen und lokalen Wander- und Heimatvereinen.
Alles wie vor 500 Jahren: Unter Bergen von Müll haben Bürger von Haibach im Landkreis Aschaffenburg gemeinsam mit Fachleuten vom Spessart- Projekt eine original erhaltene Brunnenstube aus dem Jahr 1525 freigelegt und in den örtlichen Kulturweg integriert.
K. Allihn
Jeder dieser Pfade ist einer besonderen Thematik gewidmet. »Drei Schleifen im Sakko-Canyon« heißt es beispielsweise rund um den unterfränkischen Leidersbach- Grund im Landkreis Miltenberg. »Auf dem Totenweg durchs Paradais« geht es von Röllfeld nach Schmachtenberg im Landkreis Klingenberg. Und »Südlich des Äppeläquators« liegt ein Kulturweg, der in Schollbrunn, Landkreis Main-Spessart, an der Sprachgrenze vom main- zum rheinfränkischen Dialekt entlangführt. Mit solchen Titeln wird Himmelsbach zufolge stets versucht, das für den jeweiligen Landschaftsauschnitt Typische schlaglichtartig in Worte zu fassen.
An die Burg Wahlmich des 12. Jh. in Waldaschaff erinnerte lange nur noch ein überwucherter Hügel – bis Mitarbeiter des Archäologischen Spessart- Projekts gemeinsam mit dem örtlichen Heimatpflegeverein hier Hand anlegten und neben Mauerzügen 50 000 Einzelfunde zutage förderten, darunter eine vollständig erhaltene Fleischgabel mit tordiertem Griff.
Archäologisches Spessart-Projekt
Zwölf Monate bis drei Jahre dauere das Anlegen einer neuen Strecke, sagt der Historiker, der dieses »bundesweit einzigartige Netz an Europäischen Kulturwegen« als Projektleiter verantwortet und sich »schon immer für Kulturlandschaft interessiert « hat. Nach dem Ende seines Studiums in Würzburg und Straßburg begann er seine berufliche Laufbahn 1999 als erster Mitarbeiter des Archäologischen Spessart- Projekts, damals noch unter der Leitung des Gründers Gerhard Ermischer. Neben seiner Arbeit für den Verein ASP lehrt Himmelsbach auch an der Universität Würzburg und unterrichtet Archäologie als Profilfach am Gymnasium in Hösbach im Landkreis Aschaffenburg.
Brunnenstube von 1525
Der 2002 eröffnete Haibacher Kulturweg steht unter dem Motto: »Ritter, Fürst und Wellekipper«. Wellekipper, lernt der Wanderer en passant, war in alten Zeiten ein Spitzname für Haibacher, die im Wald Krüppelholz sammelten und zu großen Bündeln schnürten. Besonderes Interesse verdient die vierte der fünf Stationen, eine kurfürstliche Brunnenstube von 1525. Der Hinweis darauf, dass an dieser Stelle einmal ein von einem Becken gefasstes Gewässer zutage trat, kam von einem alten Haibacher, der sich daran erinnerte, in seinen Jugendtagen dort Apfelwein gekühlt zu haben.
Die Mitarbeiter des ASP gingen der Sache zusammen mit dem örtlichen Heimat und Geschichtsverein nach – und siehe da: Den Brunnen gab es noch immer. Allerdings lag er unter Tonnen von Unrat vergraben, da inzwischen hier eine Müllkippe entstanden war. Gemeinsam wurde aufgeräumt, und zum Vorschein kamen die 500 Jahre alten Überreste eines der bedeutendsten Technikdenkmäler der frühen Neuzeit, das die Region zu bieten hat: eine von insgesamt 18 Brunnenstuben einer Wasserleitung von der Quelle in Haibach bis zum Aschaffenburger Schlosshof. Das historische Auffangbecken, erzählt der Vorsitzende des Arbeitskreises Denkmalpflege im örtlichen Heimatverein, Albin Blatt, befinde sich (unterirdisch) noch immer dort. Die Brunnenstube, von der sogar ein originaler Deckstein erhalten ist, diente nicht nur der Reinigung des Wassers, sondern auch dem Druckausgleich. Denn schließlich, so Blatt, müssten bis zum Ziel 101 m Höhenunterschied überwunden werden.
Gut besuchter Kulturweg: »Auf dem Totenweg durchs Paradeis« geht es von Röllfeld nach Schmachtenberg. Die 12 km lange Strecke bei Klingenberg widmet sich dem örtlichen Obstbau und führt auch an der Paradeismühle vorbei.
Archäologisches Spessart-Projekt
Mit Ketzelburg und Brunnenstube besitzt der Haibacher Kulturweg – zu dem auch eine Station am ehemaligen Steinbruch Wendelberg (dessen Mineral, das Spessartin, der umgebenden Landschaft ihren Namen verliehen hat) und drei uralte Steinkreuze gehören – gleich zwei kulturgeschichtliche Höhepunkte. Nur eines fehlt noch: ein Bronzemodell, das eine Vorstellung der einstigen Burganlage vermittelt. Daran arbeitet derzeit Jürgen Jung, der beim ASP als Projektleiter für die computergestützte Erfassung der Kulturlandschaft Spessart zuständig ist. Bieten doch Geografische Informationssysteme (GIS) hervorragende Möglichkeiten, raumbezogene geografische Daten zu erfassen und weiterzuverarbeiten. Allerdings werden, so Jung, alle Daten mit einem Bezug auf Referenzpunkte im jeweiligen geografischen Raum definiert, und diese Markierungen sind in Hessen (in dem etwa ein Drittel des Spessart liegt) andere als in Bayern. Diese Unterschiede zu überwinden sei nur eine der Schwierigkeiten, die sich ihm stellten.
Rekonstruktion einer Kulturlandschaft
Das in Kooperation mit dem Forschungsinstitut Senckenberg vorangetriebene Projekt Spessart-GIS bietet vielfältige Anwendungsmöglichkeiten: Objekte oder Teile der Erdoberfläche können in beliebigem Maßstab abgebildet werden. Ohne Weiteres lässt sich die Verteilung der Landnutzung darstellen. Alle Ergebnisse können in Tabellen oder als Grafiken veranschaulicht werden. Auch naturwissenschaftliche Daten, etwa von Flora und Fauna, Geologie, Böden und Hydrologie, lassen sich ins Spessart-GIS integrieren. Ebenso werden Daten zur Archäologie und zur Kulturlandschaft Spessart eingegeben und verarbeitet. Auf diese Weise kann der Spessart als Kulturlandschaft analysiert bzw. können seine einzelnen Entwicklungsstadien rekonstruiert werden.
Ebenso, wie das ASP ein eigenes Netz hervorbringt, ein Netz an Kulturwegen, ist es selbst in ein umfangreiches Netzwerk weiterer Initiativen, Förderprogramme oder Vermittlungssysteme eingebunden. Eines davon ist das Europa-Projekt Pathways to Cultural Landscapes, das sich mit elf weiteren Partnern europaweit der Charakterisierung von Kulturlandschaften widmet. Sein Logo wird – wie dasjenige der Europäischen Kulturwege – von den europäischen Farben Blau und Gelb bestimmt: von 12 gelben Sternen auf blauem Grund. Hier allerdings umrahmen die Europa- Sterne kein bronzezeitliches Boot, sondern eine mehr landschaftsbezogene historische Felszeichnung: einen schematisch wiedergegebenen Menschen hinter einem von Ochsen gezogenen Hakenpflug.
Ein anderer »Faden« des Netzwerks, mit dem das Archäologische Spessart-Projekt verbunden ist, hat seinen Sitz im unterfränkischen Eschau: der 2017 gegründete Verein Burglandschaft mit seinem Bildungs- und Informationszentrum Burglandschaft und ASP-Mitarbeiter Jürgen Jung als Geschäftsführer. Auch hier ist der Name reine Untertreibung, befasst sich doch die Burglandschaft in Zusammenarbeit mit weiteren Instituten auch mit Schlössern, Ruinen, Wehrkirchen, Klöstern, Ringwällen und Stadtbefestigungen. »Ziel ist«, heißt es etwas amtlich in jedem Faltblatt, das der Verein zu mittlerweile 70 Objekten herausgegeben hat, »die gemeinschaftliche Inwertsetzung und Bewerbung historisch bedeutender Profan und Sakralbauten«. Zu dieser »Inwertsetzung« gehören Aktionstage für Kinder und Jugendliche, z. B. mit extra angefertigten zeitgenössischen Kostümen, ebenso wie die digitale Rekonstruktion von Burgen sowie die Herstellung von mittlerweile sechs Modellen von Burganlagen des Spessart. Das Bronzemodell der Haibacher Ketzelburg soll im Sommer 2024 in Sichtweite des Denkmals aufgestellt werden.
Bei so viel Geschichtsverbundenheit wundert es nicht, dass auch das Büro des ASP in Aschaffenburg historischen Tiefgang besitzt: Ist es doch im Geburtshaus von Ernst Ludwig Kirchner untergebracht, in jener Wohnung, in der dieser später so bedeutende Maler des Expressionismus bis zu seinem siebten Lebensjahr mit seiner Familie gelebt hat.